Dossier Gaza-Krieg

Die Vergänglichkeit des Mitgefühls

Auch wenn glücklicherweise nicht alle linken und demokratischen Kräfte in Israel von dieser Amnesie befallen sind, zeigt dieser Beitrag doch, wie vergänglich das Mitempfinden – zumindest der liberalen und linkszionistischen Strömungen – für die Opfer der Apartheid ist.

Orly Noy

Die Sympathie der israelischen Liberalen für die Palästinenser*innen beruhte auf der kolonialen Denkungsart, dass die Untertanen minderwertig sind und für ihre Unterstützung dankbar sein sollten. Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober und der von Israel daraufhin begonnene Krieg führten dazu, dass eine neue Begrifflichkeit in das hebräisch-israelische Vokabular Einzug gehalten hat: die „Desillusionierten“ – d. h. die Menschen, die jetzt „ernüchtert“ geworden sind. Diese Menschen beharren darauf, bis zum 7. Oktober humanistische Friedenssucher gewesen zu sein, für die der Hamas-Angriff jedoch alles verändert hat: In seinem Gefolge haben sie sich gehäutet und unterstützen nun leidenschaftlich den Völkermord, den Israel in Gaza verübt.

Mehr als fünf Monate lang haben sie sich gegenseitig für die Sünde ihrer vormals linken Unschuld gegeißelt. Nach einer angemessenen rituellen Absolution treten sie nun wieder in den Schoß des Stammes ein und werden im Namen des Volkes und der Nation mit Vergebung überschüttet. Die ohnehin schon ermüdend langen Schlangen dieser Desillusionierten werden immer größer. Viele der Neuzugänge kommen aus der Unterhaltungsindustrie und werden dem liberalen Lager zugerechnet. Jeder bekommt seine 15 Minuten medialer Aufmerksamkeit, um sein Credo gebetsmühlenartig abzuspulen: Ich habe an den Frieden geglaubt, ich war für Koexistenz, aber am 7. Oktober habe ich entdeckt, dass es auf der anderen Seite keine Menschen gibt, sondern nur menschliche Tiere, die bis zum bitteren Ende bekämpft werden müssen.

Die rituelle Reinigung wird ergänzt durch Liebesbekundungen und Anerkennung für „die israelischen Verteidigungskräfte, die moralischste Armee der Welt“, durch Dank und Glückwünsche für unsere heldenhaften Soldaten und durch ein paar Lippenbekenntnisse zur Notlage der Geiseln. Wie die altbekannte Schauspielerin Hanny Nahmias sagte: „[Wir] waren am meisten für Koexistenz“ – aber jetzt will sie einen Krieg „bis zum Ende“.


Die Opfer sind schuld


Wenn man diese frisch Desillusionierten genau betrachtet, scheint das Problem nicht in erster Linie im Wandel ihrer Positionen zu liegen, die inzwischen meist auf die totale Auslöschung der Palästinenser in Gaza abzielen. Der populäre Sänger Idan Raichel, der im Allgemeinen mit fortschrittlichen Ideen assoziiert wird und oft mit Musikern aus der äthiopischen Gemeinschaft zusammenarbeitet, ist beispielsweise verärgert darüber, dass die – vertriebenen, brutal behandelten, verdurstenden und verhungernden – Bewohner des Gazastreifens nicht in die Tunnel vordringen und die Hamas bekämpfen, um die Rückkehr aller Entführten zu erreichen, auch wenn sie das Tausende von Opfern kosten würde. Raichel folgert daraus, dass sie als Komplizen der Verbrechen der Hamas und somit als legitime Angriffsziele Israels zu gelten haben, da sie seinen Ratschlägen nicht nachkommen.

Tatsächlich scheint das Problem dieser Konvertiten eher darin zu liegen, wie sie ihr „Linkssein“ vor ihrer Desillusionierung verstanden haben. In einem Interview in der Sendung „Stronger Together“ des Komikers Shalom Assayag erklärte die Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Tzufit Grant, dass „meine linke Seite nicht mehr existiert; ich dachte, wir wären alle Menschen, aber – nein“.

Am 7. Oktober töteten die Angreifer nach ihren Worten „den humanitären Teil des Gehirns, das überwältigende Mitgefühl, [die Idee, dass] ‚wir alle Menschen sind‘“. Grant glaubt nicht mehr daran, dass wir alle Menschen sind. Und was jetzt? Sie beschreibt die mehr als zwei Millionen Palästinenser in Gaza mit einem widerwärtigen Vokabular, wenn man bedenkt, dass bis vor kurzem die Liebe zur Menschheit ihr Leitmotiv war.


Nackter Narzissmus


Grant ist nicht allein. Das vielleicht stärkste Gefühl, auf das sich viele der frisch Bekehrten immer wieder berufen, ist die Enttäuschung: Die Palästinenser haben sie „verloren“. Sie, die vormals Linken, die sich doch voll und ganz der Koexistenz verschrieben haben wollen und in jedem Menschen den Menschen sehen wollten, haben als „Belohnung“ den kriminellen Anschlag am 7. Oktober erhalten.

Kein Zweifel, der Angriff der Hamas auf die an den Gazastreifen angrenzenden Gemeinden war entsetzlich. Aber – Gott bewahre – der gute Wille der barmherzigen Hirten reichte nicht aus, um die Palästinenser zufrieden zu stellen, sollten sie doch für die Zuwendung ihrer Gönner dankbar sein und ihre Unterdrückung weiterhin schweigend ertragen. (Oh, diese Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“, als die Palästinenser*innen in Gaza dank des freundlichen Entgegenkommens Israels nach Israel einreisen und dort als Tagelöhner arbeiten und dafür dankbar sein durften.)

Diese Einstellung war bestenfalls purer Narzissmus und keine politische Position, die auf einer Analyse der Realität und ihrer pervertierten Machtverhältnisse beruhte. Immer wieder fällt der Hinweis, dass es sich bei vielen Bewoh­ner*innen der an den Gazastreifen angrenzenden Gemeinden, die am 7. Oktober überfallen wurden, um friedliebende Menschen handelte, darunter sogar Aktivist*innen, die sich regelmäßig freiwillig meldeten, um Kinder aus dem Gazastreifen vom Erez-Übergang in israelische Krankenhäuser zu fahren. Damit soll die Undankbarkeit der Palästinenser aufgezeigt und die Neuverortung der eigenen politischen Position gerechtfertigt werden.

Diese Haltung zeugt von einem unpolitischen Narzissmus, der alles der Sichtweise einiger wohlwollender Israelis unterordnet. Zweifellos ist der freiwillige Transport kranker Palästinenser aus dem Gazastreifen eine noble Geste, und die Freiwilligen sind Menschen, deren Handeln von Moral und Gewissen geleitet wird. Ein politischer Standpunkt jedoch berücksichtigt den Gesamtkontext, in dem diese freiwillige Tätigkeit stattfindet: nämlich Israels anhaltende Belagerung des Gazastreifens und die Zerstörung des Großteils seiner zivilen Infrastruktur.

      
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Ein politischer Mensch fragt danach, wie es dazu gekommen ist, dass die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza auf die Großzügigkeit der guten Israelis angewiesen ist und in Gaza selbst keine angemessene medizinische Versorgung erhalten kann. Er fragt, warum es in Gaza keine anständigen Krankenhäuser gibt und wer die Palästinenser mit welchem Recht daran hindert, solche zu bauen.


Wir sind alle ein Stamm


Ein Mensch mit dieser Einstellung würde auf die Folgen insistieren, welche die weitreichende Verweigerung der Bewegungsfreiheit für Millionen von Menschen hat, die nicht nur für die Einreise nach Israel, sondern auch für Reisen in die palästinensischen Gebiete im Westjordanland die Besatzer um Erlaubnis fragen müssen. Auch, wie ein Regime beschaffen sein muss, das seit Jahrzehnten jeden Atemzug von Millionen entrechteter Menschen kontrolliert, und, dass ein solches Regime unweigerlich zum Aufstand führen muss.

Und entgegen allen Versuchen, diese Realität gezielt für die öffentlichen Wahrnehmung aufzubereiten, ist ihr genaues Verständnis nicht gleichbedeutend mit der Unterstützung von Gewalt oder ihrer Rechtfertigung, sondern ganz im Gegenteil: eine leidenschaftslose Analyse dieser blutigen Realität, die es uns ermöglicht, ihr zu entkommen. Dass der Untertan höchstens die Anerkennung seines Menschseins durch den Herrn anstreben kann, eine Anerkennung, die ebenso leicht verweigert werden kann, wie sie gegeben wurde, wenn das Subjekt „enttäuscht“ hat, ist das Kennzeichen der kolonialen Situation. In dieser Situation glaubt sich der Herr dem Untertan so überlegen, dass dieser für jeden Moment dankbar sein sollte, in dem sich der Griff des Herrn um seine Kehle lockert, während jeder Widerstand gegen den ständig drohenden Würgegriff gleichbedeutend mit Undankbarkeit ist.

Es sind eben diese einstigen „Linken“, die neben ihrer Enttäuschung über die Palästinenser plötzlich auch die Freuden des Tribalismus für sich entdeckt haben – so wie Tzufit Grant es offensichtlich getan hat. Seit dem 7. Oktober, sagt sie, wolle sie den ganzen Tag durch die Straßen laufen und Israelis küssen: „Ich bin sehr israelisch, sehr jüdisch geworden“.

Bedauerlicherweise scheint dies im heutigen Israel zu bedeuten, dass man sich nicht nur vom „humanitären Teil“ des Gehirns trennt, sondern vom Gehirn selbst.

Orly Noy ist Vorsitzende von B’Tselem, dem Israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten.
Aus Middle East Eye vom 16. März
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz