Christian Picquet
Konfrontiert mit ideologisch reaktionären Kräften, die – gestützt auf die Verzweiflung der Unterdrückten – die etablierte Ordnung herausfordern, hat die revolutionäre Linke vielfach versucht, sich zu beschwichtigen und in diesem Prozess eine verborgene Dynamik zu suchen. Meist endete das in einem fürchterlichen Desaster, und entsprechend war auch die Ernüchterung. Dennoch schlägt uns nun Nicolas Qualander erneut einen ausgesprochen einseitigen Interpretationsansatz des Hamas-Sieges vor.
Die islamische Widerstandsbewegung (Hamas) kann zweifellos nicht mit den Taliban und auch nicht mit al-Qaida gleichgesetzt werden. Auch wenn die israelischen Regierungen ursprünglich ihr Entstehen begünstigt haben, um die Palästinensische Befreiungsbewegung (PLO) zu schwächen, setzte sich die Hamas nach und nach als Alternative zu der von Jassir Arafat gegründeten Fatah durch. Die Fatah ist durch ihre Verwaltung der den PalästinenserInnen im Oslo-Abkommen zur Augenwischerei zugestandenen Autonomiebehörde, ihre Machtlosigkeit angesichts des beschleunigten Siedlungsbaus im Westjordanland und in Jerusalem und ihre Unfähigkeit, mit der Aushebelung der Perspektive eines palästinensischen Staates, der Korruption ihrer Führungsschichten und der internen Kriminalität zu Rande zu kommen, diskreditiert.
Unter diesem Gesichtspunkt zeugt der Hamas-Erfolg von der Weigerung eines ganzen Volks, auf seine Souveränität zu verzichten. Die soziale Verankerung der Hamas wurde begünstigt durch das Prestige, das die Bewegung durch ihre militärischen Aktionen gegen Israel gewonnen hat, durch ihren politischen und organisatorischen Zusammenhalt, durch die Redlichkeit, die sie für sich in Anspruch nimmt, und durch die Einrichtung eines Systems islamischer Hilfswerke, die sich auf die finanzielle Unterstützung durch die muslimische Welt stützen können und als Antwort auf die Verarmung Palästinas gesehen werden.
Muss deshalb die Einschätzung des Wählerwillens der PalästinenserInnen schon völlig losgelöst werden von einer Einschätzung des von der islamistischen Partei vertretenen Gesellschaftsmodells? Damit würde man nur die Augen davor verschließen, wie dieses Ergebnis zu interpretieren ist. Ein simpler Blick auf die 1988 angenommene Prinzipienerklärung der Hamas zeugt von deren totalitärer Weltsicht. In Artikel 2 beruft sie sich auf die Muslimbruderschaft, in Artikel 27 bekennt sie sich zur Absicht, ein „islamisches Palästina“ zu errichten; in Artikel 31 wird betont, dass ein „Frieden nur unter dem Banner des Islam möglich ist“; in Artikel 11 wird festgestellt, dass jedes „Verfahren, das im Widerspruch zur islamischen Scharia steht, nichtig ist“; in den Artikeln 13 und 15 heißt es, „die einzige Lösung für die Palästina-Frage liegt im Dschihad“; in Artikel 12 wird der Status der Frau dem von Sklaven gleichgesetzt und ihre Aufgabe auf die Familie und die Erziehung der Kinder reduziert, um diese „auf ihre Rolle als Kämpfer vorzubereiten“ (Artikel 18); in Artikel 22 wird den Juden/Jüdinnen vorgeworfen, „hinter der französischen Revolution, der kommunistischen Revolution und allen Revolutionen zu stecken“; in Artikel 32 wird sogar auf die Protokolle der Weisen von Zion, dieser berüchtigten antisemitischen Fälschung, verwiesen; in Artikel 7 wird, gestützt auf die göttliche Verheißung, zum Mord an Juden/Jüdinnen aufgerufen. Soweit nur einige der herausragendsten Beispiele.
Nicolas Qualander setzt daher eine besondere Brille auf, wenn er dieser Organisation zugesteht, im Gegensatz zur Fatah ein „relativ demokratisches Funktionieren“ zu haben. Es ist eine Sache, dass die Hamas ihren Wahlerfolg vor allem ihrer Fähigkeit zu verdanken hat, besser als ihre Konkurrenz die nationalen Forderungen zu verkörpern, und nicht so sehr ihren Islamisierungsabsichten für Palästina. Daraus den Schluss zu ziehen, ihr politisches Programm hätte mit ihren ursprünglichen Absichten nichts zu tun, hieße jedoch, den LeserInnen – oder sich selbst – etwas vorzumachen. Die dreifache religiös-panislamische, nationalistische und arabistische Dawa, die angeführt wird, um die Einschätzung zu belegen, bei der Hamas handle es sich um eine komplexe Bewegung mit unbestimmter Zukunft, greift bloß Artikel 14 der Grundsatzerklärung auf, wo es heißt: „Die Frage der Befreiung Palästinas hängt mit drei Kreisen zusammen: dem palästinensischen, dem arabischen und dem islamischen Kreis.“
Aller Voraussicht nach wird diese Partei angesichts der Widersprüche, die sich durch die Übernahme der Regierungsgeschäfte verschärfen dürften, gezwungen sein, sich gegenüber anderen Kräften zu öffnen und mit ihnen zusammenzuarbeiten sowie einen gewissen Pragmatismus auf diplomatischer Ebene an den Tag zu legen. Und trotzdem weist die Tatsache, dass sich die Erwartungen und die Verzweiflung der PalästinenserInnen in einem solchen Votum ausgedrückt haben, wie blockiert die Lage ist. Wie Michel Warshawski in unserer Zeitung (Rouge Nr. 2144) geschrieben hat, haben wir es mit einer „fürchterlichen Niederlage des Kampfs für einen laizistischen, demokratischen Staat“ zu tun.
Es muss sogar hinzugefügt werden, dass sich für die Bevölkerung auf der Westbank und im Gazastreifen in Bezug auf ihre Lebensbedingungen nichts verbessern wird. Überall in der arabisch-muslimischen Welt teilt der politische Islamismus in Wirklichkeit mit den Neoliberalen in Washington und Tel Aviv die gleiche Wertschätzung für freies Unternehmertum, Managerkultur, Religion, Moral und Hilfswerke, denen die Rolle zugesprochen wird, anstelle des Staates die Umverteilung zu übernehmen. Die (bescheidene) palästinensische Geschäftswelt ließ im Übrigen nicht lang auf sich warten und belagerte die Gewinner, um sie davon zu überzeugen, sich schneller dem Markt zu öffnen.
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Der Aufstieg der Hamas in der palästinensischen Szene eröffnet zweifellos eine neue historische Phase für die gesamte Region. Nicht, wie Nicolas Qualander zu verstehen gibt, in dem Sinn, dass sich damit Möglichkeiten einer Umgruppierung der antiimperialistischen Widerstandsbewegung ergäben, die nunmehr ihren Ausdruck in der libanesischen Hisbollah, der Partei von as-Sadr im Irak oder den ägyptischen Muslimbrüdern fänden und sich durch die Achse Damaskus – Teheran bestärkt fühlten. Vielmehr krönt ganz einfach der Zerfall der Fatah – die seit dem Sechstagekrieg 1967 lange Zeit den zumindest teilweisen Bruch mit den arabischen Regimes symbolisiert hat – zugunsten einer konservativen, religiösen Kraft eine lange Reihe von Niederlagen des fortschrittlichen Nationalismus der arabischen Linken.
Die Perspektivenkrise kann sich damit in Palästina nur verschärfen. Von der Strategie des bewaffneten Kampfes, die bis zur Niederlage in Beirut 1982 vorherrschte, bis hin zur Verwaltung des Oslo-Prozesses zehn Jahre später und der Militarisierung der zweiten Intifada, durch die sich der von einer breiten Bevölkerung getragene Kampf erschöpfte, sind zwei miteinander zusammenhängende Fragen unbeantwortet geblieben: die der Anerkennung der grundlegenden Rechte eines Volks und die der Koexistenz von zwei nationalen Realitäten – einer palästinensischen und einer israelischen – auf ein und demselben Boden. Zwischen einer Hamas, die gezwungen sein wird, mit ihrer neuen Vorherrschaft umzugehen, deren Perspektive aber dem Ultrazionismus in Israel ebenbürtig ist und ihm entspricht, und einer Fatah, die am Ende ist, sowie einer durch die vergangenen Niederlagen marginalisierten Linken steht dem palästinensischen Volk eine ausgesprochen schwierige Zeit bevor.
Die Solidaritätsbewegung muss daher ihre eigene Road Map festlegen, sich mehr denn je ihre Unabhängigkeit bewahren und den Kampf für eine palästinensische Souveränität weiter verfolgen – was augenblicklich bedeutet, jede Bestrafung der Bevölkerung in den Gebieten aufgrund der Wahlergebnisse abzulehnen. Und sie muss äußerst wachsam darauf achten, dass deren zivile und demokratische Rechte gewahrt bleiben.
Aus dem Französischen von tigrib |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz