Die derzeitige gesellschaftspolitische Situation in Venezuela ist zerrissen, tief zerrüttet und höchst chaotisch.
Emiliano Terán Mantovani
Es ist unmöglich, die derzeitige Krise in Venezuela zu verstehen, ohne den Zusammenhang einiger Faktoren, die sich „im Inneren“ abspielen und von den großen Medien nicht erklärt werden, zu analysieren. Wir stellen sieben Schlüsselfaktoren der aktuellen Krise vor, durch die sich herausstellen wird, dass das aktuelle Geschehen im Land nicht nachvollzogen werden kann, wenn man die Eingriffe des Auslandes nicht berücksichtigt. Zudem wird deutlich, dass der Begriff „Diktatur“ weder auf Venezuela zutrifft, noch eine regionale Besonderheit dieses Landes ist. Zugleich erläutern wir, dass der Sozialvertrag, die Institutionen und die Rahmenbedingungen der formellen Wirtschaft aus dem Ruder laufen. Die Zukunft und die politischen Auslegungen der aktuellen Situation werden mittels Gewalt gelenkt. Dies geschieht anhand einer ganzen Reihe von informellen, ungewöhnlichen und nicht offensichtlichen Mechanismen. Außerdem stellen wir fest, dass der gemeinsame Horizont beider politischer Lager neoliberal ist und das Land vor einer historischen Krise des eigenen Rentenkapitalismus steht; und dass die Gemeinden, die popularen Organisationen und die sozialen Bewegungen mit einer zunehmenden Aushöhlung des Sozialgefüges konfrontiert sind.
Der Umgang, den Venezuela in den großen internationalen Medien erfährt, ist zweifelsohne einzigartig auf der Welt. Außer Frage steht, dass es zu viel Schwarzweißmalerei, zu viele Verfälschungen, Parolen, Manipulationen und Auslassungen gibt.
Fern der törichten Darstellungen, in denen mithilfe des medialen Neusprechs alles, was im Land passiert mit Schlagworten wie „humanitäre Krise“, „Diktatur“ oder „politische Gefangene“ betitelt oder aus der heroischen Erzählweise eines Venezuela des „Sozialismus“ und der „Revolution“, die alle Ereignisse im Land als „Wirtschaftskrieg“ oder „imperialen Angriff“ interpretiert, gibt es viele Themen, Subjekte und Prozesse, die unsichtbar und weit weg, aber für die Zusammensetzung des nationalen politischen Szenario von grundlegender Bedeutung sind. Es ist unmöglich, die derzeitige Krise in Venezuela zu verstehen, ohne die Faktoren, die sich „im Inneren“ entwickeln, insgesamt zu analysieren.
Das Kriterium des Handelns und Interpretierens, das auf der „Freund-Feind“-Logik fußt, steht eher für einen Disput zwischen den Eliten der politischen Parteien und Wirtschaftsgruppen als für die fundamentalen Interessen der Arbeiterklasse und die Verteidigung der Gemeingüter. Es ist notwendig, die Entwicklung der Krise und des Konflikts umfassend zu betrachten, um so die Koordinaten für die Überwindung der derzeitigen Situation zu finden.
Wir stellen sieben Schlüsselfaktoren für ein Verständnis vor, indem wir nicht nur den Disput zwischen Regierung und Opposition, sondern auch die Entwicklung von Prozessen innerhalb der politischen Institutionen, der sozialen Strukturen und der ökonomischen Gefüge analysieren. Gleichzeitig werden die Komplexitäten des Neoliberalismus und der Staats- und Regierungsführung im Land verdeutlicht.
Die üppigen Bodenschätze des Landes, seine geostrategische Lage, seine ursprüngliche Kampfansage an die Politik im Rahmen des Konsenses von Washington, sein Einfluss auf die regionale Integration und auch die Allianzen mit China, Russland oder dem Iran: Venezuela wird eine enorme geopolitische Bedeutung beigemessen. Und trotzdem gibt es Intellektuelle und Medienschaffende, die ständig versuchen, die einfließenden internationalen Aktivitäten, die sich auf die politische Entwicklung im Land auswirken und diese bestimmen, zu ignorieren, unter denen das ständige interventionistische Handeln der US-Regierung und der verschiedenen faktischen Mächte der USA hervorsticht.
In dem Sinn machen diese Teile die Kritik am Imperialismus lächerlich und stellen die Regierung als einzigen politischen Akteur in Venezuela dar und letztlich als einzige Instanz für politische Fragen.
Von Beginn der Bolivarischen Revolution an hat sich ein starker US-Interventionismus gegenüber Venezuela entwickelt. Dieser hat sich seit dem Tod von Präsident Chávez im Jahr 2013 und vor dem Hintergrund der Erschöpfung des progressiven Zyklus und der konservativen Restauration in Lateinamerika verschärft und wurde noch aggressiver. Es sei noch einmal an den Erlass von Barack Obama vom März 2015 erinnert, mit dem Venezuela zu einer „ungewöhnlichen und außerordentlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA“ erklärt wird. [1] Was mit den Ländern passiert ist, die auf diese Weise von der Macht im Norden eingestuft wurden, wissen wir ja.
Aktuell kommt zu den aktuellen Drohungen von Admiral Kurt W. Tidd (am 6. April 2017), Befehlshaber des Südkommandos der US-Streitkräfte, wonach die „humanitäre Krise“ in Venezuela eine regionale Antwort erforderlich machen könnte) [2], und der durch die jüngsten Luftangriffe auf Syrien offensichtlich gewordenen aggressiven Außenpolitik Donald Trumps der Versuch Luis Almagros, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), zusammen mit anderen Ländern der Region die Demokratiecharta anzuwenden, um einen Prozess zur „Wiederherstellung der Demokratie“ im Land einzuleiten.
Die Ideologen und Medienakteure der konservativen Restauration in der Region zeigen sich sehr besorgt über die Lage der Menschenrechte in Venezuela, schaffen es aber nicht, in ihren Analysen zu erklären, warum komischerweise keine supranationale Anstrengung gleicher Art angesichts der entsetzlichen Krise der Menschenrechte in Ländern wie Mexiko und Kolumbien unternommen wird. Insofern ist die moralische Empörung scheinbar relativ und sie ziehen es vor zu schweigen.
Mögen dem politisch motivierte Absichten oder analytische Unzulänglichkeit zugrunde liegen: Diese Sektoren entpolitisieren die Rolle supranationaler Organisationen, indem sie die geopolitischen Kräfteverhältnisse, aus denen heraus sie gebildet werden und die Teil ihres Wesens sind, verkennen. Die eine Sache ist die paranoide Lesart sämtlicher von diesen globalen Organismen durchgeführten Operationen, und eine vollkommen andere ist eine rein verfahrensmäßige Interpretation ihres Handelns, indem man die Mechanismen internationaler Herrschaft und der Kontrolle der Märkte und der Bodenschätze ignoriert, die mit Hilfe dieser Institutionen der globalen und regionalen Steuerung gelenkt worden sind.
Man muss jedoch etwas Wichtiges hinzuzufügen. Wenn wir von Intervention sprechen, können wir nicht nur die USA erwähnen. In Venezuela nehmen die chinesischen Eingriffe in die Politik und die wirtschaftlichen Maßnahmen stetig zu. Dies führt zum Verlust der Souveränität, zu einer Zunahme der Abhängigkeit von der asiatischen Macht und der wirtschaftlichen Flexibilisierung. Ein Teil der Linken hat es vorgezogen, über diese Entwicklungen zu schweigen, da die einzig erwähnenswerte Einmischung jene der USA zu sein scheint. Diese Interventionen von außen entwickeln sich jedoch gleichermaßen, um eine transnationale Kapitalakkumulation und die Aneignung der Bodenschätze zu begünstigen, und sie haben überhaupt nichts mit den Forderungen des Volkes zu tun.
Fast von Anfang der Bolivarischen Revolution an hat man Venezuela als eine Diktatur bezeichnet. Dieser Begriff ist weiterhin Gegenstand ausführlicher Debatten der politischen Theorie, da er, vor allem in der gegenwärtigen Epoche der Globalisierung, durch die politischen Umwälzungen und die komplizierter werdenden modernen Formen der Regierung und der Ausübung von Macht überdacht werden musste. Ernsthafte Lücken und Unstimmigkeiten in seinen Definitionen sind die Folge.
Die Diktatur wird üblicherweise mit politischen Regimes oder Regierungsformen in Verbindung gebracht, in denen sämtliche Macht unbegrenzt auf eine Person oder eine Gruppe von Personen konzentriert ist; Gewaltenteilung, Freiheitsrechte, Meinungs- und Parteienfreiheit existieren nicht; mitunter ist der Begriff sogar vage als „das Gegenteil von Demokratie“ definiert worden.
Gegen Venezuela ist der Begriff im Medienjargon massenhaft und auf sehr oberflächliche, irrationale und moralisierende Weise angewandt worden. Er wurde praktisch als eine Art venezolanische Besonderheit dargestellt und das Land so von den anderen Ländern der Region unterschieden, in denen es der Theorie nach „demokratische“ Regierungen gebe.
Der Punkt ist, dass man in der aktuellen Situation in Venezuela schwer sagen kann, sämtliche Macht konzentriere sich unbeschränkt auf eine einzige Person oder eine Gruppe von Personen, da wir es mit vielen politischen Akteuren zu tun haben, die, obwohl von Hierarchien geprägt, zugleich zersplittert und unbeständig sind – vor allem seit dem Tod von Präsident Chávez. Genauso gibt es verschiedene Machtblöcke, die sich verbünden oder auch einander gegenüberstehen können und dies geht über die Zweiteilung Regierung – Opposition hinaus.
Wandgemälde 2013 [Wikimedia] |
Trotz einer Regierung mit einem bedeutenden Anteil von Militärs, gestiegenem Autoritarismus und einer bestimmten Fähigkeit zur Zentralisierung, ist das Szenario höchst beweglich. Es gibt keine totale Herrschaft von oben nach unten und es existiert eine gewisse Gleichstellung zwischen den einzelnen streitenden Machtgruppierungen. Dieser Konflikt wiederum könnte ausufern und die Lage noch chaotischer werden lassen.
Die Tatsache, dass die venezolanische Opposition die Kontrolle über die Nationalversammlung hat, die sie überzeugend bei Wahlen gewann, ist ebenfalls Ausdruck dafür, dass es statt einer fehlenden der Gewaltenteilung, vielmehr einen politischen Streit zwischen den Staatsgewalten gibt, bislang zugunsten der Kombination Exekutive – Judikative.
Wir stehen eher einem breiten und konfliktgeladenen Geflecht verschiedener Kräfte gegenüber, als dass von einem einheitlichen politischen Regime gesprochen werden kann. Die wuchernde Korruption trägt auch dazu bei, dass die Machtausübung sich noch weiter dezentralisiert oder ihre Zentralisierung durch die Staatsmacht erschwert wird.
Was allerdings mit dem römischen Konzept einer Diktatur zu tun hat, ist, dass die venezolanische Regierung mittels Dekreten und speziellen Maßnahmen im Rahmen eines erklärten „Notstandes“ regiert, der seit Anfang 2016 in Kraft ist. Im Namen des Kampfes gegen den Wirtschaftskrieg, gegen die Zunahme der Kriminalität und des Paramilitarismus und das subversive Vorgehen der Opposition werden viele institutionelle Mediationen und demokratische Verfahren übergangen. Aufgrund ihrer Tragweite stechen vor allem sicherheitspolitische Maßnahmen hervor, wie etwa die Operation zur Befreiung des Volkes (OLP). Sie besteht aus direkten konfrontativen Interventionen der staatlichen Sicherheitskräfte in verschiedenen Territorien des Landes (ländliche, städtische, Barrios am Stadtrand), um „das Verbrechertum zu bekämpfen“, und ihre Bilanz an Todesfällen steht in der Kritik; das Aussetzen des Referendums über eine Abwahl des Präsidenten; die Verschiebung der Gouverneurswahlen 2016, bei denen noch immer unklar ist, wann sie durchgeführt werden; ein Anstieg der Repression und exzessives Vorgehen der Polizei angesichts der sozialen Unzufriedenheit, die Produkt der Situation im Land ist; und zunehmende Militarisierungsprozesse, vor allem an der Grenze und in den Gebieten, die wegen ihrer Bodenschätze als „strategisch wichtig“ erklärt wurden.
Das ist die politische Landschaft, die zusammen mit den verschiedenen Formen ausländischer Einmischung das Szenario für einen Krieg niederer Intensität schafft, der praktisch alle Bereiche des alltäglichen Lebens der Venezolaner durchzieht. Dies ist also der Rahmen, in dem sich die individuellen Freiheitsrechte, die Opposition und Parteienvielfalt, der Aufruf zu und die Durchführung von Protestmärschen, Äußerungen von Uneinigkeit und Kritik in den Kommunikationsmedien und andere Formen mehr der sogenannten Demokratie in Venezuela entfalten.
Wenn es etwas gibt, das als Besonderheit des Falles Venezuela definiert werden könnte, dann, dass das derzeitige gesellschaftspolitische Szenario zerrissen, tief korrumpiert und höchst chaotisch ist. Wir haben behauptet, dass das Land vor einer der schwersten institutionellen Krisen in ganz Lateinamerika [3] steht, und nahmen dabei Bezug auf die Gesamtheit der juristischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen, welche die Republik Venezuela bilden.
Im Wirtschaftsbereich hat Die historische Krise des Ölrenten-Modells, die grassierende Korruption im Land, tiefe Risse im Sozialgefüge seit der „neoliberalen Periode“ und speziell seit 2013, und die Intensität der politischen Attacken und Auseinandersetzungen haben zusammen die Rahmen der Institutionen in sämtlichen Gesellschaftsbereichen gesprengt und ein Großteil der sozialen Entwicklungen wurde mittels informeller, versteckter oder illegaler Mechanismen gesteuert.
Im Wirtschaftsbereich hat sich die Korruption zu einem durchgehenden Mechanismus entwickelt, der gleichzeitig der Motor für die Verteilung der Öleinnahmen ist. Enorme Summen an Devisen werden nach Ermesssen einiger Weniger umgeleitet und somit das Fundament der formellen Rentenökonomie untergraben. Hauptsächlich geschieht das über die PDVSA [4], das bedeutendste Industrieunternehmen des Landes, und über wichtige Fonds wie den China-Venezuela-Fonds oder zahlreiche verstaatlichte Unternehmen.
Der Kollaps des formellen Wirtschaftssektors machte aus dem informellen praktisch einen der „Motoren“ der gesamten nationalen Wirtschaft. Die Quellen sozialer Chancen, sei es sozialer Aufstieg oder höhere Verdienstmöglichkeiten, sind häufig im sogenannten Bachaqueo [5] von Lebensmitteln (illegaler Handel zu Höchstpreisen auf dem Schwarzmarkt) [6] und anderen Formen von Geschäften auf den verschiedenen Parallelmärkten zu finden, wie Devisen, Medikamente, Benzin etc.
Im politisch-juristischen Bereich mangelt es dem Rechtsstaat an Respekt und Anerkennung seitens der wichtigsten politischen Akteure. Sie erkennen sich gegenseitig nicht nur nicht an, sondern reizen alle verfügbaren politischen Spielräume aus, um auf Biegen und Brechen den jeweils anderen zu besiegen. Die venezolanische Regierung konfrontiert jene, die sie für „feindliche Kräfte“ hält, mit Schock- und Sondermaßnahmen, während Gruppen des reaktionärsten Flügels der Opposition gewalttätige Konfrontationen, Aktionen des Vandalismus oder Angriffe auf die Infrastruktur durchführen. In diesem Szenario ist der Rechtsstaat stark untergraben worden und dies macht die venezolanische Bevölkerung sehr verwundbar.
Die Straffreiheit nimmt immer mehr zu und hat sich mittlerweile auf alle Bereiche der Bevölkerung ausgebreitet. Das trägt nicht nur dazu bei, dass sich die Korruption unaufhaltsam weiter einnistet, sondern beinhaltet auch, dass das Volk nichts mehr vom Rechtssystem erwartet und es zunehmend in die eigenen Hände nimmt.
Der Zusammenbruch des Sozialvertrages schafft in der Bevölkerung die Tendenz des „Rette sich, wer kann“. Die Zersplitterung der Macht hat ebenfalls dazu beigetragen, dass sich diverse territoriale Machtgruppierungen gebildet haben, wachsen und erstarken, wie zum Beispiel die „Bergbaugewerkschaften“, die mit Waffen Goldminen im Bundesstaat Bolívar kontrollieren, oder kriminelle Banden, die Gebiete in Caracas wie etwa El Cementerio oder La Cota 905 [7] beherrschen.
Der geschilderte Rahmen bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass sich die Zukunft und die politischen Bestimmungen der aktuellen Situation im Land zu einem guten Stück auf dem Weg der Gewalt entwickeln.
Der Absturz der internationalen Ölpreise war entscheidend in der Entwicklung der Krise in Venezuela, aber er ist nicht der einzige Faktor, der den Prozess erklärt. Seit den 1980er-Jahren gibt es immer stärkere Erschöpfungssymptome des Akkumulationsmodells, das auf der Ölförderung und der Verteilung der daraus generierten Einkünfte basiert. Die aktuelle Phase der Chaotisierung der Wirtschaft (2013 bis heute) ist auch ein Produkt der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen 30 Jahre im Land. Warum?
Es gibt mehrere Gründe dafür. Ungefähr 60 Prozent des venezolanischen Erdöls sind Schweröl oder Schwerstöl. Diese sind aus wirtschaftlicher Sicht kostspieliger und erfordern für ihre Weiterverarbeitung, um vermarktet werden zu können, einen höheren Arbeitsaufwand und Energieverbrauch. Die Rentabilität des Geschäftes, von dem das Land zehrt, geht gegenüber früheren Zeiten, als herkömmliches Öl überwog, zurück. Gleichzeitig fordert dieses Modell immer mehr der Einnahmen und immer mehr Sozialinvestitionen, nicht nur um die Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung zu bedienen.
Die extreme Konzentration der Bevölkerung in den Städten (mehr als 90 Prozent) fördert den Gebrauch der Einkünfte im Wesentlichen für den Konsum (von importierten Waren) und sehr wenig für Produktives. Die Boom-Zeiten befördern den (primären) extraktiven Sektor – die Auswirkungen der sogenannten „Holländischen Krankheit“ – was wiederum den sowieso schon schwachen produktiven Sektoren merklich schadet. Nach dem Ablauf einer solchen Aufschwungphase (wie Ende der 70er-Jahre und seit 2014 erneut) ist die Wirtschaft noch abhängiger und gegen neue Krisen noch weniger gewappnet.
Die sozio-politische Korruption des Systems ermöglicht ebenso Kapitalflucht und betrügerische Verschiebung der Einnahmen, was die Entwicklung einer vernünftigen Verteilungspolitik verhindert, um die Krise zu lindern.
Protest gegen Maduro [Foto: Joxemai] |
Zunehmende Schwankungen der internationalen Ölpreise haben ebenso weitreichende Auswirkungen auf die Wirtschaft Venezuelas wie die Veränderungen im globalen Machtgefüge hinsichtlich des Erdöls (zum Beispiel verliert die OPEC zunehmend an Einfluss).
Während dieses ganzen ökonomischen Auf und Ab werden die ökologischen Ressourcen weiter abgegraben und aufgebraucht, was in der Gegenwart und Zukunft die Lebensgrundlagen von Millionen Venezolanern bedroht. Die aktuelle Lösung, die die Regierung vorantreibt, ist eine deutliche Erhöhung der Auslandsverschuldung, eine rückläufige Verteilung der Ölrente an die Bevölkerung, die Ausweitung der Rohstoffförderung und die Begünstigung ausländischen Kapitals gewesen.
Zusammengefasst: Welche politische Elite auch immer in den kommenden Jahren regiert, sie wird so oder so den historischen Grenzen gegenüberstehen, die mit dem alten Ölrenten-Modell erreicht wurden. Es wird nicht ausreichen, auf einen Glückstreffer zu hoffen, auf dass die Ölpreise wieder steigen. Es werden Veränderungen großen Ausmaßes kommen und man muss auf sie vorbereitet sein.
Im Land entwickelt sich gerade ein zunehmender Anpassungs- und Zersplitterungsprozess der Wirtschaft, wobei vorherige Kapitalregulierungen und -beschränkungen flexibilisiert werden. Dabei werden die zuvor in der Bolivarischen Revolution erreichten sozialen Fortschritte allmählich demontiert. Diese Änderungen treten maskiert im Namen des Sozialismus und der Revolution auf, stellen aber eine Politik dar, die von der Bevölkerung immer mehr abgelehnt wird.
Politische Maßnahmen wie die Gründung von Sonderwirtschaftszonen stechen hervor. Sie stellen umfassende Öffnungen von Teilen des Staatsgebietes dar und damit wird die Souveränität an ausländisches Kapital und Investoren übergeben, die praktisch ohne Schranken in diesen Zonen operieren können. Es handelt sich um eine der neoliberalsten Maßnahmen seit der „Agenda Venezuela“, die auf Empfehlung des Internationalen Währungsfonds in den 1990er Jahren von der Regierung Rafael Calderas vollzogen wurde.
Es gibt noch weitere Beispiele dafür: die stufenweise Flexibilisierung der Abkommen mit ausländischen Ölgesellschaften im Orinoco-Gürtel; die Freigabe der Preise einiger Grundbedarfsgüter; die zunehmende Ausgabe von Staatsanleihen; die Abwertung der Währung, indem eine Art frei schwankender Wechselkurs geschaffen wurde (Simadi); die Billigung einiger direkt in US-Dollar getätigter Handelsgeschäfte, beispielsweise in der Tourismusbranche; oder die zuverlässige Begleichung der Auslandsschulden und Leistungen, was eine Senkung der Importe und somit Probleme der Knappheit bei Artikeln des Grundbedarfs mit sich bringt.
Die Wiederbelebung der flexibilisierten Rohstoffförderung wird angeschoben, man zielt auf die neuen Grenzen der Förderung. Besonders mit dem Megaprojekt Arco Minero del Orinoco, das auf einem Gebiet von 111 800 Quadratkilometern einen gigantischen Bergbau nie zuvor gekannten Ausmaßes entstehen lassen soll, was die Existenzgrundlagen der Venezolaner und vor allem der indigenen Völker bedroht. Diese Projekte verfestigen zudem langfristig die Abhängigkeit von den Schemata, die der Extraktivismus schafft. [8]
Zu betonen ist, dass diese Reformen verbunden sind mit der Aufrechterhaltung einiger Sozialhilfepolitiken, stetigen Erhöhungen der nominalen Löhne, einigen Zugeständnissen hinsichtlich der Forderungen der Basisorganisationen und einem revolutionären und antiimperialistischer Diskurs. All dies zielt offensichtlich vor allem darauf ab, die verbliebene Unterstützung bei den Wahlen aufrechtzuerhalten.
Gegenwärtig erleben wir also einen „mutierten Neoliberalismus“, wie wir ihn nennen, insoweit Formen der Kommerzialisierung, Finanzialisierung und der Deregulierung mit Mechanismen staatlicher Interventionen und Sozialhilfe kombiniert werden.
Ein Teil der Linken war sehr darauf fokussiert, konservative Regierungen an der Macht zu verhindern, um so die „Rückkehr zum Neoliberalismus“ zu vermeiden. Sie vergessen dabei jedoch zu erwähnen, wie auch progressive Regierungen verschiedene selektive, abgeänderte und gemischte Maßnahmen mit neoliberalem Profil vorangetrieben haben, die letztlich dem Volk und der Natur schaden. [9]
Der rechtsgerichtete Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) ist das derzeit vorherrschende Parteienbündnis der Opposition zur venezolanischen Regierung, auch wenn eine linke Oppositionsbewegung gerade langsam heranwächst und es gut möglich ist, dass sie das weiterhin tut. Diese kritische Linke, zumindest diejenige im engeren Sinn, identifiziert sich nicht mit dem MUD und organisiert sich daher politisch nicht mit ihm.
Der MUD ist kein homogener Block, es finden sich dementsprechend Sektoren wieder, die von einflussreichen radikalen Gruppierungen der extremen Rechten – die als „Uribistas“ [10] bezeichnet werden könnten – bis hin zu gemäßigten Konservativen und Vertretern eines elitären Liberalismus reichen. Diese verschiedenen Gruppen stehen in einer konflikthaften Beziehung zueinander, mit möglichen Konfrontationen und gegenseitige Abfuhren.
Trotz ihrer Differenzen sind die Gruppierungen des MUD mindestens durch drei wesentliche Faktoren geeint: das ideologische Raster, die Grundlagen ihres Wirtschaftsprogramms und die reaktionäre Agenda gegenüber der Regierung und angesichts der Möglichkeit einer tiefgreifenden Transformation. Wir werde uns auf die beiden erstgenannten beziehen.
Ihr ideologisches Raster wird zutiefst von der neoklassischen Theorie und vom konservativen Liberalismus bestimmt; das Privateigentum, das Ende der „Ideologisierung“ durch den Staat und ein Mehr an unternehmerischen und individuellen Freiheiten werden obsessiv gepriesen.
Diese ideologischen Grundpfeiler sind in der Programmatik dieses Blocks klarer als in seinen eigenen Mediendiskursen, wo die Rhetorik einfach, oberflächlich und voller Parolen ist. Das umfassendste Konzept seines ökonomischen Modells findet sich in den „Richtlinien für das Programm einer Regierung der Nationalen Einheit (2013-2019)“ [11] wieder. Im Verhältnis zu dem Projekt der derzeitigen venezolanischen Regierung handelt es sich hierbei um eine orthodoxere neoliberale Version der Ölförderung.
Obwohl man sich den „Wandel“ und ein „produktives Venezuela“ auf die Fahnen schreibt, sieht der Vorschlag eine Steigerung der Ölförderung auf bis zu sechs Millionen Barrel täglich vor und betont dabei den Anstieg der Fördermengen im Orinoco-Gürtel. Auch wenn sie sich gegenseitig beschuldigen, zanken und öffentlich mit dem Finger aufeinander zeigen, verbrüdern sich Henrique Capriles Radonski („Öl für deinen Fortschritt“) [12] und Leopoldo López („Öl im besseren Venezuela“) [13] in ihren Vorschlägen und stimmen mit dem von der Regierung angestoßenen „Plan für das Vaterland“ (2013-2019) überein. Der angekündigte Wandel ist nichts weiter als ein erneutes Festhalten am Extraktivismus, mehr Rentismus und Entwicklung und die wirtschaftlichen Konsequenzen und sozial-ökologischen sowie kulturellen Folgen, die dieses Modell mit sich bringt.
Die arbeitende Bevölkerung ist in dem stattfindenden Krieg niederer Intensität und dem systematischen Chaos die Leidtragende. Der starke sozialpolitische Zusammenhalt, der sich in den ersten Jahren der Bolivarischen Revolution gebildet hatte, hat sich nicht nur abgenutzt, sondern ist zunehmend zerlegt worden. Das führt sogar soweit, dass das kommunitäre Gefüge im Land bis ins Mark getroffen ist.
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Die Unsicherheit bei der Deckung der täglichen Grundbedürfnisse; die Anreize zur individuellen und wettbewerbsfähigen Lösung der sozio-ökonomischen Probleme der Bevölkerung; die wuchernde Korruption; das Steuern von Konflikten und sozialen Streitigkeiten mittels Gewalt; der Verlust von ethisch-politischen Bezügen und der Verschleiß der Polarisierung durch in Misskredit geratene Parteien; die direkte Aggression gegenüber starken oder bedeutenden kommunitären Erfahrungen und Anführern seitens verschiedener politischer oder territorialer Akteure: All diese Erfahrungen tragen dazu bei, dass das Sozialgefüge geschwächt wird und die wirklichen Eckpfeiler eines möglichen emanzipatorischen und von der Bevölkerung getragenen Transformationsprozesses eingerissen werden. Auch die Widerstandsfähigkeit der Menschen gegenüber einem weiteren Vormarsch regressiver Kräfte im Land wird dadurch geschwächt.
Inzwischen drängen landesweit verschiedene Basisorganisationen und soziale Bewegungen darauf, von ihren Gebieten ausgehend eine Alternative zu schaffen. Die Zeit wird zeigen, wie viel Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit sie besitzen, und vor allem, ob sie die kollektive Fähigkeit aufbringen, sich untereinander zu organisieren und mit größerem Nachdruck den Kurs des politischen Projekts des Landes bestimmen können.
Sollte es eine bedingungslose Solidarität geben, die von der Linken in Lateinamerika und weltweit angeschoben werden müsste, so mit diesem kämpfenden Volk, das historisch die Ausbeutung und die Kosten der Krise geschultert hat. Es ist oftmals auf die Straße gegangen, um seinen Forderungen Gehör zu verschaffen. Und in der aktuellen Situation ist es mit komplexen Problemen konfrontiert, die die Zeiten der Regression mit sich bringen. Die Solidarität mit diesem kämpfenden Volk sollte das Hauptanliegen der Linken sein. Der Preis, sich auf eine Strategie für den Machterhalt zu konzentrieren und diesen popularen antihegemonialen Kräften den Rücken zu kehren, könnte sehr hoch sein.
Emiliano Terán Mantovani aus Venezuela ist Soziologe, Experte für ökologische Wirtschaft und Autor; Mitarbeiter in der ständigen Arbeitsgruppe „Alternativen zur Entwicklung“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im Lateinamerikanischen Rat für Sozialwissenschaften (Clacso). Aktiv im Netzwerk gegen Ölförderung in tropischen Ländern (Red Oilwatch) |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz