Nahost

Apartheid in Israel - Tabu in Deutsch­land?

Im September 2024 erschien im Neuen ISP Verlag das Buch von Arne Andersen „Apartheid in Israel – Tabu in Deutschland“ [1]. Die folgende Rezension gibt einen Einblick in das Kernanliegen des Buches.

Friedrich Voßkühler


1. Allgemeine Charakterisierung


Das umfangreiche Buch (499 Seiten) Arne Andersens, das unter der Mitarbeit von Johannes Feest und Sebastian Scheerer entstand, ist das wahrhaft enzyklopädische Werk eines Historikers, welches äußerst detailliert die gesamte Spannbreite des Palästina-Konflikts seit seinen Anfängen umfasst. Man erfährt aufgrund seiner sorgfältigen Recherche vieles, von dem man nichts Genaues wusste bzw., das man sich, um sich einen praktikablen politischen Überblick zu verschaffen, oft genug nur zusammenschusterte. Das ist das große Verdienst des Buches von Andersen, welches durchaus in der Lage ist, den Leser durch das oft verwirrende Gestrüpp der Fakten des genannten Konflikts hindurchzuführen. Der Leser wird sich, um dem gerecht zu werden, auf die Reise einer längeren Lektüre begeben müssen.

 

Die wird sich allerdings lohnen, auch wenn einem das Buch etwas faktenüberladen und manchmal redundant erscheint. Aber das liegt, denke ich, ganz wesentlich an der Sache selbst, die zur Darstellung gebracht wird. Der Text ist in vier Teile aufgegliedert. Der erste Teil legt die Grundlagen, um die Auseinandersetzungen in Deutschland verständlich zu machen. Der zweite widmet sich der historischen Entwicklung der Region. Der dritte Teil kommt auf die BDS-Bewegung zu sprechen, und im vierten Teil wird der Frage nachgegangen, wie man in Deutschland mit dem Vorwurf des „israelbezogenen Antisemitismus“ umgeht. Alle vier Teile hindurch dient der Buchtitel als inhaltlicher und strukturierender Kompass. Arne Andersen fragt nämlich mit sachlicher Akribie und großem politisch-moralischen Engagement, wieso bzw. inwiefern bei uns die faktische „Apartheid in Israel“ unter Tabu gestellt wird und einem mit dem Vorwurf des „israelbezogenen Antisemitismus“ der Mund verboten und z.B. der Zugang zu Tagungsräumen verwehrt wird, um sich dort kritisch mit der Politik des Staates Israel auseinanderzusetzen und der Solidarität mit dem palästinensischen Volk Ausdruck zu verleihen. Das Tabu äußert sich als Zensur. Die Geschehnisse rund um die Documenta 15 (2022 in Kassel) dürften noch im Bewusstsein sein. Die Vorwürfe gegen den afrikanischen Historiker und Philosophen Achille Mbembe im Jahr 2020 anlässlich seines Eröffnungsvortrags auf der Ruhrtriennale, er sei ein Antisemit, Israelhasser und zudem ein Unterstützer der BDS-Bewegung, hatten einzig und allein das Ziel, die Überprüfung der Thesen zu verhindern bzw. zu diskreditieren, ob in Israel Apartheid und ein siedlungskolonialistisches Modell herrscht.

Ich darf in diesem Zusammenhang außerdem an die größeren Auseinandersetzungen 2012 um die Vergabe des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt an die jüdische Philosophin, Feministin und Beiratsmitglied der „Jewish Voice of Peace“, Judith Butler, erinnern, der, als sie bekannte, nicht die Berechtigung der BDS-Bewegung in Zweifel ziehen zu wollen, vom Zentralrat der Juden „moralische Verderbtheit“ (Spiegel, 27.8.2012) vorgeworfen wurde. In Sonderheit am Beispiel Judith Butlers, die sich zu wehren wusste und auf den Punkt zu bringen vermochte, worum es geht, wurde deutlich, was diejenigen, die vom „israelbezogenen Antisemitismus“ sprechen, strategisch beabsichtigen. Nämlich was? Die bedingungslose Legitimation des Zionismus bzw. des zionistischen Gründungsmythos des Staates Israel. In Bezug auf beides sprechen sie von seinem nicht in Zweifel zu ziehenden „Existenzrecht“. Dieses „Existenzrecht“ ist sozusagen der kategorische Imperativ des Zionismus und rechtfertigt Apartheid und Völkermord. Apartheid und Völkermord sind moralisch kategorial (ohne Ausnahme und bedingungslos) gerechtfertigt, wenn sie dem „Existenzrecht“ des Staates Israel dienen. Alles andere ist „moralisch verderbt“. Ein Befund, der auch auf jüdische Positionen wie z.B. der Judith Butlers zutrifft, die nicht diese etatistische Moral (diesen „Staatszionismus“) vertreten. Auch sie sind mit dem Etikett des „israelbezogenen Antisemitismus“ belegt, diesem Kampfbegriff im Dienst der zionistischen Selbstlegitimation des Staates Israel.


2. Die „Wertorientierung“ des Buches von Arne Andersen


Was ist demgegenüber die „Wertorientierung“ des Buches von Arne Andersen? „Unser Maßstab ist Gerechtigkeit, wie sie in einer sozialen und politischen Ordnung institutionalisiert ist, die auf dem kategorischen Imperativ der Gleichheit individueller und kollektiver, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, bürgerlicher, politischer und nationaler Rechte für alle ohne Unterscheidung oder Diskriminierung in Bezug auf Religion, Kultur, Nationalität, Sprache, Stammeszugehörigkeit, Abstammung, Geschlecht oder irgendeinen anderen sozialen Status beruht. Diese Wertorientierung finden wir im Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, der sich auch Israel verpflichtet hat“ (S. 11). Der „kategorische Imperativ“, von dem Andersen hier spricht und den der israelische Menschenrechtler Urs Davis 1987 als „säkularen, juristischen Kantianismus“ charakterisiert, hat nichts mit der etatistischen Moral des „Staatszionismus“ zu tun. Ganz im Gegenteil: Davis und Andersen vertreten die Position eines „radikalen Universalismus“, wie ihn der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm nennt. Boehm schreibt: „Menschheit kann nur ein moralischer Begriff sein. Zu sagen, dass Menschheit nur ein moralischer Begriff sein könnte, heißt, darauf zu insistieren, dass sie nur von einer Eigenschaft abhängt: der Freiheit“ (Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Berlin 2022, S. 85 f.). Der „radikale Universalismus“, der sich allein der „Menschheit“ als leitendem „moralischen Begriff“ verpflichtet weiß, setzt alle Identitätsmoral und Identitätspolitik – alles Völkische allzumal – außer Kraft. Womit gesagt wird, dass die etatistische Moral des „Staatszionismus“ nichts anderes als eine Form der Identitätspolitik ist und für Boehm nicht anders denn als unmoralisch zu bezeichnen ist. Kurz und knapp: Die etatistische Moral des „Staatszionismus“ ist völkisch-identitär, deswegen unmoralisch und aus diesem Grund gegen den „moralischen Begriff“ der „Menschheit“ gerichtet. Und wer den „moralischen Begriff“ der „Menschheit“ nicht gelten lässt, der landet allzu leicht durch sein Handeln beim Völkermord – oder zumindest bei einer brutalen, ja mörderischen Vertreibung – derjenigen, die der eigenen Identität allein schon durch ihre Existenz im Wege stehen.

Das Erschreckende ist, dass der Staat Israel auf diese Weise die Moral der Henker kopiert, die in den KZs die Massenvernichtung des jüdischen Volkes betrieben. Heute in Gaza und damals war das „Lager“ der Ort der biopolitischen Ausrottung des „Anderen“ im Dienst an der eigenen „Rasse“. Ist es also so, dass der Kampfbegriff des „israelbezogenen Antisemitismus“ den Rassismus verdecken soll, der die Ausrottungspolitik durch den israelischen Staat kennzeichnet? Offensichtlich! Soll also die Weltöffentlichkeit mit dem Antisemitismusvorwurf soweit wie irgend möglich in den Schwitzkasten genommen werden, dass sie davor zurückschreckt, auf breiter Linie dem faktischen Rassismus des israelischen Staates zu opponieren? Offensichtlich! Zumindest im Fall Deutschlands hat das ja auch geklappt. Mit dem hochgehaltenen Leitwert der „Staatsräson“ hat sich die politische Klasse der Bundesrepublik zum Komplizen des Rassismus und des Völkermords gemacht. Und das ist kein Zeichen einer hohen Moral, die man sich stolz ans Revers heftet, weil man meint, aus der eigenen Geschichte die notwendigen Lehren gezogen zu haben, sondern das ist das Symptom einer tiefgreifenden Unsittlichkeit, die vor der Unmenschlichkeit den Kotau macht, um einerseits das eigene Gewissen zu beruhigen und andererseits im Wind imperialistischer Kapitalinteressen zu segeln, die einem z.B. durch den Verkauf von Waffen einen schönen Schnitt versprechen.

      
Mehr dazu
Interview mit Uri Weltmann: „Ewiger Krieg oder Ende der Besatzung und Frieden“, die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025) (Online-Vorabdruck).
DOSSIER: Deutschland unterstützt den Krieg gegen Gaza, die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025).
Em Hilton: Vom Sünden­bock zum Liebling der Rechten, die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025).
Offener Brief an die deutsche Bundesregierung: Schluss mit der Unterstützung des Völkermords, die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025).
Friedrich Voßkühler: Über den Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs durch den Staat Israel, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024).
Paul B. Kleiser: Antizionismus gleich Antisemitismus?, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021).
Dominique Vidal: Antizionismus = Antisemitismus? . Was steckt hinter dieser Gleichung? , die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019).
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000).
 

3. Die Lehren der Diaspora und der israelische Staat


Der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolfssohn äußerte sich am 30.7.2020 in einem Interview im Deutschlandfunk folgendermaßen: Die „Kritik an Israel, also an Israel als einem jüdischen Staat“ ist „antisemitisch, weil Israel für die Juden, wo immer sie leben, die Lebensversicherung ist. Das ist die Überlebensgarantie, und in der 3000-jährigen Geschichte hätte man eine solche Garantie sehr oft gebraucht … Und wer Juden diese Lebensversicherung nehmen will, ist gegen Juden gerichtet. Und was gegen Juden gerichtet ist, nennt man Antisemitismus“. Damit verkürzt er die jüdische Geschichte auf das zionistische Erbe, das zionistische Projekt Israel. Die jüdische Philosophin Judith Butler betont demgegenüber die Bedeutung der Assimilation in andere Gesellschaften für jüdisches Leben. Für sie gehört „das Zusammenleben mit Nicht-Juden zum ethischen Kernbestand des Diaspora-Judentums“ (zitiert bei Andersen, S. 15). „Der Austausch mit anderen Kulturen auf Augenhöhe und mit Wertschätzung, ohne dabei das Eigene, das Jüdische, zu vernachlässigen, ist das Wesensmerkmal dieses Judentums“ (ibid.). Daraus folgt für sie, dass „die Verpflichtung auf soziale Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit integraler Teil säkularer, sozialistischer und religiöser jüdischer Tradition ist“ (ibid.). Der jüdisch-amerikanische Religionsphilosoph und Talmud-Lehrer Daniel Boyarin hat zusammen mit seinem Bruder auf die Bedeutung der Diaspora hingewiesen, die ihre Kraft dadurch gewinne, „dass sie von der Zwangsgestalt des Staates getrennt“ (zitiert bei Andersen S. 15 f.) sei. Die zionistische Idee der Eliminierung der Diaspora bedeutet nach Zuckermann daher „eine Selbstaufgabe real existierender Lebenswelten und traditioneller Kulturtechniken“ (Moshe Zuckermann: Der allgegenwärtige Antisemit. Frankfurt 2018, S. 25). In ihrer Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann machte Hannah Arendt klar, dass man sich nicht aussuchen könnte, mit wem man auf der Erde zusammenlebe. Dies abzulehnen käme einem – zunächst sicher nur – gedanklichen Genozid gleich, denn kein Teil der Menschheit könne die Erde allein für sich beanspruchen. Dieser Grundüberzeugung gemäß schlug sie in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre einen binationalen Staat in Palästina vor. Sie hielt die Unterteilung in Juden und alle anderen Völker, die man als Feinde einstuft, für eine Herrenrassen -Theorie. Es handle sich bei ihr „um blanken rassistischen Chauvinismus“ (Hannah Arendt: Die Krise des Zionismus. Berlin 1989, S. 92). Martin Buber sprach sich 1948 scharf gegen die zionistischen Grundlagen des Staates Israel aus. Der vorherrschende „Staats-Zionismus“ „entweihe den Namen Zions; er ist nichts mehr als einer der krassen Nationalismen unserer Zeit, der keine höhere Autorität als das – vermeintliche – Interesse der Nation anerkennt … Anders als in der Urzeit dürfen wir mit dem jetzt darin ansässigen Volk einen Bund schließen, um gemeinsam mit ihm das Land zum Vorland Vorderasiens zu entwickeln – zwei selbständige Völker gleichen Rechts, jeder Herr seiner Gesellschaft und Kultur, aber beide vereint in dem gemeinsamen Werk der Erschließung und Produktivierung an der gemeinsamen Heimat und in der gemeinsamen föderativen Verwaltung der gemeinsamen Geschäfte“ (Martin Buber: Der Jude und sein Judentum. Köln 1963, S. 350 f.).

Letzteres ist der strategische sowohl politische als auch moralische Kern des Buches von Arne Andersen. Seine in vielerlei Weise sachlich verästelte Argumentation vertritt die These, dass der „Staatszionismus“ nicht das Ziel – der Sinn und Zweck – der langen Geschichte des jüdischen Volkes gewesen sei. Was anstehe, sei die Vereinigung von Juden und Palästinensern als „selbständige Völker gleichen Rechts“ im „gemeinsamen Werk“ der „Erschließung“ und Weiterentwicklung“ der ihnen beiden gleichermaßen gehörenden Heimat. Dies ist die humanistische Utopie des Judentums. Sie hat mit dem „Staatszionismus“ Israels nichts zu tun.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Subskriptionspreis betrug 24,80 €; seit 1.01.2025 kostet es 29,80 € und ist im Buchhandel erhältlich.