L’Anticapitaliste hat sich mit der in Frankreich lebenden palästinensischen Aktivistin L. S. getroffen, um über das Vorgehen der palästinensischen Seite zu sprechen. Mit ihr sprach Antoine Larrache.
Interview mit L. S.
L’Anticapitaliste: Hast du Informationen über die aktuelle Lage in Gaza und die Verfassung des palästinensischen Widerstands? |
L. S.: Abgesehen von dem, was man in den Medien hört, all den Informationen, die dort verbreitet werden, beunruhigt mich vor allem der psychische Zustand der Menschen, all die Zerstörungen, denen sie ausgesetzt sind. Man spricht von der Zahl der Toten, aber das sind nur Zahlen. Man spricht nicht über die menschlichen Geschichten, die dahinterstehen. Man spricht von den Kindern, aber man weiß nicht, wie viele es sind, und man kümmert sich nicht darum, was aus denen wird, die ihre ganze Familie verloren haben. Wenn Familien immer wieder von einem Ort zum anderen umgesiedelt werden, bedeutet das eine enorme Instabilität.
Hinzu kommt die ganze Zerstörung von Gaza und der Infrastruktur. Diese Art von Bildern kennen wir aus den früheren Kriegen nicht: Dieser Krieg wird nicht nur geführt, um die Bevölkerung auszulöschen, sondern auch, um das Gebiet dem Erdboden gleichzumachen. Diese Tatsache und die dahinterstehende politische Absicht beunruhigen mich am meisten.
New York, 11.05.2021 (Foto: Andrew Ratto) |
Der mentale und psychische Zustand der Opfer ist vielleicht sogar noch schlimmer als ihr physischer Zustand. Die humanitäre Krise, zerstörte Wohnhäuser, Flüchtlingslager, Massaker etc. kennen wir aus allen Kriegen und Vertreibungen. Aber das hier ist kein klassischer Krieg: Es ist ein Kolonialkrieg, und Israel führt ihn vor den Augen der ganzen Welt, des gesamten Westens und der arabischen Länder. Die Opfer sterben still und leise.
Sorgen macht mir auch die Zeit danach: Wenn die Massaker aufhören, wie werden die Menschen dann ihr Leben, ihre zerstreuten Familien, ihr Zuhause wiederfinden? Es geht nicht nur um den menschlichen, sondern auch um den gesellschaftlichen Aspekt. Israel nutzt diesen Krieg nicht nur, um das Gebiet von Gaza zu überrollen, dem Erdboden gleichzumachen und so viele Menschen wie möglich abzuschlachten, sondern auch um die palästinensische Gesellschaft zu zerstören.
Es gibt keine Arbeitsplätze mehr, die Schulen und auch die Krankenhäuser sind zerstört. Es wird kein normales Leben mehr geben. Alles wird wieder aufgebaut werden müssen. Es kann aber auch sein, dass Israel seine politischen Ziele umsetzt, also einmarschiert, die Bevölkerung vertreibt und Siedlungen baut.
Glaubst du, das Ziel von Israel besteht in dieser Zerstörung und in der schrittweisen Besiedlung des Gazastreifens? |
Ich denke, sie werden die Siedlungen erweitern. Vielleicht tun sie dies nicht gerade in den am dichtesten besiedelten Gebieten und haben vielmehr etwas anderes vor. Vielleicht besteht das Ziel Israels nicht mehr darin, eine sehr große Anzahl von Siedlungen zu errichten, weil das kostspielig ist, sondern das Land ungenutzt zu lassen und es in Pufferzonen zu verwandeln.
Hat die Bevölkerung in Gaza noch die Kraft, sich zu organisieren, um Widerstand zu leisten? |
Es gibt einen militärischen Widerstand, der über viele Jahre aufgebaut worden ist. Früher hatte er aber ein geringeres Ausmaß als heute. Dass es eine derart organisierte Operation wie die vom 7. Oktober gab, war sehr überraschend. Das zeigt, dass der militärische Widerstand heute tatsächlich stark organisiert und strukturiert ist und über mehr Mittel verfügt als in den vergangenen Jahren.
Neben dem militärischen Widerstand, der den Gazastreifen verteidigt, gibt es aber auch den Widerstand der Bevölkerung in den Städten: all die palästinensischen Gruppen und NGOs, die vor Ort gute Arbeit leisten – auch wenn einige NGOs, die zu Apparaten des Staates geworden sind, kritikwürdig sind. Insgesamt ist der zivile Widerstand sehr beeindruckend. Seit der Blockade organisieren diese Leute neben dem Widerstand auch das tägliche Leben der Menschen im Gazastreifen.
Kannst du ein paar Beispiele dafür nennen? |
Es gibt eine große Vielfalt an Vereinigungen, kleine und mittlere, die zum Beispiel mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, oder Gesundheitsverbände und Frauengruppen, darunter zum Beispiel ein Verband für Journalistinnen.
Außerdem sind Gewerkschaften aktiv, aber es handelt sich nicht um die offiziellen Gewerkschaften. Der Palästinensische Gewerkschaftsbund (Palestinian General Federation of Trade Unions, PGFTU) ist ein Staatsapparat. Seine Führung besteht aus Vertretern der politischen Organisationen innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die dazu bestimmt wurden, die Leitung der Gewerkschaften zu übernehmen. Und in den meisten Fällen sind es keine echten Gewerkschafter. Daneben gibt es noch eine andere, ebenfalls staatliche Gewerkschaft, die jenen Gewerkschaftsbund repräsentiert, der sich außerhalb Palästinas gebildet hatte, als die PLO im Libanon war. Man hatte dort eine Art Gewerkschaft gegründet, um mit den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon zu arbeiten. Mit der Rückkehr der PLO nach Palästina kehrte auch die Führung dieser Gewerkschaft zurück. Manchmal gibt es Konkurrenz zwischen diesen beiden Leitungen, aber sie sind auf der gleichen politischen Linie, das heißt auf der offiziellen Linie der PLO und der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Seit etwa 15 Jahren gibt es noch andere Gewerkschaften, die als unabhängige Gewerkschaften bezeichnet werden. Sie wurden von richtigen Gewerkschafter*innen innerhalb der offiziellen Gewerkschaften gegründet, konnten sich dann aber loslösen und echte Gewerkschaften aufbauen, die gemeinsam mit den Arbeiter*innen agieren.
In welchen Sektoren zum Beispiel? |
Im Bildungs- und Gesundheitsbereich und im Elektrizitätssektor. Die unabhängigen Gewerkschaften sind auch in anderen Sektoren aktiv, aber in diesen drei Bereichen sind sie am stärksten verankert. In Gaza sind es unabhängige Gewerkschaften, die die Arbeiter*innen organisieren und sich für ihre Bedürfnisse einsetzen. Es gibt auch in Israel palästinensische Arbeiter*innen, aber das ist etwas anderes.
In Gaza beträgt die Arbeitslosigkeit etwa 60 Prozent. Das ist extrem hoch. Sind diese Erwerbslosen auch von NGO-ähnlichen Strukturen abhängig? |
In Gaza gibt es keine Sozialhilfe, die mit der sozialen Mindestsicherung RSA in Frankreich vergleichbar wäre. Es gibt Hilfe seitens der Familie oder von Verbänden, aber die sind in den letzten Jahren enorm geschrumpft. Viele Menschen leben in Armut.
In Frankreich kommt alles, was die Medien verbreiten, sehr schematisch daher: Es wird vom Angriff der Hamas gesprochen, ohne zu erwähnen, dass es auch andere Organisationen gibt, und ohne zu erklären, was die Hamas überhaupt ist. Wenn Organisationen auf der Liste der Terrororganisationen stehen, dann müssen wir offenbar nicht mehr verstehen, warum sie handeln. Kannst du erklären, welche Debatten es in Gaza und allgemein in Palästina gibt? |
Alle Organisationen befinden sich unter dem Schirm der PLO, einschließlich der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP). Praktisch nur die Hamas und der Islamische Dschihad befinden sich außerhalb der PLO. Die PFLP ist gespalten, weil einige Aktivist*innen weiterhin in der PLO bleiben wollen, während andere den Austritt der PFLP fordern. Außerhalb, zum Beispiel in Syrien und im Libanon, hat die PFLP andere Rahmenbedingungen als in Palästina.
Die Palästinensische Autonomiebehörde regelt den administrativen Alltag der Palästinenser*innen und kontrolliert seit dem Oslo-Abkommen de facto auch das Leben der palästinensischen Organisationen. Die PLO ist sehr geschwächt. Die Fatah hat sich stark zurückgezogen, und einige Aktivist*innen sind auf Standby, weil sie nicht mit der offiziellen Position der Fatah einverstanden sind. In Dschenin und Nablus gibt es einen bewaffneten Widerstand, Fatah-Gruppen arbeiten dort mit der Hamas und dem Dschihad zusammen, was völlig im Widerspruch zur offiziellen Position der Fatah steht.
Auch die PFLP hat viele Aktivist*innen verloren: Leider sitzen viele von ihnen im Gefängnis. Andere haben sich zurückgezogen oder sind ganz ausgetreten, weil sie nicht mehr in diesem Rahmen arbeiten wollen oder weil die Position der Fatah unklar ist. Manche wollten sich wegen der Oslo-Verhandlungen nicht endgültig aus der PLO zurückziehen. Und einige PFLP-Kader arbeiten in der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Ähnliches gilt für die ehemalige Kommunistische Partei – heute die Palästinensische Volkspartei (PPP) –, die ihre Legitimität und damit viele Aktivist*innen verloren hat. Es gibt auch die Palästinensische Nationale Initiative, die von Mustafa Barghouti, Haidar Abdel Shafi und Ibrahim Dakkak gegründet wurde. Haidar Abdel Shafi, der Arzt in Gaza und Leiter des Roten Halbmonds war, gilt in der Bevölkerung als angesehene Persönlichkeit. Während der Verhandlungen in Madrid war er der Vorsitzende der palästinensischen Delegation. (Es gab keine offizielle palästinensische Delegation, weil Israel und die USA dies nicht akzeptierten, aber die palästinensische Gruppe konnte unter dem Schirm der jordanischen Delegation arbeiten.) Haidar Abdel Shafi war zusammen mit anderen Personen wie Fana Nahshari, der Sprecherin dieser Delegation, und dem hoch angesehenen Fatah-Kader Faisal Fosemi, einer Jerusalemer Persönlichkeit, eine der wichtigen Säulen dieser Delegation. Als er von Geheimverhandlungen erfuhr, trat er aus Protest zurück. Eine weitere Führungskraft der Kommunistischen Partei während der zweiten Intifada war Mustafa Barghouti, der eine Ende der 70er-Jahre gegründete medizinische NGO leitete. Doch es kam zu Meinungsverschiedenheiten: Barghouti wollte im Widerstand weitergehen als die Führung. Deshalb zog er sich zusammen mit Haidar Abdel Shafi zurück, unterstützt von Edward Said, dem bekannten palästinensischen Intellektuellen. Gemeinsam gründeten sie die Palästinensische Nationale Initiative als dritten Weg zwischen der Fatah und der Hamas. Diese Bewegung war zeitweise sehr erfolgreich, hat aber leider in den letzten Jahren ebenfalls viele ihrer Unterstützer*innen und Aktivist*innen verloren. Vor einigen Jahren ist die Gruppe offiziell der PLO beigetreten, aber sie bleibt dennoch vor Ort aktiv. Es ist eine kleine Bewegung.
Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006, der von der Fatah nicht akzeptierte wurde und Sanktionen der internationalen Gemeinschaft zur Folge hatte, übernahm die Hamas in Gaza wieder die Macht. Sie beging viele Fehler; nach Zusammenstößen zwischen Fatah- und Hamas-Aktivisten übernahm sie die Führung und zerschlug die anderen Strömungen.
Ich spreche hier von der politischen Führung, denn es gab noch keine bewaffnete Gruppe. Die politische Führung der Hamas hing von der Muslimbruderschaft, der Hilfe aus Katar und auch vom syrischen Regime ab. Die Hamas wurde also noch nicht als Teil der palästinensischen Nationalbewegung betrachtet. Hier sei auch daran erinnert, dass die Hamas bei ihrer Gründung 1988, während der ersten Intifada, in der Kontinuität der Bewegungen der Muslimbruderschaft stand, die in Palästina offiziell nicht existierte. Es gab nur Wohltätigkeitsorganisationen, die von den Muslimbrüdern abhängig waren. Außerdem lebte in Gaza damals einer ihrer Führer, Scheich Ahmed Jassin, der auch ihr Sprecher war: Ihre Hauptsorge bestand darin, herauszufinden, wie man die PLO ausschalten und ersetzen könnte, denn deren Führer stellten die einzigen legitimen Vertreter des palästinensischen Volkes dar, obwohl die PLO im besetzten Palästina offiziell verboten war.
In der Tat arbeiteten damals alle linken Parteien (Kommunistische Partei, PFLP, DFLP) und die Fatah zusammen: Sie waren als Teil der vereinigten Führung der Intifada vor Ort präsent. Die Hamas stand abseits, ihre Aktionen waren nie synchron mit der PLO-Strategie. Ihr Hauptanliegen bestand damals darin, eine islamistische Gesellschaft aufzubauen und die Rechte der Frauen anzugreifen: Sie versuchten, den Schleier im Gazastreifen durchzusetzen. An konservativen Orten wie zum Beispiel der Stadt Hebron oder auch im nördlichen Westjordanland gelang ihnen das auch. Damals setzten sich die Organisationen der palästinensischen Linken leider nicht für die Frauen ein. Sie wollten sich nicht mit der Hamas anlegen. In Gaza verhielt es sich damals so: Obwohl es sich noch um eine offene Gesellschaft handelte, legten feministische Aktivistinnen während der ersten Intifada aus Respekt den Schleier an, wenn sie zum Beispiel zu Beerdigungen palästinensischer Märtyrer gingen oder deren Familien kondolierten. Die Hamas wusste dies zu nutzen, um den palästinensischen Frauen den Schleier aufzuzwingen, und es gelang ihr, die Hegemonie in der Gesellschaft zu erlangen. Die palästinensische Linke nahm die Aufgabe, diesen feministischen Kampf zu führen, nicht wahr, mit der Begründung, dass es „nicht die Zeit dafür“ sei, wie es überall hieß. Der Islamische Dschihad war damals nicht präsent oder verhielt sich sehr diskret, jedenfalls versuchte er nie, die Macht zu übernehmen. Sein Hauptanliegen war der Widerstand gegen das zionistische Kolonialregime, was eine akzeptablere Position ist.
Zwischen 2005 und 2009 baute die Hamas ihre bewaffnete Gruppe auf, die Brigade Izz al-Din al-Qassam, benannt nach einem palästinensischen Führer, der während des britischen Mandats gegen die zionistischen Milizen im Palästina vor 1948 gekämpft hatte. Aber die Leute waren mit den Kampfmethoden der Hamas nicht einverstanden, also Raketen zu schießen, die keine Wirkung haben, außer dass sie im Gegenzug Bombardierungen durch Israel provozieren – auch wenn das in Wirklichkeit nicht stimmt, denn die Bombardierungen finden so oder so statt. Die Hamas-Führung strebte immer ihre eigenen Ziele an und nicht das Wohl der Allgemeinheit. Das ist in diesem „Krieg“ anders. Ich glaube, die militärische Führung hat die Entscheidung für den Angriff am 7. Oktober außerhalb der politischen Führung getroffen, die offenbar wie alle anderen überrascht war.
Fast die gesamte politische Führung der Hamas befindet sich seit einiger Zeit in Katar, was nicht verstanden wird. Die Leute sind wütend: Warum ist die politische Führung in Katar, anstatt den Kampf zu strukturieren? Ismail Haniyeh geht überall hin, er besucht alle Konferenzen, so wie Mahmud Abbas: Wo ist der Unterschied zwischen den beiden?
Ich denke, die militärische Führung hat zu Recht versucht, eine Veränderung des Kräfteverhältnisses herbeizuführen. Die politische Führung der Hamas ist der Ansprechpartner, um via Katar über die Freilassung der Geiseln und der palästinensischen Gefangenen zu verhandeln, aber die militärische Führung der Hamas befindet sich in Gaza, wobei niemand weiß, wo sie sich genau aufhält.
Was ist nun ihr Ziel? |
Ursprünglich wollten die Hamas-Kämpfer am 7. Oktober zu diesem Militärstützpunkt gehen und militärische Geiseln nehmen, um sie für die Befreiung palästinensischer Gefangener einzusetzen. Das war ihr Ziel. Da sie jedoch einen Durchgang öffneten, konnten viele Bewohner aus Gaza eindringen und richteten einen enormen Schaden an. Das ist nicht zu rechtfertigen, aber man muss den Kontext berücksichtigen: Wenn eingesperrte Menschen „sich befreien“, handeln sie unkontrolliert. Die militärische Führung wurde quasi von den Zivilisten überrannt: Sie kamen mit Fahrrädern, Tieren, Mopeds … Sie waren vom Wunsch getrieben, herauszukommen; und nun wird uns in den Medien erzählt, die Hamas habe Kehlen aufgeschlitzt und Frauen vergewaltigt, obwohl ich den Eindruck habe, dass das gar nicht ihr Ziel war.
Betrachtet die militärische Führung den aktuellen Krieg als eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten? Gilbert Achcar sagt, der militärische Widerstand könne ohne internationale Mobilisierung nicht gewinnen, aber umgekehrt kann man sicher auch sagen: Es braucht eine Zweckgemeinschaft, um zu gewinnen. |
Ich denke, der Widerstand wird weitergehen, Israel wird es nicht schaffen, ihn zu zerstören. Israel sagt in all seinen Kriegen, das Ziel bestehe darin, die Hamas auszulöschen: Tatsächlich bedeutet das, die Bevölkerung zu vernichten. Gleichzeitig ist das Ziel von Israel aber auch, die Hamas nicht zu zerschlagen, denn sie brauchen einen Feind.
Israel äußert sich nicht dazu, wer Gaza nach dem Krieg verwalten soll. Vermutlich wünschen sie sich eine sehr bürokratische Struktur als Führung. |
Ja, genau. Meiner Meinung nach wollen sie nicht Mahmud Abbas, der ist nicht mehr beliebt – selbst die Amerikaner wollen ihn nicht. Sie suchen jemanden aus seinem Umfeld, der ihn ersetzen und die Kontrolle über Gaza übernehmen kann. Anders verhält es sich bei der politischen Führung der Hamas. Sie kann nach einem Kompromiss suchen, aber die Führung des militärischen Widerstands wird nicht darauf eingehen, außer vielleicht, wenn es echte Gegenleistungen gibt: die Freilassung von ehemaligen politischen Organisationskadern, von kranken Gefangenen etc. Das ist ihr Hauptziel.
Die politische Führung ist völlig korrupt, aber die militärische Führung der Hamas hat verstanden, dass man auch die anderen Strömungen, sogar wenn sie sehr geschwächt sind, einbeziehen muss, um gewisse politische Erfolge zu sichern. Deshalb werden sie weiterhin Widerstand leisten, auch wenn es vielleicht irgendwo einen Kompromiss oder eine Waffenruhe gibt. Aber man kann nicht vorhersagen, was passieren wird, weil man die Hintergründe, die internationalen Einflüsse, die Position der arabischen Länder, die Ziele der politischen Führung der Hamas und auch jene der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht genau kennt.
Außerdem diskutieren wir gerade darüber, wer die Macht übernehmen wird, obwohl das von unten, von den Menschen, entschieden werden sollte. Es stimmt, dass es zurzeit schwierig ist, über Wahlen in den PLO-Gremien zu sprechen: dem Palästinensischen Nationalrat und dem Palästinensischen Legislativrat. Wir wünschen uns aber einen demokratischen Prozess. Dieser Krieg hat vieles verändert und wird noch vieles verändern. Wir werden sehen, wie es weitergeht.
Ist es übertrieben zu sagen, die Bevölkerung habe den 7. Oktober für den Versuch genutzt, wieder eine kämpferische Bewegung in Gang zu bringen? |
Ich denke nicht, dass diese Aussage übertrieben ist. Außerdem hängt es mit dem zusammen, was im Westjordanland passiert. Wir dürfen nicht vergessen, dass dies heute die zentrale Frage ist, wie auch die Zukunft Palästinas insgesamt. Ich denke, wir werden noch lange auf die Antwort warten.
Da das Westjordanland abgeriegelt ist, können wir uns nicht außerhalb der Städte und der Dörfer, in denen wir leben, bewegen. Auf lokaler Ebene wird gegen den aktuellen Völkermord demonstriert, zur Unterstützung des Widerstands und auch gegen die Siedler und die israelische Armee im Westjordanland. Das Koordinationskomitee der politischen und islamischen Kräfte ruft ebenfalls zu Demonstrationen auf, aber da kommen nicht viele Leute. Es gibt auch junge Leute, die über soziale Netzwerke zu Protesten aufrufen, ohne organisiert zu sein. Wenn etwas organisiert ist, gibt es normalerweise einen Rahmen, es kommen Persönlichkeiten, Vertreter, die sich an die Spitze stellen, und es gibt festgelegte Slogans. Aber hier gibt es keinen Rahmen: Die Leute kommen und verbreiten ihre eigenen Slogans; manchmal sind sie relevant und manchmal sind sie ehrlich gesagt überhaupt nicht politisch. Wenn man mit den Jugendlichen diskutiert und ihnen vorschlägt, sich zu organisieren, lehnen sie es ab, weil sie Angst vor Meinungsverschiedenheiten und Machtfragen haben. Das ist schade, denn gerade jetzt könnten wir über den bisherigen Rahmen hinausgehen.
Am Tag von Macrons Besuch, der für die Menschen wegen Frankreichs Haltung in dem Krieg eine Provokation bedeutete, gab es zum Beispiel Reaktionen in den sozialen Netzwerken. Um 16 Uhr wurde dort aufgerufen, sich auf dem zentralen Platz von Ramallah, dem Platz al-Manara, zu treffen. Jugendliche schrieben mithilfe von Google Translate französischsprachige Schilder gegen die Position Frankreichs: „Monsieur Macron, dégagez-vous“ (Hau ab!), aber auch Schilder für die Freilassung von Georges Ibrahim Abdallah [einem seit 38 Jahren in Frankreich einsitzenden libanesischen Kommunisten und damit europaweit am längsten inhaftierter politischer Häftling, AdR]. Es handelte sich vor allem um junge Leute, die in Frankreich studiert hatten.
Um 17 Uhr wurde von allen politischen Kräften und von betroffenen Familien zu einer weiteren Demonstration für die Freilassung der Gefangenen aufgerufen. Das alles ist sehr vielfältig. Wir müssen es schaffen, diese alternative Bewegung zu strukturieren. Werden der Gaza-Krieg und seine Folgen die Dinge in Bewegung bringen? Wird es uns gelingen, eine neue Dynamik zu schaffen, die die alte Generation in die zweite Reihe verweist? Auch wir Palästinenser*innen in der Diaspora haben die Aufgabe, uns zu strukturieren. Wir wollen in Frankreich keine politische Bewegung aufbauen, sondern arbeiten innerhalb von Organisationen.
Wenn man dort in der Region politisch vorankommt, dann hilft uns das auch hier, unsere Positionen weiterzuentwickeln und die Solidaritätsbewegung zu stärken.
Was kannst du zum Zustand der Organisationen der radikalen Linken sagen: Können die DFLP und die PFLP in dieser Situation eine positive Rolle spielen? |
Historisch gesehen sind die beiden Organisationen der radikalen Linken zuzuordnen, aber heute gehören sie nicht mehr dazu: Die PFLP von heute ist nicht mehr die der 70er-Jahre. Sie können zwar Erklärungen veröffentlichen, aber sie haben sich in die Institutionen integriert und sind vor Ort kaum präsent. Es gibt heute keine strukturierte Bewegung der radikalen Linken mehr: Es gibt nur noch einzelne Aktivist*innen. Es geht also darum, eine kämpferische Bewegung aufzubauen, die außerhalb jedes bereits bestehenden politischen Rahmens steht und breitere Positionen vertritt: das Ende der Kolonialherrschaft und die Forderung nach einem demokratischen und säkularen Staat. Unsere Organisation ist Teil der Strömung im Umfeld von Kampagnen wie One Democratic State und One Democratic Secular State.
aus: l’Anticapitaliste N°151 vom Dezember 2023 Übersetzung: A. W. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz