Im Folgenden veröffentlichen wir eine Zusammenfassung des Berichts der UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten Francesca Albanese vom 25. März 2024.
Francesca Albanese
Der Bericht stellt fest, dass der Vorwurf des Völkermord im Kontext mit dem Siedlerkolonialismus steht: „Der Kontext, die Fakten und die Analyse, die in diesem Bericht präsentiert werden, führen zur Schlussfolgerung, dass es plausible Gründe für die Annahme gibt, dass die Schwelle zum Völkermord überschritten ist. Außerdem belegen sie, dass Israels Handlungen von einer völkermörderischen Logik angetrieben wurden, die integraler Bestandteil seines siedler-kolonialen Projekts in Palästina ist, was auf eine vorhersehbare Tragödie hindeutet. […] Siedlerkolonialismus ist ein dynamischer, struktureller Prozess und eine Kombination von Handlungen, die auf die Vertreibung und Eliminierung indigener Gruppen abzielen, wobei die völkermörderische Ausrottung/Annihilation den Höhepunkt darstellt. […] Die in den folgenden Abschnitten vorgelegten Beweise legen nahe, dass Israel mindestens drei der in der Konvention verbotenen Handlungen begangen hat.“
Gaza Stadt Schäden im Stadtviertel El-Remal, 10.10.2023 (Foto: Wafa) |
Dabei handelt es sich um:
Tötung von Mitgliedern der Gruppe: „Seit dem 7. Oktober hat Israel mehr als 30 000 Palästinenser im Gazastreifen getötet, was etwa 1,4 Prozent der Bevölkerung entspricht, und zwar durch tödliche Waffen und die absichtliche Auferlegung lebensbedrohlicher Lebensbedingungen. Bis Ende Februar wurden weitere 12 000 Palästinenser als vermisst gemeldet, die vermutlich tot unter den Trümmern liegen. In den ersten Monaten der Kampagne setzte die israelische Armee über 25 000 Tonnen Sprengstoff (das entspricht zwei Atombomben) auf unzählige Gebäude ein, von denen viele durch künstliche Intelligenz als Ziele identifiziert worden waren. […] Siebzig Prozent der registrierten Todesopfer waren Frauen und Kinder.“
Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei palästinensischen Zivilpersonen: „Die Überlebenden werden ein unauslöschliches Trauma davontragen, da sie so viel Tod, Zerstörung, Obdachlosigkeit, emotionale und materielle Verluste, endlose Demütigungen und Angst erlebt haben. Zu diesen Erfahrungen gehören die Flucht inmitten des Kriegschaos ohne Telekommunikation und Elektrizität; das Miterleben der systematischen Zerstörung ganzer Stadtteile, Häuser, Universitäten, religiöser und kultureller Sehenswürdigkeiten; das Durchwühlen der Trümmer, oft mit bloßen Händen, auf der Suche nach geliebten Menschen; das Miterleben der Schändung von Leichen; das Zusammengetriebenwerden, das Ausziehen, das Verbinden der Augen, die Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung; und schließlich das Aushungern von Erwachsenen und Kindern. […] Die Grausamkeit von Israels jüngstem Angriff wird am besten durch die Qualen veranschaulicht, die den Kindern aller Altersgruppen zugefügt wurden, die getötet oder aus den Trümmern gerettet wurden, verstümmelt, verwaist, viele ohne überlebende Familie. In Anbetracht der Bedeutung von Kindern für die künftige Entwicklung einer Gesellschaft kann die Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden an ihnen zweifellos als Mittel zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung der Gruppe interpretiert werden“
Die vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die physische Zerstörung der Palästinenser ganz oder teilweise herbeizuführen: „Sechzehn Jahre Blockade hatten den Gazastreifen bereits in eine isolierte, dicht besiedelte, ausgelaugte und fast ‚unbewohnbare‘ Enklave verwandelt, als der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober 2023 eine „vollständige Belagerung (…) ohne Strom, ohne Lebensmittel, ohne Wasser, ohne Treibstoff“ ankündigte. […] Die vorsätzliche Verweigerung lebenswichtiger Güter für eine bereits belagerte Bevölkerung werde zu Todesfällen führen, „die lautloser sind als die durch Bomben verursachten“. Die totale Belagerung und die nahezu ständigen Bombenteppiche haben zusammen mit den drakonischen Evakuierungsanordnungen und den ständig wechselnden „sicheren Zonen“ eine beispiellose humanitäre Katastrophe ausgelöst. Mehr als 1,7 Millionen Palästinenser wurden vertrieben und in überfüllte UNRWA-Unterkünfte und beengte Quartiere im südlichen Gazastreifen gezwungen, die systematisch von der israelischen Armee beschossen wurden, und später in Behelfsunterkünfte. […] Gaza wurde vollständig geplündert. Israels schonungslose Angriffe auf alle grundlegenden lebensnotwendigen Einrichtungen haben die Fähigkeit der Palästinenser in Gaza beeinträchtigt, auf diesem Land zu leben. Dieser künstlich herbeigeführte Zusammenbruch der lebenserhaltenden Infrastruktur entspricht der erklärten Absicht, den Gazastreifen auf Dauer unbewohnbar zu machen, in dem kein Mensch existieren kann.“
Der Bericht enthält einen Abschnitt über den Vorsatz zum Völkermord: „Die Art und das Ausmaß der Gräueltaten, wenn sie nachweislich zum Völkermord führen, sind ein starkes Indiz für den Vorsatz. Die Äußerungen staatlicher Stellen, einschließlich entmenschlichender Sprache, in Verbindung mit den Taten gelten als Indizien, aus denen auf den Vorsatz geschlossen werden kann. Die Entmenschlichung kann als grundlegend für den Prozess des Völkermordes verstanden werden. […] Hasserfüllte völkermörderische Rhetorik hat die gesamte Bevölkerung als Feind dargestellt, den es zu eliminieren und gewaltsam zu vertreiben gilt. […] Solche Aufrufe zu tödlicher Gewalt, die sich an die diensthabenden Truppen richten, sind ein starker Beweis für eine direkte und öffentliche Aufforderung zum Völkermord. Jahrzehntelange Diskurse zur Entmenschlichung der Palästinenser haben den Boden für solche Aufforderungen bereitet. […] Es gibt stichhaltige Beweise dafür, dass diese Äußerungen von den Truppen vor Ort verinnerlicht und umgesetzt wurden. […] Diese rassistische Rhetorik erinnert an die anderer Kolonialmächte und versucht, Israels völkermörderische Gewalt angesichts des angeblich ‚barbarischen‘ und ‚vormodernen‘ Charakters der Palästinenser als legitim zu bezeichnen.“
Der Bericht beschreibt auch die Art und Weise, wie Israel das Kriegsrecht missachtet, um seine völkermörderischen Absichten zu verschleiern: „Israel hat Konzepte des humanitären Völkerrechts (HVR) wie menschliche Schutzschilde, Kollateralschäden, Schutzzonen, Evakuierungen und medizinischen Schutz derart willkürlich (eingesetzt), dass diese Konzepte ihres normativen Inhalts beraubt wurden, wodurch ihr Schutzzweck untergraben und letztlich die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten bei israelischen Aktionen in Gaza ausgehöhlt wurde. […] Dies macht ein klares Verhaltensmuster deutlich, aus dem die erforderliche völkermörderische Absicht der einzige vernünftige Schluss ist, der gezogen werden kann.“
Der Bericht erklärt, wie Israel die Strategie der menschlichen Schutzschilde zur Rechtfertigung von Völkermord einsetzt: „Nach dem 7. Oktober hat diese Makro-Charakterisierung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens als eine Bevölkerung von menschlichen Schutzschilden ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. […] Zwei rhetorische Elemente dieses zentralen rechtspolitischen Dokuments deuten auf die Absicht hin, die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens und ihre Lebensinfrastrukturen in einen ‚legitimen‘, angreifbaren Schutzschild zu verwandeln: Der allumfassende Gebrauch des grammatikalisch bestimmten Artikels für die gesamte Bevölkerung von Gaza macht Zivilisten und zivile Objekte zu militärischen Zielen. Israel hat also versucht, seine völkermörderischen Absichten mit einem Jargon des humanitären Rechts zu tarnen. […] Israel hat den Gazastreifen in eine ‚Welt ohne Zivilisten‘ verwandelt, in der alles, von der Zuflucht in Krankenhäusern bis zur Flucht in Sicherheit, zu einer Form des menschlichen Schutzschildes erklärt wird“. […]
Der Gazastreifen als Ganzes wurde von Israel als militärisches Ziel definiert: „Die Konzentration von Angriffsmustern auf zivile Objekte und die wissentliche Tötung von Zivilisten in großer Zahl ist zu einer militärischen Strategie geworden, die auf wahrscheinlichen Kriegsverbrechen beruht, die jedoch als Einhaltung des humanitären Völkerrechts dargestellt werden. Diese Strategie lässt einzig und allein auf eine völkermörderische Politik schließen, und wahlloses Töten wird als Kollateralschaden gerechtfertigt. […] Die Darstellung wahlloser tödlicher Gewalt gegen die geschützte Gruppe als ‚verhältnismäßiges Mittel‘ zur Verfolgung der Kriegsziele deutet auf die Absicht hin, die palästinensische Bevölkerung als Ganzes ins Visier zu nehmen, was mit den völkermörderischen Erklärungen, die die Kampagne ankündigten, übereinstimmt.“
Die vorsätzliche Tötung von Zivilisten wird durch Israels Praxis deutlich, sichere Zonen in Tötungszonen zu verwandeln: „Bis zum 28. Oktober, zwei Wochen nach Israels Massenevakuierungsbefehl, ereigneten sich etwa 38 Prozent der Tötungen in Gaza in den als sicher erklärten Gebieten südlich des Wadi Gaza. Am 20. November wurden 34 Prozent aller in Gaza getöteten Palästinenser in diesem Gebiet getötet, und am 22. Januar waren es 42 Prozent, die sich in diesem Gebiet befanden, in dem zu diesem Zeitpunkt die Mehrheit der Bevölkerung von Gaza lebte. Einfach ausgedrückt, wurden ‚sichere Gebiete‘ absichtlich in Gebiete des Massenmordes umgewandelt. Ähnliche Muster ergeben sich aus Israels Militarisierung der ‚humanitären Korridore‘, die die Bevölkerung zu nutzen hatte, um die sicheren Gebiete zu erreichen und zu evakuieren. Im Gegensatz zu der humanitären Rhetorik, mit der diese ‚sicheren Routen‘ angekündigt wurden, wurden diese Korridore systematisch und auf perfide Weise durch Bombardierung, Granatenbeschuss und Scharfschützenfeuer zu ‚Todeskorridoren‘.“ […]
Israel hat das palästinensische Gesundheitssystem im Gaza-Streifen vorsätzlich angegriffen: „Dass die Absicht hinter Israels ‚humanitärer Tarnung‘ in diesem Fall nur als völkermörderisch bezeichnet werden kann, ist aus zwei Gründen eindeutig. Erstens wusste Israel von der großflächigen Zerstörung des Gesundheitssystems, da die Weltgesundheitsorganisation Mitte November berichtet hatte, dass sich im Gazastreifen eine ‚Katastrophe der öffentlichen Gesundheit‘ abzeichnete, da 26 von 35 Krankenhäusern aufgrund der israelischen Bombardierung und Belagerung nicht mehr funktionstüchtig waren. Zweitens wusste Israel, dass seine Militäroperation eine große Zahl von Verwundeten zur Folge hatte. Physische Traumata sind die Hauptursache für die hohe Sterblichkeit in Gaza. Es war vorhersehbar, dass die gewaltsame Verhinderung der Behandlungen im größten Krankenhaus des Gazastreifens die Überlebenschancen der Verletzten, der chronisch Kranken und der Neugeborenen in den Brutkästen ernsthaft beeinträchtigen würde. Indem Israel das Al Shifa-Krankenhaus angriff, verurteilte es wissentlich Tausende von Kranken und Vertriebenen zu vermeidbarem Leid und Tod. […] Das Beharren auf der Strategie, Krankenhäuser als medizinische Schutzschilde zu behandeln und ihre Funktion als unverzichtbare Zentren des gesellschaftlichen Überlebens für Tausende von Verletzten und viele weitere Schutzsuchende zu missachten, enthüllt einen weiteren Aspekt der völkermörderischen Logik, die Israels Militärstrategie zugrunde liegt.“
Der Bericht kommt zu den folgenden Schlussfolgerungen: „Die überwältigende Art und das Ausmaß des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen, die er verursacht hat, offenbaren die Absicht, die Palästinenser als Gruppe physisch zu vernichten. […] Völkermörderische Handlungen wurden gebilligt und in die Tat umgesetzt, nachdem hochrangige Militär- und Regierungsbeamte ihre völkermörderische Absicht erklärt hatten. […] Unter Missachtung der Gewohnheitsrechtsregeln des humanitären Völkerrechts, einschließlich der Unterscheidung zwischen Kämpfern und Zivilisten, der Verhältnismäßigkeit und der Vorsichtsmaßnahmen, hat Israel de facto eine ganze geschützte Gruppe und ihre lebenserhaltende Infrastruktur als ‚terroristisch‘ oder ‚terroristenunterstützend‘ behandelt und damit alles und jeden entweder in ein Ziel, das getötet oder zerstört werden kann, oder in einen Kollateralschaden verwandelt. […] Israels Völkermord an den Palästinensern in Gaza ist eine Eskalationsstufe eines langjährigen kolonialen Auslöschungsprozesses der Siedler. Seit über sieben Jahrzehnten richtet dieser Prozess das palästinensische Volk als Gruppe zugrunde - demografisch, kulturell, wirtschaftlich und politisch – mit dem Ziel, es zu vertreiben und sein Land und seine Ressourcen zu enteignen und zu kontrollieren. Die andauernde Nakba muss ein für alle Mal gestoppt und wiedergutgemacht werden. Dies ist ein Gebot, das den Opfern dieser unbedingt vermeidbaren Tragödie und den künftigen Generationen in diesem Land geschuldet ist.“
Die Auszüge entstammen dem Rundbrief Nr. 298 des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. (BIP) |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz