Dossier Palästina/Israel

Recht haben und Recht bekommen …

Nachdem der Internationale Gerichtshof der UN (IGH) im Mai bereits die israelische Militäroffensive de facto als Völkermord verurteilt hat, erklärt er nunmehr die Besatzung und den Siedlungsbau in Westjordanland als illegale faktische Apartheid-Politik. Doch weder Israel noch seine Verbündeten scheren sich drum.

Katherine Hearst und Imran Mullah

Das oberste UN-Gericht sagt, dass Israels jahrzehntelange Besatzung der palästinensischen Gebiete „so schnell wie möglich“ beendet werden sollte. In seinem Gutachten vom Freitag stellt es fest, dass diese Besatzung „rechtswidrig“ ist und dass die „fast vollständige Segregation“ der Menschen im besetzten Westjordanland gegen internationales Recht bezüglich „Rassentrennung“ und „Apartheid“ verstößt.

 

Gaza 2023

Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages

Der Präsident des IGH, Nawaf Salem, erklärte bei der Verkündung des Urteils, dass Israel den Palästinensern Wiedergutmachung für die durch die Besatzung verursachten Schäden leisten muss. Er fügte hinzu, dass der UN-Sicherheitsrat, die Generalversammlung und alle Staaten die Pflicht haben, die israelische Besatzung als unrechtmäßig anzuerkennen.

„Der anhaltende Missbrauch [durch] Israel in seiner Position als Besatzungsmacht durch die Annexion und die Aufrechterhaltung einer permanenten Kontrolle über das besetzte palästinensische Gebiet und die fortgesetzte Vereitelung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung verstoßen gegen grundlegende Prinzipien des Völkerrechts und machen Israels Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig“, sagte Salem und verlas die Erkenntnisse der 15-köpfigen Jury.

Er fügte hinzu, dass die Politik und die Praktiken Israels im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem der Annexion großer Teile dieser Gebiete gleichkämen und dass das Gericht feststelle, dass Israel die Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten systematisch diskriminiere.

„Eine Reihe von Teilnehmern hat argumentiert, dass Israels Politik und Praktiken in den besetzten palästinensischen Gebieten auf Segregation oder Apartheid hinauslaufen, was einen Verstoß gegen Artikel 3 des CERD [Ausschuss gegen Rassendiskriminierung] darstellt“, sagte er.

„Artikel 3 des CERD lautet wie folgt: ‚Die Vertragsstaaten verurteilen insbesondere die Rassentrennung und die Apartheid und verpflichten sich, alle Praktiken dieser Art in den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern, zu verbieten und zu beseitigen’. Diese Bestimmung bezieht sich auf zwei besonders schwerwiegende Formen der Rassendiskriminierung: Rassentrennung und Apartheid“, sagte er.

„Das Gericht stellt fest, dass Israels Gesetzgebung und Maßnahmen dazu dienen, im Westjordanland und in Ostjerusalem eine nahezu vollständige Trennung zwischen den Siedler- und den palästinensischen Gemeinschaften aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund ist das Gericht der Ansicht, dass die israelische Gesetzgebung und die Maßnahmen einen Verstoß gegen Artikel 3 des CERD darstellen“, fügte er hinzu.

Die Entscheidung vom Freitag folgt einem Ersuchen der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom Dezember 2022 an das Gericht, sich zur Politik und zu den Praktiken Israels gegenüber den Palästinensern sowie zum rechtlichen Status der seit 57 Jahren andauernden Besetzung palästinensischen Landes zu äußern.

Unter anderem erklärte er, dass der „Zuzug von Siedlern“ in die besetzten Gebiete gegen die Genfer Konvention verstoße, und fügte hinzu, dass die israelische Okkupation natürlicher Ressourcen „mit dem Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung über die natürlichen Ressourcen unvereinbar“ sei.

Das Gutachten hat keine bindende Wirkung, ist aber von großer rechtlicher und moralischer Bedeutung und könnte den Druck auf Israel wegen seines Angriffs auf den Gaza­streifen erhöhen.

Salam sagte in Bezug auf die Einwände, die gegen die Aufforderung an das Gericht erhoben wurden, ein Urteil abzugeben, dass es „keine zwingenden Gründe für eine Ablehnung“ gebe. Er fügte hinzu, dass das Westjordanland, Ostjerusalem und der Gazastreifen nach internationalem Recht als eine Einheit betrachtet werden, und wies die von Israel vorgebrachten Argumente zurück, dass der Gaza­streifen aufgrund des Abzugs der Siedler im Jahr 2005 nicht mehr besetzt sei.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu verurteilte die Entscheidung des Gerichts als „falsch“ und fügte hinzu, dass das jüdische Volk „sein eigenes Land nicht besetzt hält“. Das israelische Außenministerium wies das Urteil als „grundlegend falsch“ und „realitätsfremd“ zurück. Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, verurteilte das Gericht als „antisemitisch“ und forderte erneut die Annexion des Westjordanlandes.

      
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Dossier Palästina/Israel, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
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Der Sprecher des britischen Außenministeriums für Commonwealth und Entwicklung erklärte gegenüber Middle East Eye, dass Außenminister David Lammy, der kürzlich Israel und die besetzten Gebiete besuchte, klargestellt habe, „dass das Vereinigte Königreich die Ausweitung illegaler Siedlungen und die zunehmende Siedlergewalt entschieden ablehnt“. „Diese Regierung setzt sich für eine verhandelte Zweistaatenlösung ein, die ein sicheres und geschütztes Israel neben einem lebensfähigen und souveränen palästinensischen Staat ermöglicht“, so der Sprecher weiter.

Ayoub Khan, unabhängiger Abgeordneter für Birmingham Perry Barr, sagte gegenüber MEE, die britische Regierung solle die Ergebnisse des IGH respektieren und „Druck in Form von Sanktionen ausüben, wenn Israel sich nicht an die internationale Rechtsstaatlichkeit hält“. Der unabhängige Abgeordnete für Blackburn, Adnan Hussain, sagte, das Gutachten des IGH sei ein „historischer Moment für die internationale Justiz und bestätigt, was die Palästinenser, die Rechtswissenschaftler und die Menschenrechtsgemeinschaft die ganze Zeit gesagt haben“. Er forderte die Regierungen in aller Welt, einschließlich Großbritanniens, auf, sich vom „Handel mit besetzten Gebieten, die nach internationalem Recht als illegal gelten“, zu verabschieden.

Im Februar hörte das Gericht Eingaben von 52 Ländern und drei internationalen Organisationen an, mehr als bei jedem anderen Fall seit der Gründung des IGH im Jahr 1945. Die überwiegende Mehrheit von ihnen vertrat die Auffassung, dass die Besetzung illegal ist, und forderte das Gericht auf, sie als solche zu erklären. Diese Entwicklung fällt mit einer separaten Klage Südafrikas vor dem IGH zusammen, in der Israel beschuldigt wird, in der Enklave einen Völkermord zu begehen.

Im Januar wies der IGH Israel an, völkermörderische Handlungen gegen die Palästinenser im Gazastreifen zu verhindern, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und Beweise für Verstöße zu sichern. Humanitäre Organisationen haben jedoch wiederholt die israelischen Beschränkungen für Hilfslieferungen kritisiert, da in dem Gebiet eine Hungersnot droht.

Seit dem Krieg von 1967 hält Israel das nach internationalem Recht anerkannte palästinensische Gebiet besetzt. Ostjerusalem, das Westjordanland und der Gazastreifen fallen alle unter diese Kategorie. Die unterschiedlichen Rechtssysteme, der Bau von Siedlungen und die Gewalt gegen palästinensische Einwohner sind allesamt wichtige Faktoren, die bei den Anhörungen berücksichtigt werden.

Dies ist das zweite Gutachten des Weltgerichtshofs seit 2004, als er ein bahnbrechendes Urteil über die Rechtmäßigkeit des israelischen Mauerbaus im besetzten Palästina abgab. Das Gericht entschied, dass die Mauer, die von Palästinensern und Menschenrechtsgruppen oft als „Apartheidmauer“ bezeichnet wird, illegal ist und abgerissen werden sollte.

aus Middle East Eye vom 19. Juli 2024
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz