Dossier Palästina/Israel

Tribut der Rachsucht

Lebt durch den Völkermord in Gaza auch nur ein einziger Mensch in Israel sicherer? Und sind wir sicherer, während wir auf die iranische Reaktion auf Hanijas Ermordung warten?

Orly Noy

Wir stehen nun vor dem apokalyptischen regionalen Krieg, auf den Benjamin Netanjahu wild entschlossen zusteuerte. Jeder von uns malt sich mit Grausen aus, wie die Reaktion auf die jüngsten Attentate aussehen wird – die unsere Führer als „brillante Leistung“ von Israels ausgeklügelter Kriegsmaschinerie feiern – und fragt sich, ob unsere Kinder das überleben werden. Wir denken jetzt über das Schicksal der Geiseln nach und haben Angst auszusprechen, dass das eintreffen könnte, was wir im Grunde schon wissen.

Ismail Hanija

2022, Foto: Council.gov.ru (Ausschnitt)

 

Vielleicht ist jetzt ein Moment, innezuhalten und sich zu fragen: Gab es wirklich keinen anderen Weg? War dieses Versinken in einer abgrundtiefen Hölle ein unausweichliches Schicksal?

Eine Antwort des Iran auf die Ermordung des Hamas-Führers Ismail Hanija in Teheran wird kommen, ebenso eine Vergeltung der Hisbollah für die Ermordung ihres Kommandeurs Fuad Schukr – auch wenn wir natürlich noch nicht wissen, wie und wie intensiv sie ausfallen wird. Massud Peseschkian, der neue iranische Präsident und der gemäßigtere der Kandidaten der Islamischen Republik, hatte versprochen, die Kriegstreiberei seines Vorgängers nicht fortzuführen und wieder einen Dialog mit dem Westen aufzunehmen.

Doch die Ermordung Hanijas unmittelbar nach seinem Amtsantritt treibt den Präsidenten in die Enge. Er muss nun seine Führungsqualitäten unter Beweis stellen, auf diese eklatante Verletzung der Souveränität seines Landes reagieren und sein Bündnis mit der Hamas festigen.

„Todeswürdig“ – so lautet wahrscheinlich die am häufigsten gebrauchte Formulierung im öffentlichen Diskurs in Israel, um die jüngsten Attentate zu beschreiben. Es ist eine von vielen Rechtfertigungen, die Israel für seine hemmungslose Gewalt in den letzten zehn Monaten gefunden hat. Aber es hat etwas Erschreckendes an sich, dass die Frage, ob jemand als „todeswürdig“ gilt oder nicht, für unser Schicksal hier ausschlaggebender ist als die Frage, ob wir Zivilisten lebenswert sind.

Seit den Massakern vom 7. Oktober hat Israel an jeder Weggabelung den Weg der Gewalt und der Eskalation gewählt. An Rechtfertigungen hat es nie gefehlt: Wir müssen kraftvoll auf die Anschläge reagieren; wir müssen diejenigen verfolgen, die sie initiiert und ausgeführt haben; wir müssen den Druck verstärken, bis sie die Geiseln zurückgeben; wir müssen den Libanon als Reaktion auf die Raketenbeschüsse angreifen; wir müssen dem Iran signalisieren, dass wir seine Unterstützung der Hisbollah nicht hinnehmen werden.

Letztlich ist dieser Automatismus für eine gewaltsame Eskalation jedoch selbstmörderisch und verhindert, dass wir uns grundlegende und existenziell wichtige Fragen stellen: Hat der verbrecherische Völkermord, den wir in Gaza begehen, die Sicherheit auch nur eines einzigen Menschen in Israel erhöht? Sind wir jetzt, während wir auf die Reaktion aus dem Iran warten, sicherer? Steht Israel auf der Weltbühne besser da, als es am 7. Oktober der Fall war?

Die offensichtliche Antwort auf all diese rhetorischen Fragen ist ein klares Nein. Warum also setzen wir diesen zerstörerischen Weg fort, wenn der Preis, den wir dafür zahlen, immer höher wird? Warum feiern vernünftige Menschen Hanijas Tod als eine brillante Operation, wenn wir nicht einmal abschätzen können, welchen Preis wir dafür bezahlen müssen?

      
Mehr dazu
Dossier Palästina/Israel, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
Katherine Hearst und Imran Mullah: Recht haben und Recht bekommen …, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
Abdaljawad Omar: Israels wahrer Grund für die Ermordung von Hamas- und Hisbollah-Führern, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). Auch bei intersoz.org.
Gilbert Achcar: Wenn Kindermord zur Banalität wird, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
Shir Hever: Israels Wirtschaft vor dem Ruin, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024).
J. H. Wassermann: Neue Repression gegen Palästina-Solidarität, die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). Auch bei intersoz.org.
Joseph Daher: Palästina als Staat, die internationale Nr. 4/2024 (Juli/August 2024). Auch bei intersoz.org.
Orly Noy: Die Vergänglichkeit des Mitgefühls, die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024).
 

Es ist einfach, Netanjahu alles in die Schuhe zu schieben, zu sagen, dass der Krieg seinem politischen Überleben dient und dass er ein Interesse daran hat, ihn auf unbestimmte Zeit fortzusetzen. Das ist zwar richtig, aber letztlich bloß eine bequeme Ausrede. Netanjahu hat sich in der Tat dafür entschieden, das Leben zehntausender Palästinenser:innen in Gaza, das Leben israelischer Geiseln und unsere kollektive Sicherheit für seinen persönlichen Vorteil zu opfern. Aber die israelische Öffentlichkeit hat von Anfang an mit erschreckender Begeisterung Netanjahus mörderisches Vorgehen mitgetragen.

Es sind nicht nur die Rachegelüste, die nach dem 7. Oktober die israelische Gesellschaft umtrieben und eine bis dahin ungekannte Mordlust entfachten. Es ist auch der Verlust der Fähigkeit, sich etwas anderes als sinnlose Gewalt vorzustellen. Schlimmer noch: Die israelische Öffentlichkeit ist nicht mehr dazu in der Lage, ihre eigenen Interessen zu hinterfragen und zwischen verschiedenen strategischen Handlungsoptionen zu wählen. Denn ihr Repertoire besteht bloß aus einem Hammer – und ein Land, das keine Alternativen kennt, ist ein sehr gefährliches Land für seine Bewohner:innen, und noch mehr für seine besetzten Gebiete.

Zehn Monate nach dem Massaker könnte die israelische Gesellschaft ganz anders dastehen. Etwa im Begriff sein, sich von ihrem schrecklichen Trauma zu erholen, und alle Geiseln wären lebend nach Hause zurückgekehrt. Zehntausende wären nicht aus ihren Häusern im Norden und Süden vertrieben worden, und das Leben so vieler Soldaten wäre verschont geblieben. Der Gazastreifen wäre nicht zum Hiroshima des Nahen Ostens geworden, mit fast zwei Millionen belagerten, umherirrenden und ausgehungerten Palästinenser:innen. Stattdessen haben uns zehn Monate krimineller Entscheidungen an einen sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Abgrund getrieben, den sich nicht einmal die größten Pessimisten unter uns hätten vorstellen können.

Das ist keine Besserwisserei im Nachhinein. Einige von uns, haben von Anfang an vor den Folgen des schrecklichen Weges gewarnt, den Israel gleich zu Beginn eingeschlagen hat, und sich für eine Alternative starkgemacht. Wir wurden jedoch als Defätisten, als Leugner der Massaker und als Hamas-Unterstützer beschimpft.

Auch jetzt, angesichts des Jubels über die Attentate, wiederholen wir: Dies ist ein zerstörerischer, dummer, gefährlicher Weg, und wir können immer noch den Kurs ändern. Aber eine Gesellschaft, die sich keinen gewaltfreien Weg vorstellen kann, ist dem Untergang geweiht. Und es ist erschreckend zu sehen, wie wir immer noch sehenden Auges auf den Abgrund zusteuern.

aus +972 magazine vom 2. August 2024
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz