Palästina

Neuer palästinensischer Nationalismus?

Nicolas Qualander

Das palästinensische Wahlergebnis bedeutet in verschiedener Hinsicht sowohl einen Bruch als auch Kontinuität, die zuletzt immer mehr durch die Hamas vertreten wurden. Als Votum für Kontinuität ist das Ergebnis der Parlamentswahlen zu verstehen, insofern die palästinensische Straße ihren politischen Widerstandswillen zum Ausdruck gebracht und ihre nationalen Ansprüche sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft bekräftigt hat. Die Hamas hat auch von einer umfassenderen politischen Entwicklung profitiert, die seit einigen Monaten mit dem Wahlerfolg der Muslimbruderschaft in Ägypten, der Unmöglichkeit, die Sicherheitslage im Irak zu stabilisieren und der Aufsehen erregenden Stärkung der Achse Teheran–Damaskus das imperialistische Lager und dessen Unterstützer in arabischen Regierungen in Schwierigkeiten gebracht hat. Die Hamas versucht, sich politisch nach dem Vorbild der libanesischen Hisbollah, die seit dem Ende der 1990er Jahre in der Region zum Modell der nationalen Befreiungsbewegung schlechthin geworden ist, als zugleich islamische und nationalistische Organisation mit arabischer Dimension neu zu definieren. Wie die libanesische Hisbollah stützt sie sich in ihrem politischen Programm nicht auf eine fragliche Zwangsdurchsetzung der Scharia als Grundlage des Verfassungsrechts, sondern auf die Wiederbelebung des nationalistischen Diskurses, was ihr in der palästinensischen Gesellschaft im nationalistischen Lager wie in der Linken weithin Anerkennung verschafft.


Pragmatismus


Die Wahl ist aber auch ein Votum für einen Bruch, insofern es darum ging, mit einer Reihe von Praktiken aufzuräumen, in denen die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die Fatah, die Sicherheitsdienste und die Institutionen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in einem Klima der allgemeinen Korruption jegliche Konturen verloren haben.

Im Gegensatz zur Fatah ist die Hamas vorab eine gut strukturierte Organisation mit relativ kollegialem, demokratischem internen Funktionieren. Ihr bewaffneter Arm, die Ezzedine-al-Qassam-Brigaden, sind ordentlich zentralisiert und halten sich an die von der politischen Organisation festgelegten Grundsätze. Beide verfügen zudem über einen unverzichtbaren verlängerten Arm in Form eines Netzwerks an bedeutenden Sozial- und Wohltätigkeitseinrichtungen, eine Reaktion auf die Schwächen der PA in diesem Bereich. Die Fatah hat sich definitiv als unfähig erwiesen, eine stabile politische und militärische Organisation zu bilden. Die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden sind nichts anderes als ein bunter Haufen bewaffneter Verbände, die sich zum Teil tatsächlich an politische Grundsätze halten und sich zum Teil lokalen oder Clan-, wenn nicht Mafiazusammenhängen verpflichtet fühlen.

 

Dossier zur Einschätzung des Wahlsiegs der Hamas

Der Sieg von Hamas bei den palästinensischen Wahlen vom 25. Januar des Jahres mischt die Karten im Nahen Osten neu auf. Ist es der Beginn einer neuen historischen Phase? Rouge, die Zeitung der französischen Sektion der 4. Internationale, hat darüber eine Diskussion eröffnet, aus der wir zwei Beiträge sowie einen Beitrag des Genossen Urs Diethelm veröffentlichen. Ergänzt wird das Dossier durch ein Interview mit Muhammad Jaradat.

Die Hamas bedient sich eines für die palästinensische Bevölkerung identifizierbaren politischen Diskurses. Sie verfolgt eine dreifache Dawa (Aufruf, Predigt): eine religiöse, panislamische, die sich aus der Volkskultur nährt; eine nationalistische, die in der ureigenen Geschichte des palästinensischen Volks wurzelt; und eine arabistische. In diesem Sinn ist die Hamas wie die libanesische Hisbollah eine islamisch-nationalistische Befreiungsbewegung.

Sie ist eine pragmatische Organisation, die es verstanden hat, einen nationalen Konsens um sich zu bilden. Bei den Kommunalwahlen des letzten Jahres ermöglichte die Hamas anderen politischen Kräften wie der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), in einzelnen Gemeinden die Führung zu übernehmen und damit die Fatah zu verdrängen. So in Bethlehem oder in Ramallah im Westjordanland, wo die zur PFLP gehörende christliche Bürgermeisterin mit den Stimmen der kommunalen Hamas-Abgeordneten gewählt wurde. Ein Teil des Erfolgs der Hamas beruht darauf, dass sie gerade das Gegenteil von der Fatah macht und sich dem Aufbau einer palästinensischen Einheit verschreibt, was bedeutet, dass alle politischen Richtungen zu Wort kommen.


Widersprüche


Das ist nur einer der Widersprüche, die gegenwärtig die konfuse politische Lage prägen. Die Hamas stützt ihr politisches Image darauf, eine breitere politische Führung zuzulassen, und verbindet die drei Faktoren Widerstand, Demokratisierung und Redlichkeit. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass sie mit anderen Kräften Kompromisse schließen muss, wenn sie ihrem Programm treu bleiben will. So ist ihr an das gesamte politische Spektrum gerichteter Aufruf zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit zu verstehen. So ist auch die beginnende Diskussion über eine mögliche Wiederbelebung der PLO zu verstehen, die allein imstande ist, die Gesamtheit des palästinensischen Volks zu vertreten, also die Bevölkerung in den besetzten Gebieten, die Flüchtlinge im Libanon und jene in der gesamten arabischen Welt.

      
Mehr dazu
Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale: Zur israelischen Offensive gegen Gaza und zur Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volks, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
Julien Salingue: Der Überfall Israels auf Gaza aus historischer Sicht, Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009)
Christian Picquet: Krisenabstimmung, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Urs Diethelm: Weiter um den heißen Brei reden?, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Interview mit Mohammad Jaradat (BADIL): Zwischen Hamas-Sieg und dem Diktat Israels und des Westens, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Badil Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights: Wahlsieg der Hamas – Ruf nach einer besseren Regierung und nach Anerkennung palästinensischer Rechte, Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006)
 

Die Hamas steckt aber auch voller Widersprüche, wie sie für den islamischen Nationalismus so bezeichnend sind: Trotz ihres normativen, konservativen Verständnisses von Geschlechterrollen gelingt es ihr, wesentlich mehr Frauen in ihre Leitungsinstanzen und Gemeinde- wie Parlamentslisten einzubinden als alle anderen Fraktionen zusammen. Obwohl sie in der Vergangenheit neben der PFLP und der radikalen palästinensischen Linken zu den schärfsten Gegnern des Oslo-Abkommens zählte, trägt sie heute die Verantwortung für die Bildung einer Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde, die ihre Existenz diesem Abkommen verdankt. Ebenso muss die Hamas gleichzeitig den Erwartungen der einfachen Bevölkerung und jenen Erwartungen eines Teils der palästinensischen Bourgeoisie Genüge tun. Und schließlich muss sie den Spagat schaffen, eine Organisation zu bleiben, die den aktivsten Widerstand verkörpert, um ihre politische Legitimität zu behalten, und gleichzeitig in das komplexe Spiel von Verhandlungen mit dem so genannten Quartett (USA, EU, Russland und UNO), den Kreditgebern und Ägypten eintreten.

Sie muss sich, was die Themen Libanon, Iran und Syrien betrifft, mit der Achse Iran – Syrien solidarisieren, die von der libanesischen Hisbollah und der Strömung um Moqtada as-Sadr im Irak gegen das Bündnis USA, Israel und Europa unterstützt wird, ohne die Kontakte zu Letzteren ganz aufzugeben.

Statt mit dem Ende einer Periode, die von einem dem Augenschein nach säkularen, laizistischen Nationalismus geprägt war, haben wir es also nun mit dem Beginn eines neuen historischen Abschnitts zu tun, der von der Islamisierung des nationalistischen Diskurses und umgekehrt von einer Nationalisierung und Säkularisierung der islamisch-fundamentalistischen Bewegung geprägt ist. Es ist eine widersprüchliche Periode, in der Palästina zu überstehen versucht – in seinem ganzen Widerstand, in seiner Vielfalt und in seinen eigenen Worten, mögen diese auch nicht allen gefallen. Die Hamas ist nicht mit den Taliban zu vergleichen. Sie zeugt vielmehr von Umgruppierungen innerhalb der politischen Kräfte der Region, wo der Islamismus sich nunmehr zwischen verschiedenen Strömungen und Strategien entwickeln kann und in der die Reste des arabischen Nationalismus wie der Linken auf die Probe gestellt sind.

Übers.: tigrib



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz