Spanischer Staat

Der Streik vom 29. September: Die soziale Frage kehrt zurück

Miguel Romero

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Eines der Ziele des Neoliberalismus bestand darin, die „soziale Frage“ – das heißt die vom Kapitalismus aufgrund der sozialen Ungerechtigkeit und Ungleichheit hervorgerufenen Konflikte – nicht nur aus der Politik sondern auch aus dem Bewusstsein der Menschen, die Mehrheit der arbeitenden Klassen inbegriffen, zu verbannen. Dazu beigetragen hat insbesondere im Spanischen Staat der sogenannte „soziale Dialog“. Das heißt die Erarbeitung eines Konsenses, bei welchem systematisch die gemeinsamen Interessen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften gesucht wird. Dieser „soziale Dialog“ ist in den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu einer grundlegenden Norm geworden. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Folgen katastrophal: Rückgang des Lohnanteils am Bruttoinlandprodukt und rekordhohes Wachstum der Unternehmens-„Überschüsse“ (Profite) während längerer Zeit.

Für die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sind die Folgen ebenso katastrophal: Die Lohnabhängigen in ihrer Mehrheit organisieren sich nicht mehr in den Gewerkschaften, weil sie in ihnen Kampforganisationen sehen. Folglich sind sie in deren Strukturen auch nicht mehr aktiv. Politisch ausgedrückt hat sich eine bipolare Koexistenz von PSOE und PP herausgebildet und gefestigt. [1] Und die Stimmenmehrheit der PSOE bei Wahlen wird als linke Mehrheit definiert.

Mit dem Generalstreik vom 29. September 2010 scheint die „soziale Frage“ zurückgekehrt und wieder sichtbar geworden zu sein. Ich sage, es „scheint“ so. Denn zweifellos liegt dieser Generalstreik noch nicht lange genug zurück, um daraus bereits Schlussfolgerungen ziehen zu können. In diesem Umfeld ist die Gefahr groß, dass die Hoffnung mit der Realität verwechselt wird. Alles, was dieser Generalstreik ausgelöst hat, ist noch zuwenig entwickelt und zu zerbrechlich. Was dabei herausgeschaut hat, hat mehr mit dessen Möglichkeiten, mit den in ihn gesetzten Erwartungen zu tun als mit tatsächlichen Errungenschaften. Doch es gibt konkrete Fakten, die mit einiger Gewissheit darauf schließen lassen, dass die „soziale Frage“ zurückgekehrt ist, die es dringend braucht und die in der gegenwärtigen Krise des kapitalistischen Systems lebenswichtig ist. Zu diesen Fakten gehören insbesondere die Reaktionen der Wortführer der Unternehmer und der politischen Rechten. Die Schlagzeilen auf den ersten Seiten sprachen von „Generalniederlage“ – nicht zufällig in jenen Zeitungen zu finden, die sich vor allem durch gezielte Falschinformation auszeichnen, nämlich El Mundo und ABC. Sie erheben keinesfalls den Anspruch, die Wirklichkeit wiederzugeben, sie wollen sie vielmehr heraufbeschwören, um ihre Kunden zu beruhigen wie die Reliquien und Medaillons, die die Carlisten [2] im spanischen Bürgerkrieg trugen und auf denen stand „Deténte bala!“ („Kugel: Halt!“).

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Der Generalstreik ist mehr wegen der Möglichkeiten ein politischer Erfolg, die er eröffnet hat, als was damit erreicht werden konnte. Dies zu übersehen wäre ein großer Fehler. Aber es müssen auch die Schwächen gesehen werden, alles, was noch zu tun ist, um ausgehend von diesem ersten Schritt weiter voranzukommen. Um so Zielen näher zu kommen, die noch in weiter Ferne liegen, deren es aber für radikale wirtschaftliche und politische Änderungen unbedingt bedarf.

Zum Beispiel:

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Ausdruck „politischer Sieg“ folgende innere Bedeutung hat: Er ist die Demonstration einer kollektiven Kraft, das Gefühl, jene besiegt zu haben, die entschieden der Meinung waren, der Generalstreik würde scheitern. Er zeigt, dass die Leute „von unten“, die bis anhin skeptisch und resigniert waren, ihre Einstellung ändern können. An vielen Orten ist die Basis der Mehrheitsgewerkschaften von einer beginnenden gewerkschaftlichen Eigenaktivität erfasst worden. Man kann sagen, was man will, aber künftig kann die Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mehr im geschlossenen Kreis von Sitzungen mit den „Agenten des Marktes“ und in den Gängen des Parlamentes festgelegt werden. Von jetzt an ist mit der Straße zu rechnen, die bis jetzt nicht zu den offiziellen Festlichkeiten geladen war und deren Präsenz den etablierten Marschplan der Regierung etwas ins Wanken gebracht hat.

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Es hat sich eine Bresche geöffnet, allerdings nur eine Bresche. Der Optimismus jener, die zum Streik aufgerufen haben („Alle Generalstreiks waren siegreich“, „Zapatero wird seine Haltung früher oder später ändern“ …) ist ok, wenn er der Vorbereitung eines Streiks dient. Aber heute müssen wir uns der Wirklichkeit stellen, voller Hoffnung, aber illusionslos. Denn es ist falsch, dass „alle Generalstreiks“ siegreich waren. Es wurden jeweils Teilresultate von unterschiedlicher Bedeutung erzielt, aber in der Sozial- und Wirtschaftspolitik wurden keine grundlegenden Änderungen erzielt. Wenn man so will, haben sie zu „Korrekturen“ geführt, von denen die Gewerkschaftsführer sprechen, was nur kleine Änderungen von unterschiedlichem Ausmaß waren (Rückzug eines Gesetzes, das zur Türe hinausgeht, aber wenig später wieder zum Fenster reinkommt, was mehr als einmal vorgekommen ist).

Aber heute haben wir es nicht mit einem Gesetz zu tun sondern mit einer Wirtschaftspolitik, die in großem Umfang „korrigiert“ werden müsste. Wir haben es mit einer knallharten Politik zu tun, einer „strukturellen Anpassung“, die den Normen und dem Diktat des Marktes unterworfen ist, von der EU beschlossen wurde und der sich die Regierung Zapatero wie ein Vasall unterwirft.

Die einzige Korrektur, die Sinn macht, besteht in der Veränderung der Grundlagen von Wirtschaft und Politik, darin, sich von den „Märkten“ zu lösen und von dieser Position aus den Angriffen zu trotzen. Dafür fehlt noch ein wirksames soziales Netz, ein Subjekt, das sich von unten her aufbaut. Oder anders gesagt: Es fehlt ein Bündnis, in dem die soziale und politische Linke für eine längere Zeit des Widerstandes und des Erlernens neuer Aktions- und Organisationsformen zusammenfindet. Um hier voranzukommen, muss eine „Linke links der Linken“ gestärkt werden, die mit der heutigen Politik der institutionellen Linken bricht, einem schlimmen Erbe der Übergangszeit. [4]

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Hat ein neuer politischer Zyklus begonnen? Im Moment ist dafür die Möglichkeit gegeben. Also muss der Beginn möglich gemacht werden. Wir haben alles erreicht, worin wir Vertrauen hatten und was wir für diesen Streik gemacht haben. Bestimmt die einen mehr, die anderen weniger. Jene, die meinen, aus diesem Streik mit politischer Autorität und gestärkt hervorgegangen zu sein, in erster Linie die Comisiones Obreras, wären gut beraten, wenn sie sich etwas umsehen und erkennen würden, dass sie nicht die einzigen waren, schon gar nicht in den Streikposten. Und wenn sie zur Kenntnis nehmen würden, dass die Koexistenz von Leuten aus verschiedenen politischen Strömungen in den Streikposten viel einfacher war, als dies die Zusammenstöße zwischen den Organisationen vermuten lässt. Mit dem 29. September bietet sich jedenfalls seit 20 Jahren zum ersten Mal auch die Gelegenheit, dass eine gewerkschaftliche, pluralistische, radikale und einheitliche Linke entsteht, die sich in den täglichen Kämpfen mit den sozialen Bewegungen verbindet.

      
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Es ist auch ein neuer, größerer Spielraum für die antikapitalistische Linke entstanden wie für viele andere organisierte und unorganisierte Aktivistinnen und Aktivisten. Jetzt geht es darum, sich ehrgeizig und gleichzeitig bescheiden in Bewegung zu setzen. Der Schlüssel der Zukunft liegt in der Fähigkeit, Einheit in der Aktion zu erreichen und diese Arbeit mit antikapitalistischen Forderungen zu kombinieren, die den gegenwärtigen Tageskämpfen entsprechen. Entscheidend ist jetzt auch, sich mit all jenen Menschen zu verbinden, die bei den Demos zur Überzeugung gekommen sind, dass weitere Streiks notwendig sind, dass diese gut vorbereitet und gut durchgeführt werden müssen und dass sie mit Sicherheit breiter und stärker sein werden als der Streik vom 29. September.

30. September 2010
Miguel Romero ist verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift Viento Sur
Übersetzung: Ursi Urech



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 468/469 (November/Dezember 2010).


[1] PSOE: Partido socialista obrero español, PP: Partido popular

[2] Strömung der Royalisten, entstanden in Spanien in der ersten Hälfte des 19. Jh.

[3] Confederación General de Trabajo, Minderheitsgewerkschaft, aber sehr aktiv, selbstverwaltet, auf Klassenpositionen; sie ist aus einer Abspaltung von der anarchistischen CNT entstanden.

[4] Nach dem Ende der Franco-Diktatur Übergang zu einer Zweiparteiendemokratie unter einem tendenziell bonapartistischen König.