Fred Borras
Die Einbringung der von Woerth [1] und Sarkozy gestrickten Rentenreform hat zu einer der umfassendsten sozialen Protestbewegungen geführt, die das Land seit langem erlebt hat. Vergleichbar damit waren allenfalls die Proteste im Winter 1995 und im Frühjahr 2003, die sich gleichfalls gegen die Rentenreformpläne durch die Regierungen Juppé [2] bzw. Fillon [3] richteten. Obwohl die Bewegung noch nicht vollends abgeebbt ist, lassen sich bereits heute einige Schlussfolgerungen ziehen.
Obwohl Sarkozy diese Reform im Wahlkampf nicht auf seiner Agenda gehabt und auch danach noch an seinem Versprechen festgehalten hatte, an dem gesetzlichen Rentenmindestalter von 60 nicht rühren zu wollen, hat er eine Kehrtwendung vollzogen. Sein Gesetzesentwurf, der uneingeschränkt im Parlament abgesegnet wurde, sieht in erster Linie vor, das Eintrittsalter auf 62 Jahre hochzusetzen, die volle Rente erst ab 67 statt ab 65 zu gewähren und die Beitragsdauer für die abschlagsfreie Zahlung von 40 auf 43 Jahre zu verlängern.
Um diese einschneidenden Maßnahmen zu rechtfertigen, hat sich die Regierung ein simples Argument zurechtgelegt, nämlich dass die höhere Lebenserwartung das französische Rentensystem auszuhebeln droht. Das vorgeschobene Ziel, die Rettung des umlagefinanzierten Systems, kaschiert nur mühsam, dass in Wahrheit eben dies System abgeschafft werden soll. Die Lobby, die in Frankreich ein durch Kapitalfonds gedecktes Rentensystem einführen will, liegt da näher bei der Wahrheit. Der Versicherungskonzern Malakoff Méderic, in dessen Spitze Präsidentenbruder Guillaume Sarkozy – zugleich einer der führenden Vertreter der Medef [4] – höchstselbst vertreten ist, hat sich gezielt für die Rentenreform stark gemacht und bereitet sich darauf vor, massenhaft Versicherungen unter das Volk zu bringen. Während der gesamten Protestaktionen haben zigtausend Staatsbeamte Mails von der Prefon erhalten, einer Versicherungsanstalt, die Verträge zur Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst anbietet.
Das umlagebasierte Rentensystem in Frankreich ist eine der Säulen der Sozialversicherung, das mit dem Ende der Naziokkupation als Errungenschaft jahrzehntelanger sozialer Kämpfe geschaffen wurde. Da es auf Solidarität beruht, ist es in den Augen der Bourgeoisie ein Anachronismus und mit dem Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung nicht vereinbar. Aus der Sicht der herrschenden Klassen ist die Zerstörung dieser Überreste eines Solidarsystems gleichbedeutend mit der Freisetzung „schlummernder“ Profitpotenziale. Niemand zweifelt daran, dass dieser Angriff auf die Rentenversicherung Teil einer Gesamtstrategie ist, die auch die Pflege- und Krankenversicherung im Visier hat und somit eine umfassende Offensive gegen die soziale Sicherung darstellt, die ohnehin schon wiederholt geschröpft worden ist. Inmitten der Wirtschaftskrise fügt sich dies in eine Austeritätspolitik, die auf eine „Entschlackung“ des Systems zur Widerherstellung der Profitraten abzielt.
Schluss machen mit der „Ausnahmestellung Frankreichs“ heißt, die Gesellschaft dieses Landes umzugestalten, um sie an den Rest der entwickelten kapitalistischen Welt anzugleichen und die Profite zu mehren. So lautet das Ziel, das sich die Bourgeoisie gesteckt hat, und dies ist der politische Leitfaden der willfährigen Regierung.
Diese Reform hätte auch im Regierungskabinett in aller Stille durchgehen können. Dass dem nicht so war, sondern Lärm und Getöse hervorgerufen hat, war ein erster Sieg für uns als eingeschworene Verfechter des Klassenkampfs. Es war auch insofern ein erster Sieg, als alle, die sich überall auf der Welt weigern, die Zeche für die Krise zu zahlen, ihre Wut hörbar und ihre Kampfbereitschaft sichtbar machen müssen. Klar vor Augen, was auf dem Spiel steht, aber ohne Garantie über die Aussichten, diese wild entschlossene Regierung in die Knie zwingen zu können, haben sich Millionen von ArbeiterInnen und Jugendliche aufgelehnt. Die Beteiligung an den Streiks und Demonstrationen wuchs mit jedem Mal, auch wenn die Regierung zu Lügen griff, um die Zahlen herunter zu spielen. Laut Le Monde haben insgesamt acht Millionen Menschen mindest einmal an den Demonstrationen teilgenommen. Dies ist einfach überwältigend in einem Land mit 65 Millionen Einwohnern. Die auf diesem Weg zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des Regierungsvorhabens wurde in zahlreichen Meinungsumfragen bestätigt. Auch die Dauer der Bewegung ist recht außergewöhnlich, da bereits die ersten Aktionstage im Mai und Juni durch ihre breite Beteiligung überrascht hatten und die Bewegung in der einen oder anderen Form sogar über die endgültige Verabschiedung des Gesetzes hinaus angedauert hat.
Begleitet wurden diese Demonstrationen von unbefristeten Streiks, an denen Hunderttausende von ArbeiterInnen und Jugendlichen teilnahmen. Betroffen waren dabei die Häfen, die Ölraffinerien, der Zugverkehr, die Müllabfuhr in Großstädten wie Marseille oder Toulouse, die Verwaltung etlicher Gebietskörperschaften und Zehntausende von Jugendlichen, besonders an den Gymnasien. Diese Streiks wurden verzahnt mit einer wachsenden Zahl von Blockaden, bei denen Flughäfen, Bahnhöfe, Industrie- und Handelszonen und Straßenkreuzungen von entschlossenen DemonstrantInnen lahmgelegt wurden. Das Ziel war dabei, die Mobilisierung weiter zuzuspitzen, die Belegschaften, die im unbefristeten Streik standen, zu unterstützen und die Wirtschaft und damit die Unternehmergewinne zu treffen. Sowohl qualitativ als auch vom Ausmaß her stellten solche Aktionen etwas völlig Neues dar und trugen dazu bei, die Schranken zwischen den aktiven GewerkschafterInnen der verschiedenen Verbände aufzuheben und die Einheit zwischen den einzelnen Organisationen sowie die Solidarität unter den ArbeiterInnen und der Jugend voranzutreiben.
Die Regierung hat viel unternommen, um die Unzufriedenheit zu dämpfen. Ihre „pädagogischen“ Bemühungen waren allerdings nicht sehr wirkungsvoll und eher plumpe Manöver. Die missglückten Versuche, die Aufmerksamkeit auf die angebliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder die Roma, die den Sommer über massiv verleumdet wurden, zu lenken und die Angst vor Kriminalität und Attentaten zu schüren, um der Repression Vorschub zu leisten, waren ein Schlag ins Wasser und haben nur den Verfall des Ansehens befördert.
Obwohl die Bewegung den Mächtigen das Handwerk erheblich erschwert und zu ihrer Schwächung und Diskreditierung beigetragen hat, hat sie die Reform nicht verhindern können. Daher drängt sich eine Debatte über die geeignete Strategie auf.
In Anbetracht der Tragweite der Angriffe der Regierung und ihrer Entschlossenheit, sich durchzusetzen hätte die Gegenwehr viel stärker ausfallen müssen. Man hätte das ganze Land lahmlegen müssen, statt sich darauf zu beschränken, einzelne Wirtschaftssektoren wechselnd zu blockieren. Dafür hätte es eines unbefristeten Generalstreiks bedurft.
Obwohl Zehntausende von ArbeiterInnen und Jugendlichen sich ausdrücklich dafür eingesetzt haben, die Mobilisierung auf die Allgemeinheit auszudehnen, kam dies nicht zustande. Obwohl die Ablehnung, die den Mächtigen und ihrer Politik entgegen schlägt, offenkundig sehr viel stärker ist als 1995 und obwohl die Beteiligung an den Aktionstagen massiver [5] war, sind die unbefristeten Streiks schwächer ausgefallen. Dafür gibt es mehrere Gründe, die eng miteinander zusammenhängen. Zunächst einmal war das Zutrauen, sich durchsetzen und die Rücknahme des Gesetzesentwurfs erzwingen zu können, zu gering. Die Last vergangener Niederlagen schlug in einigen Sektoren diesbezüglich negativ zu Buche. Hinzu kamen die zunehmende Zersplitterung der Arbeiterklasse, die drückende Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, die unsicheren Zukunftsperspektiven und die Schwierigkeiten, mit dem Geld über die Runden zu kommen. Man muss bedenken, dass die Verschuldung der Haushalte heute um 10% höher liegt als 1995. Um über diesen Aspekt hinwegzugehen, müssen Millionen von ArbeiterInnen fest davon überzeugt sein, dass der Streik weniger in ihr Portemonnaie greift als die Folgen einer Niederlage. Dafür bedarf es der Gewissheit, dass ein Sieg in Reichweite ist.
Weiterhin spielt die Haltung der Gewerkschaftsführung der großen Verbände eine Rolle. Auf nationaler Ebene stand die Gewerkschaft Solidaires, [6] die von Anfang bis Ende für den Generalstreik eingetreten ist, mit ihrer Position allein da. Aber weder die Führung der wichtigsten Gewerkschaft, der CGT, [7] noch erst recht die der zweitgrößten, der CFDT, [8] sind aus diesem Holz geschnitzt und beseelt von dieser Radikalität und dem Willen, den Kampf so auf die Spitze zu treiben, dass die Mächtigen aufgrund der Kräfteverhältnisse zum Rückzug gezwungen werden. Ihrem Naturell entsprechen der „soziale Dialog“, die Verhandlungen und der Kompromiss. Dass trotz dieser Divergenzen und dem Konkurrenzgebaren der Bürokraten eine Einheit zustande kam und sich so lange halten konnte und immer neue Mobilisierungsaufrufe kamen, lag zuvörderst an der Haltung der Regierung, die keinerlei Zugeständnisse zu irgendeinem Moment machen wollte. Und dies obwohl es nicht an ausgestreckten Händen seitens Thibaults und Chérèques, den Vorsitzenden der CGT bzw. der CFDT, gemangelt hat und sie die Aufnahme von Verhandlungen gefordert haben, ohne jemals die Rücknahme der Reform zu verlangen. Ein weiterer Grund war der Druck seitens der Basis. Bereits bei den ersten Mobilisierungen zeigte sich, dass eine außerordentliche Kampfbereitschaft vorhanden war und dass die Gewerkschaftsgliederungen nach vorne drängten, auch weil ihnen bewusst war, dass ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stand und sie ihren Nutzen und ihre Funktionsfähigkeit beweisen mussten. Um zu beweisen, dass die Schlacht keineswegs geschlagen ist, gaben sich örtliche Gewerkschaftskoordinationen, bspw. in den Departements Puy de Dôme, Haute Garonne oder Ardennes, immer kämpferischer, weiteten die Blockaden in branchenübergreifenden Aktionen immer weiter aus und führten zusätzlich zu den landesweit ausgerufenen Streiktagen regionale Streiks durch. Dass diese gleichfalls Resonanz fanden, zeigt, dass man durchaus hätte weiter gehen können.
Eine weitere Schwäche der Bewegung lag in dem geringen Grad der Selbstorganisation der Kämpfe. Dort wo die härtesten Kämpfe stattfanden, war dies den Gewerkschaftskoordinationen der Einzelbetriebe zu danken, die Druck gemacht und zugleich die Rhythmen und Formen der Mobilisierung bestimmt haben. Die schwache Beteiligung an den Vollversammlungen, in denen über die Fortsetzung der Streiks entschieden und Aktionen organisiert wurden, stand durchwegs im Gegensatz zu der massenhaften Beteiligung an den tageweise stattfindenden Streiks und Demonstrationen. Dadurch war es unmöglich, die Kämpfe aus dem Zwangskorsett zu befreien, in das sie durch die landesweite Gewerkschaftskoordination und – auf Branchen- und Unternehmensebene – den viel zu ängstlichen Gewerkschaftsfunktionären vor Ort eingezwängt waren.
Dessen ungeachtet haben die Gewerkschaften durch diese Mobilisierung ganz offenkundig Zulauf erhalten. In erster Linie die CGT, aber auch Solidaires und die FSU [9] haben Mitglieder gewonnen. Es sind Gruppen radikaler junger Gewerkschaftskader und somit ein Faustpfand für die Zukunft entstanden.
Bemerkenswert ist, dass den Gewerkschaften seitens der Bevölkerung über ihre Rolle als Interessensvertreter der Lohnabhängigen hinaus eine Funktion als politische Opposition gegen die Rechte an der Regierung zuerkannt wurde. Dies nimmt nicht Wunder, wenn man die angeschlagene Glaubwürdigkeit der großen parlamentarischen Oppositionsparteien und in erster Linie der Sozialistischen Partei bedenkt. Diese war bemüht, die Abneigung gegen die Rechte für sich zu kapitalisieren und Pluspunkte in Hinsicht auf einen Regierungswechsel 2012 [10] zu sammeln. Die Spitzenfunktionäre der PS waren auf den Demonstrationen ganz vorne in den Reihen der Sozialdemokraten vertreten. Die Vorstellung, dass eine breite Front der gesamten Linken aus Parteien, Gewerkschaften und Verbänden gegen die Rechte entstehen könnte, gab der Bewegung Auftrieb. Zugleich jedoch erwies sich als Manko, dass die inhaltlichen Differenzen der PS mit der Regierung im Grunde nicht sehr groß sind. Sarkozy, Fillon und Woerth haben es sich dann auch nicht nehmen lassen, diese Doppelbödigkeit anzuprangern und dabei den IWF-Vorsitzenden und potenziell künftigen Präsidentschaftskandidaten der PS, Dominique Strauss Kahn als Befürworter der Rentenreform zu zitieren. Es fiel ihnen auch nicht schwer, die Widersprüche innerhalb der PS herauszustreichen, deren Parteivorsitzende Martine Aubry den faux-pas begangen hat, erst der Verschiebung des Rentenbeginns auf 62 zuzustimmen und anschließend ihre Position wieder zurückzunehmen. Die PS hat nie die Rücknahme des Gesetzesentwurfs gefordert oder dargelegt, wie eine Alternative beschaffen sein könnte, nämlich über eine Verteilung des Reichtums. Aus gutem Grund! Es wäre ja. einem Schuldeingeständnis gleichgekommen, bedenkt man das Abstimmungsverhalten der PS-Parlamentarier über die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich der Verlängerung der Beitragsdauer. Manche PS-Granden haben diese Logik konsequent weiter verfolgt. In Marseille bspw., das als die „Hauptstadt der Streiks“ erschien, hat Guerini, der führende Vertreter der PS vor Ort, gemeinsam mit dem rechten Bürgermeister Gaudin dazu aufgerufen, den Streik zu beenden …
Das ändert nichts daran, dass zahlreiche Mitglieder und Sympathisanten der PS sich an der Bewegung beteiligt haben, mit ihnen diejenigen aus anderen linken Parteien wie der Front de gauche, [11] Lutte ouvrière und der NPA. Die auf Initiative von Attac und Fondation Copernic [12] zustande gekommene gemeinsame Veranstaltungsreihe bot all diesen Kräften ein einheitliches Forum, um gegen das Gesetz zu argumentieren und für Alternativen zu den neoliberalen Antworten auf die Krise zu werben.
Aber auch Divergenzen kamen zum Vorschein. Als die Losung des Generalstreiks zur Schlüsselfrage wurde, setzten sich die Führer der Front de gauche und an erster Stelle Jean-Luc Mélenchon vehement für eine Volksabstimmung über die Reform ein. Dies war nicht nur als Ziel aus verschiedenen Gründen unrealistisch, sondern zeugt auch von den grundlegenden Divergenzen mit dieser antineoliberalen und reformistischen Strömung, die in Frankreich einen gewissen Wiederaufschwung erfährt. Mitten in einer umfassenden politischen und sozialen Krise suchen die Führer der Front de gauche das Heil in den Institutionen des Staates. Dieses politische Verständnis beruht auf einer Art Aufgabenteilung: die Gewerkschaften sollen den Fahrplan der Mobilisierungen festlegen und die Parteien sind zuständig für eine politische Lösung.
Wir auf Seiten der NPA wissen durchaus, dass Parteien und Gewerkschaften unterschiedliche Funktionen haben und dass diese beiden Organisationsformen ihre jeweiligen Besonderheiten und Nützlichkeit haben. Trotzdem lehnen wir diese mechanische und von der politischen Aktivität abgekoppelte Sichtweise ab. Was gibt es denn Politischeres als das Hereinbrechen der Massen? Was will man Besseres erreichen, als dass die Mehrheit der Bevölkerung ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt? Ein Ja zum Generalstreik weist erstens die geeignete Methode, um siegen zu können, fördert zweitens die Zuspitzung der politischen Krise und eröffnet drittens Lösungswege, die Regierung zu stürzen und ihre Politik zum Scheitern zu bringen. Wenn sich eine solche Perspektive anbietet und bei Hunderttausenden von kämpfenden ArbeiterInnen auf Resonanz stößt, dann muss man sie wahrnehmen. Auch wenn diese Formel nicht als zeitloses Ritual beschworen werden darf, so ist es doch die zuverlässigste Strategie, um die Gesellschaft zu revolutionieren. Und es ist eine Strategie, die durch die Erfahrungen, die sich aus der Analyse der laufenden Klassenkämpfe ergeben, einer ständigen Überprüfung und Verfeinerung unterworfen ist. Insofern fließen beim Generalstreik zwei Aspekte zusammen: Zum einen dient er der Vorbereitung – geduldig, aber beharrlich – auf die Konfrontation zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der Minderheit der Privilegierten; zum anderen ist er Forum und Praxistest zugleich für alle Theorien, die sich strikt gegen eine bloße Umorganisation des Systems wenden und die die Umrisse einer anderen Gesellschaftsform antizipieren wollen. Ohne die Trageweite übertreiben zu wollen, stellt die Tatsache, dass eine breite Bevölkerungsmehrheit bereit wäre, ein System auf der Grundlage von Solidarität zu vertreten, einen politischen Sieg in der fünftgrößten kapitalistischen Macht der Erde dar. Denn die Regierung hat zwar auf der institutionellen, der legislativen Ebene gewonnen und Millionen von Lohnabhängigen, die unter ihrer Politik zu leiden haben, zum Rückzug gedrängt, aber es ist ihr nicht gelungen, davon zu überzeugen, dass ihre Politik die einzig mögliche ist – zwar nicht sehr berauschend, aber doch im allgemeinen Interesse. Somit hat sie die Meinungsschlacht verloren, was in diesen Zeiten der Krise eine wertvolle Errungenschaft gewesen wäre.
Die Rechte an der Regierung hat sich diskreditiert und kompromittiert in den Augen der ArbeiterInnen, die die Wahlversprechen Sarkozys geglaubt und sich von der Wahlkampfparole „mehr Arbeit schafft mehr Verdienst“ hatten einschläfern lassen. In ihren Augen ist Sarkozy nicht mehr der „Präsident der Kaufkraft“, sondern der der Reichen. Die Affäre Woerth-Bettencourt hat zu diesem Vertrauensverlust viel beigetragen und zugleich einen Grund mehr geliefert, auf die Straße zu gehen. Während der Sozialminister das Volk auffordert, den Gürtel noch enger zu schnallen, kriecht er mit den Superreichen dieses Landes unter eine Decke. Und dieser Geruch von Korruption und Klientelismus und das Luxusgebaren sind der Popularität nicht eben zuträglich. Obendrein erzeugt die Persönlichkeit von Sarkozy selbst einen tiefgreifenden und heftigen Widerwillen. Dies will noch nicht besagen, dass seine Wahlniederlage 2012 bereits besiegelt ist. Aber diejenigen, die seinen Verbleib an der Regierung nicht mehr hinnehmen können, sind beträchtlich mehr geworden.
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Eine Bewegung lebt auch von ihrer Unterschiedlichkeit. Unter den Demonstranten im Herbst gibt es auch einige, die das Wahljahr 2012 abwarten wollen, um Sarkozy loszuwerden und durch seinen Herausforderer seitens der PS zu ersetzen. Aber andere wiederum sehen sehr wohl am Beispiel Griechenlands, Spaniens oder Portugals, dass die Sozialdemokratie an der Macht nur eine andere Spielart darstellt, die Mehrheit der Bevölkerung die Kosten der Krise bezahlen zu lassen.
Und an diese wendet sich die NPA jetzt, wo die Bewegung dem Ende zugeht. In der Vorbereitungsphase des ersten nationalen Kongresses entsteht eine Vorlage, die – ausgehend von der zugleich ökonomischen und ökologischen Krise des kapitalistischen Systems von bisher einzigartigem Umfang – Antworten zu formulieren versucht, die über diese Krise hinausreichen. Auf unserer letzten CPN-Sitzung (nationales Führungsgremium) haben wir zu einer gemeinsamen Diskussion über die antikapitalistische Alternative aufgerufen. Diese Debatte betrifft nicht nur politisch organisierte Kräfte sondern auch die Zehntausende von ArbeiterInnen und Jugendlichen, die auf der Suche nach einer Alternative zur Politik der Rechten und der institutionellen Linken sind. Um eine andere Perspektive zu eröffnen, ist die unabdingbare Voraussetzung, dem sozialdemokratischen Sirenengeheul den Rücken zu kehren und sich nicht zum x-ten Mal in die Sackgasse einer neuaufgelegten Regierungskoalition mit der PS zu verrennen. Die NPA will dazu beitragen, dass die entsprechenden Rahmenbedingungen für eine solche Debatte geschaffen werden, um die Vorbereitung auf die kommenden Kämpfe und das konkrete Konzept einer antikapitalistischen Alternative aus den verschiedenen Blickwinkeln zu diskutieren.
Toulouse, 23.11.2010 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 470/471 (Januar/Februar 2011).