Urs Diethelm
Der Wahlsieg der Hamas braucht „eine neue Reflexion innerhalb der Solidaritätsbewegung mit Palästina“, schreibt Galia Trépère [1] richtigerweise in ihrem Diskussionsbeitrag in Rouge. Ich möchte hinzufügen: Der Wahlsieg zeigt auch den dringenden Diskussionsbedarf über die Analyse und die eigenen Perspektiven in der radikalen Linken und der Vierten Internationale. Seit Mitte der 90er-Jahre und dem Abschluss des Oslo-Abkommens [2] sind die Auseinandersetzungen in der Internationale zum Erliegen gekommen, während gleichzeitig tief greifende Divergenzen in Analyse und Perspektiven bestehen.
Doch konkret zu den Wahlergebnissen: Wir sind uns alle einig – das Gesellschaftsmodell der Hamas ist nicht nur religiös motiviert, sondern reaktionär. Wir kennen die Angriffe gegen Frauen und gemischtgeschlechtliche Veranstaltungen. Alle fortschrittlichen BeobachterInnen sind sich aber auch einig, dass die Mehrheit der palästinensischen WählerInnen die Hamas nicht wegen ihres Gesellschaftsmodells gewählt hat. Was also sind die Gründe für diese Wahl, denen mensch mit einer allgemeinen Charakterisierung der Hamas nicht wirklich näher kommt?
Das zentrale Element ist dabei das Ende der Periode der so genannten „Friedenspläne“ und der Übergang zu einer offenen Annexionspolitik Israels sowie der vollständigen rassistischen Trennung der jüdisch-israelischen Bevölkerung von den arabischen Einheimischen. Dabei hat die palästinensische Bevölkerung mit ihrer Wahl diese Wende nicht eingeleitet, sondern die Politik Israels nachvollzogen. Dass Christian Picquet und Michael Warschawski als langjährige Verfechter einer Friedenslösung nach Osloer Konzept mit diesen Fakten Mühe haben und deshalb durch Hochstilisierung der Hamas-Diskussion vom Ende der Friedensmaskeraden ablenken, ist verständlich.
Alle Befriedungspläne – sei es das Oslo-Abkommen, die Road Map oder die Genfer Initiative – haben die Lage der PalästinenserInnen massiv verschlechtert. Israel hat diese Verträge genutzt, um die PalästinenserInnen von ihren Arbeitsplätzen in Israel (ihrer früheren Haupteinnahmequelle) zu verdrängen und ihre Existenzgrundlagen zu zerstören, die Bewegungsfreiheit in den besetzten Gebieten vollständig zu beschränken, die Siedlungen in der Westbank massiv auszubauen und die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung in Israel zu verstärken (Verdrängung vom Arbeitsmarkt, Enteignungen, „Judaisierungs“politik etc.).
Israel hat sich im Windschatten des Irakkrieges, in dem die USA wieder abhängiger von ihrem treuen Verbündeten wurden, durch eine geschickte Politik die Unterstützung der USA und der EU für seine Politik gesichert. Die bürgerliche Mehrheitsströmung der PLO unter Arafat hat dieses „Friedensschauspiel“ in einer Situation der Schwäche und des eigenen Machtstrebens mitgespielt und sich mit dem Aufbau eines riesigen, überdimensionierten Repressionsapparats die Duldung Israels und der imperialistischen Länder für ihre Macht und Korruption erkauft. Der Zorn der Bevölkerung in den besetzten Gebieten über diese Friedensmaskeraden schwelte schon seit langem. Die Hamas hat nicht nur das Ende dieser Ablenkungsmanöver in Aussicht gestellt, sie realisiert sie heute auch konsequenter, als es alle existierenden Organisationen links der Fatah getan hätten.
Das miserable Abschneiden der Linken bei diesen Wahlen ist nicht nur im internationalen Kontext einer geschwächten Linken zu verstehen, sondern auch durch ihre zum Teil meist rhetorische und oft unklare Haltung (z.B. PP) zu diesem Friedenstheater.
Die erfolgreiche Politik Israels hat nicht nur die Degenerierung der PLO und der palästinensischen Linken beschleunigt, sondern auch zur Degenerierung einer linken revolutionären Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung geführt. Ein Ausdruck davon ist die Reduzierung der so genannten Palästinafrage auf das Problem der Besatzung. Das Ende der Besatzung und die Schaffung eines palästinensischen Staates in den besetzten Gebieten sei auch das Ende des Konfliktes, lautet heute ein weit verbreiteter Glauben in der Solidaritätsbewegung.
Die Frage der Vertriebenen, die Situation der palästinensischen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und anderen Ländern und die Forderung nach dem Rückkehrrecht sind sogar in Teilen der 4. Internationale in den Hintergrund getreten und durch die schwammige Formulierung einer „gerechten Lösung der Flüchtlingsfrage“ ersetzt worden. Die Apartheid in Israel, die Diskriminierung und der offene Rassismus gegen die arabische Minderheit im zionistischen Israel werden gar nicht mehr thematisiert. Ebenso gibt es die Klassenkonflikte innerhalb der palästinensischen Gesellschaft anscheinend nicht mehr.
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Zum Glück haben fortschrittliche palästinensische NGOs einen breiten Aufruf zu Boykott, Sanktionen und Deinvestition lanciert, in dem sie wieder die umfassende Anerkennung der Rechte der palästinensischen Bevölkerung verlangen und die politische Isolierung Israels gegenüber humanitärer Hilfe und „Schutz“-Aufgaben (vgl. die Civil Missions) in den Vordergrund stellen. Bezeichnenderweise wird der Aufruf nicht nur von NGOs in den besetzten Gebieten, sondern auch von Organisationen in Israel und im Exil getragen. Er zwingt die internationale Palästina-Solidarität dazu, ihre Forderungen und Mittel zu überdenken und die Reduktion der Perspektive auf beschränkte Friedenslösungen zu überwinden.
Die Wahlen sind nicht nur eine Ohrfeige für die Fatah, sondern auch für die Anpassungstendenzen der Linken in der Solidaritätsarbeit. Welche politischen Ziele und Mittel sich die Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung geben wird, muss unser zentrales Thema werden. Sonst reden wir um den heißen Brei herum.
Urs Diethelm ist Mitglied der Internationalen Sozialistischen Strömung in der Schweiz, die bei der Vierten Internationale einen Beobachterstatus genießt, und aktiv in der Palästina-Solidarität. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz