Deutschland

„Rot“-grüne Reformalternative?

Zur Regierungsfrage aus sozialistischer Sicht

In Inprekorr Nr. 305 brachten wir einen Überblick zur Diskussion der Regierungsfrage in Italien und Dänemark. Dort, wo linksradikale Formationen ein gewisses Gewicht in Parlamenten erreichen, stehen sie schnell vor der Frage, sozialdemokratische Regierungen zu stützen oder zu stürzen. Nachstehend bringen zu dieser Frage einen Beitrag aus Deutschland und hoffen, daß er weitere Diskussionen auslöst.

Manuel Kellner


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Der Schweriner Parteitag der PDS im Januar 1997 markiert eine Verschiebung weg vom Selbstverständnis als Oppositionspartei hin zur Regierungspartei im Wartestand. Damit einher geht die Verengung des Ansatzes für politische Veränderungen auf die Veränderung parlamentarischer Mehrheiten und eine Tendenz zur Ausgrenzung radikalerer Kräfte innerhalb und außerhalb der Partei. Am deutlichsten artikulierte Helmut Holter, Fraktionsführer in Mecklenburg-Vorpommern, das Streben nach einer Regierungskoalition mit SPD und Grünen und nach einer Zähmung kritischer Geister: “Wir dürfen nicht in der Oppositionsrolle verharren. Wir stehen vor Entscheidungen und können keine Rücksicht auf innerparteiliche Auseinandersetzungen nehmen.”

Im angenommenen Leitantrag des Bundesvorstands zu den Bundestagswahlen 1998 heißt es: “Die Frage, ob eine Parlamentsfraktion der PDS sich innerhalb des Parlaments in eine Oppositionsrolle, in eine Situation des Tolerierens einer Regierung oder in eine Koalitionsrolle begibt, wird von der PDS – soweit es von ihr abhängt – je nach Zeit und Situation danach entschieden, wie ein Höchstmaß an gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne der politischen Zielsetzungen der PDS erreicht werden kann. Die Frage einer Regierungsbeteiligung stellt sich für die PDS deshalb unter gesamtpolitischen Rahmenbedingungen und Kräfteverhältnissen dann, wenn diese die Schaffung oder Bewahrung von Voraussetzungen für einen sozialen, ökologischen und demokratischen Wandel der Bundesrepublik ermöglichen.” Das ist ein Freibrief für das Mittragen einer Politik, die den programmatisch formulierten Zielen der Partei gegebenenfalls in hohem Maß widersprechen könnte.


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Mit 183 gegen 211 Stimmen bei 36 Enthaltungen wurde ein (u.a. von Kommunistischer Plattform, Marxistischem Forum, AG Junge GenossInnen und West-Delegierten unterstützter) Antrag abgelehnt, die Übernahme von Regierungsverantwortung zumindest an die Bedingung zu knüpfen, daß mit einer solchen Regierung ein wirklicher Reformkurs eingeleitet würde: “Die Frage einer Regierungsbeteiligung stellt sich ... nur dann, wenn diese konkrete Fortschritte für einen sozialen, ökologischen und demokratischen Wandel der Bundesrepublik ermöglicht.”


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Die Haltung der PDS zur Regierungsfrage ist für die Linke insgesamt wichtig. Das Ziel, die Kohl-Regierung loszuwerden, steht jenseits parteitaktischer Erwägungen. Bei den Bundestagswahlen 1998 könnte sich die rechnerische Möglichkeit ergeben, die CDU/CSU/FDP-Regierung, die Regierung des sozialen Kahlschlags und der rücksichtslosen Umverteilung von unten nach oben, durch eine SPD/Bündnis-Grüne-Regierung abzulösen, die auf die Mitwirkung der PDS in der einen oder anderen Form angewiesen wäre.


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Die Diskussion über die Haltung einer linken Partei wie der PDS zur Regierungsfrage ist unfruchtbar, wenn sie allein auf der taktischen Ebene bleibt (opponieren – tolerieren – koalieren). Entscheidend ist die Qualität der eigenen Politik und entscheidend sind die politischen Kräfteverhältnisse. Die Frage ist, ob die eingenommene Haltung auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene die Mobilisierung, den Widerstand und die Selbstorganisation gegen die herrschenden Verhältnisse stärkt oder schwächt.


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Das Papier von André Brie und der von ihm geleiteten PDS-Kommission zur “’rot’-grünen Reformalternative” versucht, eine strategische Orientierung zu liefern: Anknüpfen an der Wuppertaler Studie zur “nachhaltigen Entwicklung” Deutschlands, Formulierung eines “realistischen” Wegs für positive Veränderungen und “Ankommen im Westen” in einer Weise, die das Einordnen in den Grundkonsens der etablierten Parteien ermöglicht.

Doch wirkt dieser Ansatz eher unrealistisch. Mit SPD und Grünen in derzeitiger Verfassung sind wirkliche Verbesserungen nicht zu haben. Die Herrschenden tun alles, um den überkommenen sozialpartnerschaftlichen Konsens aufzulösen und werden sich von einer an “Menschheitsfragen” anknüpfenden Anbiederung von links nicht leimen lassen. Sie verlangen konsequent antisoziale und antiökologische Politik, auch von einer “Links”regierung. Die Kräfte, auf die sich die “Reformperspektive” stützt (in etwa das Spektrum der “Cross-over-Konferenz”), sind in SPD und Grünen randständig.


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Die Hoffnungen, die große Teile der Bevölkerung an eine Ablösung der Kohl-Regierung knüpfen, beziehen sich nicht auf die Erwartung grundlegender Reformen. Vielmehr wird angesichts der sich überschlagendenden Angriffe auf die sozialen Errungenschaften ein Haltepunkt gesucht, eine Milderung erhofft.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist heute selbstverständlich nicht für eine sozialistische Umwälzung. Eine demokratisch-sozialistische Kraft darf und muß der Mehrheitsmeinung Konzessionen machen, allerdings ohne den Herrschenden Konzessionen zu machen. Sie muß immer bereit sein, auch für bescheidene Verbesserungen zu stimmen, und auch für eine SPD-Regierung zu stimmen, damit Kohl gestürzt werden kann.

Das Problem entsteht dadurch, daß die SPD, wenn sie nicht sowieso eine Fortsetzung der jetzigen Regierung oder eine Große Koalition der Stützung durch die PDS vorzieht, viel mehr verlangen würde: Die Übernahme politischer Mitverantwortung für Sozialabbau und ökologisch unverantwortliche Politik, für eine Politik der loyalen Verwaltung der Kapitalinteressen und der machtpolitischen Interessen des deutschen Staates. Dies mitzumachen, hieße aber sozialistisch in Worten, jedoch unsozial in den Taten zu sein.


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Wenn die PDS eine sozialistische Oppositionspartei bleiben will, die für eine grundlegende Änderung der Gesellschaft eintritt, gleichzeitig aber Regierungsbeteiligung anstrebt, muß sie bereit sein, diese Politik auch innerhalb einer Regierungskoalition fortzusetzen. Dies hat unter den absehbaren Umständen unweigerlich Konsequenzen für ihr Verhalten und gegebenenfalls für die Dauer ihres Verbleibs in einer solchen Regierungskoalition.


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So wichtig die Ablösung der Kohl-Regierung ist, entscheidend bleibt die Änderung der Politik. Die ausschließliche Orientierung auf die Eventualität einer möglichen – aber keineswegs gewissen – parlamentarischen Ablösung der Kohl-Regierung könnte zur “Perspektive” “Warten auf das Jahr 2002” führen. Bisherige Erfahrungen der Beteiligung der Grünen an Landesregierungen, aber auch die Regierung von Kommunen durch die PDS und sogar ihre nur teilweise korrekte Tolerierungspolitik in Sachsen-Anhalt (immerhin nämlich stimmte sie dort entgegen ihrer Wahlplattform einer Kürzung der kommunalen Haushalte zu) zeigen, wie schnell Interessen der abhängig Beschäftigten und auch des Umweltschutzes der Logik des Verbleibens in einer solchen Regierung, die sich dem angeblichen “Sparzwang” unterwirft, geopfert werden können.


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Regierungsbeteiligung einer sozialistischen Kraft müßte auf jeden Fall heißen, daß sich etwas nachhaltig ändert, zugunsten der abhängig Beschäftigten, der Einkommensschwachen, der Benachteiligten und der Ausgegrenzten. Nur so kann Regierungsbeteiligung Teil einer Opposition zum Bestehenden sein. Sie muß sich also als Teil einer Konfliktstrategie ausweisen, die den Konflikt zwischen abhängig Beschäftigten und Kapital und allgemein zwischen Unterdrückten und Herrschenden deutlicher macht und im Sinne solidarischer Lösungen vorantreibt.

Auf kommunaler und auf Länderebene muß daher Regierungsverantwortung immer auch die Bereitschaft zum offenen Konflikt mit der jeweils übergeordneten Ebene einschließen; bei Tolerieren oder Koalieren die Bereitschaft zum offenen Konflikt mit den Partnern, sobald sie durch ihre Politik den unsozialen “Sparzwang” akzeptieren und in unsoziale Maßnahmen umsetzen, sobald sie die Lage von ausgebeuteten und unterdrückten Menschen durch ihre Maßnahmen verschlechtern.


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Eine Ablösung der Kohl-Regierung in “kalter” Form, lediglich auf Grundlage eines entsprechenden Wahlergebnisses und auf der Grundlage der Bereitschaft der heutigen Oppositionsparteien, eine antisoziale und antiökologische Politik – vielleicht gegenüber dem heutigen Tempo gemildert – durchzuführen oder (was die PDS betrifft) mitzutragen, würde die gesellschaftliche Lage nicht bessern. Eine solche Politik des “kleineren Übels” fördert Resignation und Hoffnungslosigkeit. Reaktionäre Radikalisierungen könnten sogar die Folge sein. Wenn die PDS sich auf eine solche Politik einläßt, verspielt sie ihre immer noch bestehende Chance, für die Herausbildung einer neuen und glaubwürdigen Kraft der Linken eine tragende und vorantreibende Rolle zu spielen.


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Um die Kräfteverhältnisse zu ändern und daher in der Lage zu sein, die reaktionäre Offensive aufzuhalten und eine emanzipatorische Wende herbeizuführen, muß die außerparlamentarische Mobilisierung Vorrang haben. Auch das Vorgehen in den parlamentarischen Institutionen und die Haltung zur Regierungsfrage muß in den Dienst dieser Priorität gestellt werden.


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An die Beteiligung an einer Regierung zur Ablösung der Regierung Kohl müssen daher bestimmte Minimalbedingungen geknüpft werden. Sie lassen sich darin zusammenfassen, daß eine wirkliche Änderung der Politik zugunsten der abhängig Beschäftigten, der Besitzlosen und Ausgegrenzten notwendig ist – nicht nur für Deutsche, auch für Flüchtlinge und ImmigrantInnen, nicht nur in Deutschland, auch auf internationaler Ebene.

      
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Livio Maitan: Rifondazione vor grundlegender Entscheidung, Inprekorr Nr. 304 (Februar 1997)
 


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Zu diesen Minimalbedingungen gehört, die Umverteilung von unten nach oben, den Sozialabbau und den Privatisierungswahnsinn zu stoppen. Die großen Vermögen und Einkommen müssen durch eine radikal geänderte Steuerpolitik zur Finanzierung gesellschaftlich dringender Aufgaben herangezogen werden. Die Massenerwerbslosigkeit muß durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbußen und eine Vielfalt weiterer Maßnahmen bekämpft werden, zu denen sozial und ökologisch sinnvolle öffentliche Investitionen gehören. Die unbezahlte Frauenarbeit muß anerkannt, neu bewertet in verschiedenen Formen in bezahlte Arbeit einschließlich entsprechender Alterssicherung überführt werden. Die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die Macht der großen Privatbanken muß überall dort in Frage gestellt werden, wo sie offensichtlich gegen dringende gesellschaftliche Bedürfnisse und elementare Gebote der Solidarität verstößt.


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Es ist uns bewußt, daß ungünstige gesellschaftliche Bedingungen und die anhaltende Schwäche der Linken die Entwicklung einer offensiven sozialistischen Politik erschweren. So entstehen Neigungen, sich entweder auf hehre, aber unwirksame Prinzipien zurückzuziehen, oder aber den eigenen Anspruch als sozialistische Kraft, als Kraft der emanzipatorischen Hoffnung aufzugeben. Wir wollen gegen beide Verlockungen argumentieren.

Ob die PDS in Opposition steht oder mitregiert, entscheidend ist, ob sie dem Anpassungsdruck nachgibt, oder ob sie sich in ihrem Verhalten davon leiten läßt, Widerstand, Mobilisierung, demokratische Selbstbestimmung und Selbstorganisation von unten zu fördern. Nur letzteres Verhalten kann der Macht des Kapitals entgegenwirken und Ansätze für eine bessere Republik schaffen, in der Kapital und Staatsbürokratie nicht mehr das Sagen haben, in der Ausbeutung und Unterdrückung geächtet werden. Wer will, daß Gemeinwesen und Wirtschaft morgen demokratisch und solidarisch gestaltet werden, muß heute in diesem Sinne systemoppositionell handeln.


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Wenn die eigenen Kräfte und die außerparlamentarischen Bewegungen zu schwach sind, um die eigenen Minimalbedingungen durchzusetzen – insbesondere die Nichthinnahme weiterer Verschlechterungen –, dann ist es notwendig, sich der politischen Mitverantwortung zu verweigern. Das ist dann das wirkliche “kleinere Übel”. Wenn die Zustimmung zur Opferung der Interessen der abhängig Beschäftigten, der Armen und Ausgegrenzten zugunsten des Kapitals und des “Standorts Deutschland” als Eintrittskarte ins Haus der Regierenden verlangt wird, muß eine sozialistische Kraft, die diesen Namen verdient, bereit sein, gegen den Strom zu schwimmen und “Nein!” zu sagen.

Der Autor ist Mitglied der Vereinigung für Sozialistische Politik (VSP) und der „Arbeitsgemeinschaft der Mitglieder der Vierten Internationale in der VSP.“
Dieser Text ist eine Beschlußvorlage für die Bundeskonferenz der VSP am 10./11.Mai 1997.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 307 (Mai 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz