Uri Weltmann ist führendes Mitglied von Standing Together, der binationalen Graswurzelbewegung in Israel, die palästinensische und jüdische Bürger:innen gegen Krieg, Besatzung und Rassismus und für Frieden und Gleichberechtigung organisiert. Er sprach mit Daniel Randall nach einem Besuch in London Ende Oktober 2024.
Interview mit Uri Weltmann
DR: Sie waren vor kurzem zusammen mit Sondos Saleh, einer palästinensischen Aktivistin und Mitglied der Leitung von Standing Together, in London und haben dort auf mehreren Veranstaltungen und mit Politikern und Gewerkschaftsführern gesprochen. War der Besuch aus Ihrer Sicht ein Erfolg, und wie wichtig ist der Aufbau internationaler Solidarität für Ihre Kämpfe? |
UW: Wir waren für ein paar Tage in London, um an einer Konferenz teilzunehmen, die von der israelischen Zeitung Haaretz zusammen mit progressiven jüdischen Organisationen im Vereinigten Königreich organisiert wurde. Die Veranstaltung mit mehreren hundert Teilnehmer:innen bot uns die Gelegenheit, unsere Ideen für die Beendigung des Gaza-Krieges sowie unsere Ansichten über die Notwendigkeit eines sozialen und politischen Wandels in der israelischen Gesellschaft darzulegen.
Veranstaltung von „Standing Together“ in London |
Wir sprachen auch auf mehreren von den britischen Freunden von Standing Together organisierten Veranstaltungen, u. a. im Unterhaus, wo mehrere Abgeordnete teilnahmen. Außerdem bauten wir unsere Beziehungen zu Organisationen in jüdischen und muslimischen Gemeinden, die unser Engagement für die Beendigung der Besatzung und für Frieden und Gleichberechtigung unterstützen, weiter aus. Sie erzählten uns, dass die Diskussion über dieses Thema im Vereinigten Königreich häufig polarisiert ist und dass Antisemitismus und Islamophobie vor dem Hintergrund des Krieges zunehmen.
Von besonderer Bedeutung war für uns der Aufbau von Beziehungen zu den Gewerkschaften. Dies liegt zum einen daran, dass wir als Sozialisten das Engagement der organisierten Arbeiterbewegung für eine sozial gerechte Gesellschaft teilen, und zum anderen an dem Einfluss, den die Gewerkschaften auf die Politik der regierenden britischen Labour-Partei haben. Besonders wichtig war für uns das Treffen mit Mick Whelan, dem Generalsekretär der Lokführergewerkschaft Aslef, die auf ihrer Konferenz 2024 eine Entschließung zur Unterstützung von Standing Together verabschiedet hatte. Durch den Meinungsaustausch mit den Gewerkschaftsführungen hoffen wir, die Diskussionen innerhalb der Labour Party zu beeinflussen, so dass die Parteimitglieder, die für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand eintreten und dagegen sind, Netanjahus Regierung straflos hinzunehmen, mehr Gehör finden. Wenn die israelische und die britische Friedensbewegung mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, ist die Resonanz größer.
Können Sie einen kurzen Überblick über die jüngsten Kampagnen und Aktivitäten von Standing Together geben? |
Seit Beginn des Krieges war Standing Together die lauteste Stimme innerhalb der israelischen Gesellschaft, die gegen das Vorgehen unserer Regierung protestierte und die größten Mobilisierungen der Friedensbewegung organisierte, die ein Ende des Krieges in Gaza forderten. Oft waren wir mit polizeilichen Repressionen konfrontiert, u. a. durch die Verweigerung von Genehmigungen für legale Demonstrationen und Märsche. Wir zogen vor Gericht und gewannen, u. a. im Juli vor dem Obersten Gerichtshof.
Kürzlich, am Vorabend des Internationalen Tages der Solidarität mit dem palästinensischen Volk (29. November, der seit 1977 jedes Jahr von der UNO begangen wird), initiierten wir in Zusammenarbeit mit Women Wage Peace und anderen Organisationen einen Antikriegsmarsch in Tel Aviv, bei dem wir die Beendigung des Krieges gegen Gaza und die Freilassung der Geiseln durch ein diplomatisches Abkommen forderten. Der Marsch stand unter dem Slogan „Wenn wir den Krieg nicht beenden, wird der Krieg das Ende für uns alle sein“.
Im Unterschied zu den anderen Anti-Kriegs-Demonstrationen, die wir seit Kriegsbeginn organisiert haben, waren unter den Rednern auf der Kundgebung einige sehr prominente und konventionelle Vertreter des öffentlichen Lebens, für die der Auftritt auf einer von Standing Together organisierten Anti-Kriegs-Kundgebung eher ungewöhnlich war: u. a. Generalmajor a. D. Amiram Levin, ehemaliger Befehlshaber des Nordkommandos der israelischen Armee und ehemaliger stellvertretender Leiter des Mossad; Eran Etzion, ein altgedienter Diplomat im Ruhestand, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates und ehemaliger Leiter der Abteilung für diplomatische Planung im Außenministerium; Orna Banai, eine sehr bekannte Fernsehschauspielerin und Komödiantin etc.
Da unser Ziel nicht nur darin besteht, die bereits vorhandenen „Friedensbewegten“ zu mobilisieren, sondern auch die Reihen der Anti-Kriegs-Bewegung zu vergrößern, war es uns wichtig, Rednern eine Plattform zu geben, mit denen wir nicht unbedingt einer Meinung sind oder die sich einer Sprache bedienen, die manchmal stark von unserer eigenen abweicht, die aber aufgrund ihres Hintergrunds und ihrer Positionen dazu beitragen können, die öffentliche Diskussion zu beeinflussen und Menschen für Anti-Kriegs-Positionen zu gewinnen.
Infostand von „Standing Together“ Foto: Hanay |
Wichtig für uns war außerdem, dass unsere breite Kampagne gegen die Hungersnot im Gazastreifen nach einer Reihe von Erfolgen kurz vor dem Abschluss steht. Wir haben sie im August gestartet und die Menschen in Israel, insbesondere in der arabisch-palästinensischen Gemeinschaft, dazu aufgerufen, Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter an Sammelstellen zu spenden, die wir in verschiedenen Städten und Dörfern eingerichtet hatten. Unser Ziel war es, diese Hilfsgüter mit Hilfe internationaler Hilfsorganisationen in den Gazastreifen zu bringen, um die dort herrschenden katastrophalen Bedingungen zu lindern, aber auch, um eine politische Botschaft an unsere Regierung zu senden.
Tausende von Freiwilligen und Spendern, sowohl palästinensische als auch jüdische Bürger:innen Israels, halfen mit, und wir konnten fast 400 Lastwagen voller Hilfsgüter ausrüsten. Nachdem die Regierung im September die Belagerung des Gazastreifens verschärft hatte, schien die Zukunft dieser Hilfskampagne düster. Doch in den letzten Wochen konnten wir, nachdem wir uns mit weiteren internationalen Hilfsorganisationen zusammengetan hatten, Dutzende von Lastwagen in den Gazastreifen bringen, und zwar sowohl in den südlichen Teil, in der Nähe von Chan Junis, als auch in die zentrale Region, nach Deir el-Balah, und in die umliegenden Flüchtlingslager. Der nördliche Teil des Gazastreifens ist leider nach wie vor von der Armee abgeriegelt. Dies ist Teil des Plans unserer Regierung zur ethnischen Säuberung, die den Hunger als Kriegstaktik einsetzt, um die Menschen massenhaft aus ihren Häusern zu vertreiben und sie durch künftige jüdische Siedlungen zu ersetzen, die auf den Ruinen ihrer Häuser errichtet werden sollen.
Die Fotos und Videos aus dem Gazastreifen, auf denen Freiwillige vor Ort Säcke mit Mehl, Reis und Konserven sowie Tüten mit Shampoo, Waschpulver und Hygieneartikeln für Frauen verteilen, treiben uns die Tränen in die Augen. Das sind Dinge, die in unseren Gemeinden gespendet und gesammelt und von unseren Freiwilligen verpackt und sortiert wurden. Einer der Leiter dieser Verteilungszentren im Gazastreifen erzählte uns am Telefon: „Ich habe darauf bestanden, dass wir Ihre Hilfe in lila Westen verteilen. Ich habe die Stadt auf den Kopf gestellt, aber es ist mir gelungen, lila Stoff dafür zu finden“.
Wie beurteilen Sie den kürzlich vom israelischen Kabinett verabschiedeten Haushalt? |
Netanjahu spricht oft von einem „totalen Sieg“ über die Hamas, was natürlich nur leeres Gerede ist, um den Krieg auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Er wird weder einen „totalen Sieg“ erringen, noch zieht er ernsthaft in Erwägung, die Hamas zu zerstören, die sein politischer Partner ist, um die Aussichten auf ein diplomatisches Abkommen zu untergraben, das die nationalen Rechte beider Völker, die in unserem Land leben, garantieren würde.
Aber es gibt einen „totalen Sieg“, den er unbedingt erreichen will, und das ist ein Sieg über den Lebensstandard und den materiellen Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung in Israel. Am 1. Januar ist eine Preiserhöhung vorgesehen, die besonders die Lohnabhängigen treffen wird. Die Preise für öffentliche Verkehrsmittel, Strom, Wasser und kommunale Abgaben werden steigen. Auch die Mehrwertsteuer wird um einen Prozentpunkt angehoben, was die bereits bestehende Krise bei den Lebenshaltungskosten noch verschärft. Gleichzeitig werden die Löhne und Gehälter gekürzt, da die Regierung die Steuervergünstigungen für Arbeiter und Angestellte streicht und deren Kranken- und Sozialversicherungsbeiträge erhöht, um die gestiegenen Rüstungsausgaben auszugleichen.
Der ursprüngliche Haushaltsentwurf der Regierung ging sogar noch weiter und beinhaltete das Einfrieren der automatischen Anpassung des Mindestlohns, der Altersbeihilfe und der Invaliditätsbeihilfe sowie eine höhere Besteuerung der Rentenvorsorge. Die Histadrut, Israels größter Gewerkschaftsverband, war jedoch gegen diese Maßnahmen und verhandelte darüber mit dem Finanzministerium. Die Regierung stimmte zu, doch zum Ausgleich akzeptierte die Histadrut andere Maßnahmen: Kürzung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst um 2,29 % im Jahr 2025 und um 1,2 % im Jahr 2026 sowie Kürzung des jährlichen Krankengeldes.
Insgesamt wird das Jahr 2025 ein Jahr sein, in dem die israelische Arbeiterklasse die Last der Kriege tragen wird, die unsere Regierung gegen die Bevölkerung von Gaza und gegen die Nachbarländer führt. Die Aufrechterhaltung eines großen stehenden Heeres, der Kauf von Waffen aus dem Ausland, die Bereitstellung von Haushaltsmitteln für Siedlungsprojekte und die Aufforderung an die Reservisten, sich beurlauben zu lassen, um den Kriegsdienst wieder aufzunehmen – all dies fordert einen enormen Tribut von der israelischen Wirtschaft, und unsere streng neoliberale Regierung will den Lohnabhängigen den Löwenanteil auflasten.
Welches Bild erreicht die israelische Öffentlichkeit, wenn überhaupt, von den Verwüstungen, die der Krieg in Gaza und im Libanon anrichtet? |
Die israelischen Mainstream-Medien spielen eine unglaublich negative Rolle, da sie Informationen über die katastrophalen Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung in Gaza zurückhalten. Als der Krieg im Libanon wütete, bevor vor einigen Wochen das vielbeachtete Waffenstillstandsabkommen geschlossen wurde, wurde in der israelischen Presse und im Fernsehen nur sehr wenig über die Zerstörungen berichtet, die unsere Armee in Beirut und im übrigen Libanon anrichtete. Ironischerweise sind die Menschen im Ausland, die sich auf nicht-israelische Medien verlassen, weitaus besser über die Realität vor Ort informiert als die meisten Israelis, und das an einem Ort, der nur eine Autostunde von unserem Wohnort entfernt ist.
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Vor einigen Monaten hat eine Gruppe von Bürgerrechtsorganisationen in Israel einen öffentlichen Brief an die Redaktionen der wichtigsten Medien in Israel geschickt, in dem sie davor warnen, dass die israelische Öffentlichkeit durch die Berichterstattung über den Krieg im Gazastreifen über grundlegende Fakten im Unklaren gelassen wird. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, dass im Mai, als die israelische Luftwaffe das Flüchtlingslager in Rafah angriff und einen tragischen Brand mit Dutzenden von Toten verursachte, im israelischen Fernsehen keine Bilder von verletzten Palästinensern gezeigt wurden und nur 12 % der Fernseh- und Radionachrichten überhaupt erwähnten, dass viele Menschen dabei getötet wurden. Der Rest der Nachrichten konzentrierte sich darauf, wie dieses Ereignis die „gerechten Anliegen des Krieges“ international diskreditieren könnte.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir von Standing Together versuchen, die israelische Öffentlichkeit direkt anzusprechen. Sowohl durch den Ausbau unserer Präsenz in den sozialen Medien (unser TikTok-Account hat zum Beispiel mehr Follower als der jeder anderen politischen Organisation in Israel – ob links, rechts oder Mitte) als auch durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen. So haben wir vor kurzem Hunderte von Anzeigen an Bushaltestellen in Tel Aviv und den umliegenden Städten geschaltet, auf denen Bilder des Gaza-Krieges zu sehen sind, die unsere Regierung nicht zeigen will.
Wir möchten betonen, dass sich unsere Gesellschaft an einem Scheideweg befindet und wir uns entscheiden müssen: entweder ewiger Krieg, Blutvergießen und der Tod unschuldiger Menschen oder die Beendigung des Krieges und der Besatzung, eine diplomatische Einigung und ein israelisch-palästinensischer Frieden, der der einzige Weg ist, die Zukunft und die Sicherheit beider Völker zu gewährleisten.
Aus Workers Liberty vom 9. Dez. 2024 |
Vorabdruck aus die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025) (Online-Vorabdruck). | Startseite | Impressum | Datenschutz