Es gehört zur grausamen Ironie der Geschichte, dass diejenigen, die im Namen der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords zu sprechen behaupten, die Täter der schrecklichsten Vernichtungskampagne in der Geschichte des modernen Siedlerkolonialismus sind. Ihr Vorgehen ist eine Quelle der Inspiration für die extreme Rechte in der heutigen Welt. Sie haben den Völkermord wieder banal gemacht.
Gilbert Achcar
Der russische Bombenanschlag auf ein Kinderkrankenhaus in der ukrainischen Hauptstadt Kiew in der vergangenen Woche, bei dem Dutzende Menschen [1] ums Leben kamen, hat in den westlichen Hauptstädten verständlicherweise eine massive Welle der Empörung ausgelöst, zumal er am Vorabend des NATO-Gipfels in Washington stattfand. Die meisten westlichen Staats- und Regierungschefs verurteilten die Tat auf das Schärfste, allen voran US-Präsident Joe Biden, der sie als „schrecklichen Beweis für Russlands Brutalität“ bezeichnete, und der neue britische Premierminister Keir Starmer, der sie als „die abscheulichste aller Taten“ bezeichnete. Da diese beiden zu den prominentesten und enthusiastischsten Unterstützern Israels gehören und bekanntlich die schrecklichsten Gräueltaten der zionistischen Armee gerechtfertigt haben, denen eine große Zahl von Kindern zum Opfer gefallen ist, muss jedem, der humanitäre Erwägungen über geopolitische Opportunität stellt, klar sein, dass dies ein erstaunliches Maß an Heuchelei darstellt, bei der mit zweierlei Maß gemessen wird.
Gaza 2023 Foto: Tasnim News Agency |
Seit Beginn der zionistischen Invasion in den Gazastreifen schlagen nämlich humanitäre Organisationen Alarm, was die Lage der Kinder dort angeht. Am 30. Oktober 2023 veröffentlichte die in Genf ansässige Menschenrechtsorganisation „Euro-Mediterranean Human Rights Monitor“ ein Kommuniqué mit dem Titel „Die Zahl der in weniger als einem Monat getöteten Kinder im Gazastreifen ist zehnmal höher als die der ukrainischen Kinder, die im gesamten ersten Jahr des laufenden russischen Krieges getötet wurden“. In der Erklärung heißt es: „Im Laufe von 24 Tagen wurden durch israelische Luftangriffe und Artilleriebeschuss im Gazastreifen nachweislich 3457 Kinder getötet, und über 1000 weitere werden unter den Trümmern vermisst. Nach Angaben der Vereinten Nationen ist diese Zahl mehr als zehnmal so hoch wie die Zahl der Kinder, die im ersten Jahr des russischen Krieges gegen die Ukraine getötet wurden.“
Nach den neuesten Zahlen des UN-Kinderhilfswerks UNICEF hat die Zahl der im Gazastreifen getöteten Kinder inzwischen 14 000 überschritten. Hinzu kommt die Zahl der Vermissten, Verwundeten, dauerhaft Behinderten und Waisen, die ein Vielfaches beträgt. Die Zahl der betroffenen Kinder in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 beläuft sich nach derselben UN-Quelle auf über 600 Tote und 1350 Verletzte. Die Zahl der Kinder, die in den neun Monaten der israelischen Invasion des Gazastreifens getötet wurden, ist also 23-mal höher als die Zahl der Kinder, die in den dreißig Monaten der russischen Invasion in der Ukraine getötet wurden. Die „Brutalität Russlands“, wie Biden sie nannte, erscheint im Vergleich zur Brutalität des zionistischen Staates, die er unterstützt, also eher moderat.
InfoVor allem Jüdinnen und Juden in den USA sind solidarisch mit den PalästinanenserInnen. Siehe etwa den Artikel Als Juden wissen wir, dass es sich nicht um einen Krieg handelt. Es ist ein Völkermord. Von Sasha Friedman, Sig Giordano und Ari Bee Dies schrieben sie bereits im November! Der Beitrag ist lesenswert und findet sich hier (https://kurzlinks.de/8544). |
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Medien oder eine humanitäre Organisation auf die Gräuel hinweisen, die die Zionisten den Palästinenser:innen zufügen, und zwar nicht nur im Gazastreifen, wo die Intensität des Tötens und der Zerstörung alles übertrifft, was es in der jüngeren Geschichte gegeben hat, sondern auch im Westjordanland und in den israelischen Gefängnissen. Palästinensische Gefangene sind weitaus schlimmeren Praktiken ausgesetzt als unter der US-Besatzungsarmee im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib, das 2004 weltweit für Empörung sorgte.
Erst kürzlich lieferte die zionistische Armee ein eklatantes Beispiel für ihre Brutalität beim Angriff auf den Hamas-Militärführer Mohammed Deif in Al-Mawasi, das die israelische Führung zuvor als sichere Zone für die Bevölkerung des Gazastreifens ausgewiesen hatte. Der Angriff forderte das Leben von mehr als neunzig Palästinenser:innen. Der Ablauf dieses Massakers zeigt deutlich, dass die zionistischen Streitkräfte absichtlich die größtmögliche Anzahl von Menschen töteten, ohne zwischen angeblichen Kämpfern und Zivilisten, einschließlich Kindern, zu unterscheiden. Denn die zionistische Armee feuerte eine erste Rakete auf das Gebäude ab, in dem sie Deif vermutete, dann eine zweite auf dasselbe Gebäude, um es vollständig zu zerstören, dann eine dritte in der Nähe des Gebäudes, die auf diejenigen abzielte, die versuchten, die Überlebenden aus den Trümmern zu retten, und dann weitere bunkerbrechende Raketen, um etwaige Tunnel unter dem Zielgebiet zu zerstören.
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Dieser unbedingte Vorsatz zum Töten, ungeachtet des Schicksals von Zivilisten – Kindern, älteren Menschen, Frauen und Männern –, hat dazu geführt, dass das Verhältnis von Zivilisten zu Kombattanten in Israels Krieg gegen die so genannten „Terroristen“ in Gaza das Verhältnis in anderen Kriegen, die seit Beginn dieses Jahrhunderts auf verschiedenen Schauplätzen unter dem Siegel des „Kriegs gegen den Terror“ geführt wurden, weit übersteigt. Dies wiederum bringt uns zu einem für das zionistische Denken charakteristischen ideologischen Merkmal, das inzwischen seinen Höhepunkt erreicht hat, nachdem die israelische Gesellschaft jahrzehntelang nach rechts gedriftet ist und aktuell von einer Regierung geführt wird, in der sich Neofaschisten und Neonazis versammeln.
Dieses Merkmal teilt der Zionismus mit allen Formen des Siedlerkolonialismus, die darauf abzielen, sich ein Land anzueignen und damit die Rechte der einheimischen Bevölkerung, einschließlich ihres Rechts auf Leben, zu ignorieren. Die moralische Rechtfertigung für dieses höchst unmoralische Projekt verschafft man sich dadurch, dass man den Menschen, deren Land man begehrt, ihre Menschlichkeit abspricht und sie zu untermenschlichen Wesen degradiert, die es nicht verdienen zu leben. Diese Logik ging schon einmal nach hinten los, als die Nazis im letzten Jahrhundert inmitten von Europa bestimmte Kategorien von Europäern als Untermenschen einstuften und sie schließlich ausrotteten.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Logik des Siedlerkolonialismus wieder in die europäischen Kernländer zurückkehrt nach seinem Rückgang im Gefolge der Niederlage der Nazis und ihres Völkermords, den sie im letzten Jahrhundert begangen hatten, vor allem da die extreme Rechte im gesamten Globalen Norden – im Osten wie im Westen – wieder auf dem Vormarsch ist. Es gehört zur grausamen Ironie der Geschichte, dass diejenigen, die im Namen der Opfer des nationalsozialistischen Völkermords zu sprechen behaupten, die Täter der schrecklichsten Vernichtungskampagne in der Geschichte des heutigen Siedlerkolonialismus sind. Ihr Vorgehen ist eine Quelle der Inspiration für die extreme Rechte in der heutigen Welt. Sie haben den Völkermord wieder banal gemacht, unter der Komplizenschaft der „Liberalen“, die angesichts des anhaltenden völkermörderischen Krieges in Gaza die grundlegendsten menschlichen Werte aufgegeben haben, oft unter dem Vorwand des Mitgefühls für die Opfer des Nazi-Völkermords.
aus: Gilbert Achcars Blog vom 16.7.2024
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz