Venezuela

Einhalten der Verfassung von 1999!

Bis Anfang Mai gab es schon über dreißig Tote, den Beginn und die Ausweitung allgemeiner Plünderungen, das Wort „Friede“ in den Gewehrmündungen und das schnelle Anwachsen einer Dynamik von Chaos und Hunger.

Marea Socialista

Inmitten dieser Szenerie kam die Ankündigung einer verfassungsgebenden Versammlung ohne Parteien, ohne klare und breite Beteiligung der Bevölkerung, ohne dass diese in einem Referendum befragt würde.

Diese Initiative der Regierung steht im Gegensatz zum Prozess der Ausarbeitung, der Debatte und der Einsetzung der Verfassung von 1999; dieser Prozess beruhte damals auf der aktiven und mehrheitlichen Beteiligung des souveränen Volkes. Wir von Marea Socialista fordern heute, entgegen den bis heute bekannten Ankündigungen durch Maduro in der Gaceta (gleichsam die offizielle Zeitung), wie damals einen solchen demokratischen Prozess. Aristóbulo Istúriz, ein Mitglied des Präsidialausschusses für die verfassungsgebende Versammlung, behauptete gar: „Es gibt nichts, worüber das Volk befragt werden müsste, da ja die Verfassung die Konstituante vorsieht“; all dies zeigt, dass es sich um ein korporatistisches und antidemokratisches Vorgehen handelt, mit der willkürlichen Beteiligung von 50 % kooptierter staatlicher Instanzen und ohne dabei irgendjemanden zu fragen. All dies hat nur dazu beigetragen, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, das durch die politischen Spitzen genährt wird und uns vor eine noch bedrohlichere Zukunft stellt.

Andererseits ist diese Konstituante weder notwendig noch nützlich, um die dringendsten und unmittelbarsten Probleme anzugehen, unter denen unser Volk leidet. Die Notsituation in der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten erfordert − im Gegensatz zu dem, was die Regierung gerade tut − direkte und konkrete Maßnahmen, beispielsweise die Einstellung der Schuldendienste, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.

Diese Konstituante soll angeblich nach dem Modell des Kongresses des Vaterlandes [1] aufgezogen werden. Dieser Kongress bot ein Bild ähnlich der Führung der PSUV, wovon weder die beschlossenen Maßnahmen bekannt wurden, noch ob die Regierung diese umsetzt. Von ihm war die große Mehrheit des venezolanischen Volkes ausgeschlossen.

Wie die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega richtig darauf hingewiesen hat, kann man von der Bevölkerung nicht Gesetzestreue fordern, wenn es der Staat selbst ist, der das Gesetz bricht. In diesem Punkt muss man klar sein: Die aktuelle Dynamik der gewaltsamen Repression von einem maßlosen, exzessiven und in einigen Fällen brutalen Charakter, die von den staatlichen Organen verübt und dabei leichtsinnigerweise von bewaffneten zivilen Kräften unterstützt wird, geht weit über die Kontrolle oder Überwachung des sozialen Protestes hinaus; sie verwandelt sich vielmehr in eine offene Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Unter anderem ist es gut, daran zu erinnern, dass die durch diese Gesetzesverletzung hervorgerufenen Delikte nie verjähren.

 

Selbstverständlich lehnen wir das Vorgehen der fokistischen Gruppen [2] wie auch möglicher Freischärler ab, die unter dem Schutze der Führung der MUD [3] operieren. Ohne weder mit der Politik noch mit den Aufrufen dieser Führung auch nur im Geringsten einverstanden zu sein, so muss doch betont werden, dass die Mehrheit der Toten – unbewaffnete Zivilisten, Jugendliche und Frauen – in der Ausübung ihres legitimen Rechtes auf Protest umgebracht wurden. Gleiches gilt für die über 700 leicht und schwer Verletzten und die Hunderten von Gefangenen. Für diese fordern wir unzweideutig das Recht auf legitime Verteidigung, das sie während der Demonstrationen ausübten, während der Staat die Ausübung der Bürgerrechte verletzt. Diese andauernde Verletzung ist das wichtigste Merkmal autoritärer Regimes, die in den Totalitarismus abgleiten, und ist einer der wichtigsten Faktoren, die die Gewalt anheizen.

Andererseits muss daran erinnert werden, dass die unmittelbare Ursache der aktuellen Lage von einem Zusammenhang unbestreitbarer Tatsachen im Rahmen einer längeren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise ausgeht: Die wiederholte Unterdrückung des Wahlrechts und der Bruch der Rechtsstaatlichkeit, der durch die Urteile 155 und 156 des obersten Gerichtshofes [4] ausgelöst wurde. Die auf unbestimmte Zeit verschobenen Regionalwahlen und die Verletzung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die unterschrieben haben, um das Referendum zur Absetzung des Präsidenten zu ermöglichen und sind Anlass genug, die Manipulation von Institutionen und der Rechte der Bevölkerung, wie auch die Unterordnung des Obersten Gerichtes und der nationalen Wahlbehörde unter die Regierung durch die Exekutive anzuprangern.

In diesem Zusammenhang der andauernden Übertretung der von Chávez entworfenen Verfassung und der zunehmenden Verletzung der Menschenrechte eröffnet die Regierung einen „konstitutionellen Prozess“, der seit seiner Ankündigung im Verdacht stand, antidemokratisch zu sein. Man beruft eine „nationale verfassungsgebende Versammlung“ ein, die korporative Züge trägt, mit der Aufteilung in zwei Arten von Abgeordneten mit wenig oder mit keiner Transparenz bezüglich der Zielsetzungen dieser Versammlung. Es sind vor allem diese Elemente, die gegenüber dem Manöver Misstrauen und Ablehnung hervorrufen, dessen Absicht sich als Vorbereitung einer Konterreform der Verfassung von 1999 erahnen lassen.

Zudem bedeutet dieses Vorgehen eine neue Verletzung der Volksouveränität, indem das Volk weder der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zustimmen kann noch befragt werden soll, ob es nach der Fertigstellung der Verfassung diese annimmt oder ablehnt; somit wird das Vorgehen klar und durchschaubar. Wie der Artikel 71 der geltenden Verfassung vorschreibt, müssen für große Entscheide und deren Inhalte solche Referenden durchgeführt werden; wie die Regierung selbst behauptet, gilt es bei diesem sogenannten „verfassungsgebenden Prozess“ große Entscheide zu fällen. Mit ihrem Vorgehen verachtet die Regierung die Erfahrungen und die Tradition der Methode des verfassungsgebenden Prozesses von 1999.

Sollten noch irgendwelche Zweifel darüber bestehen, wie die Regierung die Artikel 347, 348 und 349 der Verfassung der bolivarischen Republik Venezuela (CRBV) manipuliert, so vergleiche man beispielsweise den Artikel 71 mit den Verfassungen von Ecuador und Bolivien, die durch unsere inspiriert waren:


Verfassung der bolivarischen Republik Venezuela: Artikel 71


„Angelegenheiten von besonderer nationaler Bedeutung können auf Initiative des Präsidenten oder der Präsidentin der Republik mit dem Ministerrat, auf Beschluss der Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung oder auf Antrag von nicht weniger als zehn Prozent der im Personenstands- und Wahlregister eingetragenen Wahlberechtigten zum Gegenstand einer Volksbefragung werden.

Protest gegen Maduro [Foto: Joxemai]

 

Zum Gegenstand einer Volksbefragung können auch Angelegenheiten von besonderer Bedeutung für die Kommunalbezirke, Gemeinden und Bundesstaaten werden. Eine entsprechende Initiative kann der Kommunalbezirksausschuss, der Gemeinderat oder der Gesetzgebungsrat mit Zweidrittelmehrheit seiner jeweiligen Mitglieder ergreifen. Weiterhin besteht Initiativrecht für den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin, den Gouverneur oder die Gouverneurin eines Bundesstaates oder für nicht weniger als zehn Prozent der in der entsprechenden Verwaltungseinheit Eingetragenen, die einen solchen Antrag einbringen.“


Verfassung von Bolivien: Artikel 411


„I. Die vollständige Reform der Verfassung oder Reformen, die deren Grundlagen, die Rechte, die Pflichten, Garantien oder den Vorrang und die Reform der Verfassung betreffen, werden mit einer dazu einberufenen, mit vollen Rechten ausgestatteten verfassungsgebenden Versammlung durchgeführt. Sie wird durch den Volkswillen mit einem Referendum eingeleitet. Die Ausrufung des Referendums geschieht aufgrund einer Volksinitiative mit den Unterschriften von mindestens zwanzig Prozent der Wahlberechtigten; durch die absolute Mehrheit der Mitglieder der plurinationalen Versammlung der Legislative; oder durch den Präsidenten oder die Präsidentin des Landes. Die verfassungsgebende Versammlung regelt ihr gesamtes Funktionieren selbst und muss den Verfassungstext mit mindestens zwei Dritteln aller anwesenden Abgeordneten gutheißen. Das Inkrafttreten der Reform erfordert ein zustimmendes Verfassungsreferendum.“


Verfassung von Ecuador: Artikel 444


„Die verfassungsgebende Versammlung kann nur mit einer Volksbefragung einberufen werden. Dieses Referendum kann durch den Präsidenten oder die Präsidentin der Republik, durch zwei Drittel der Nationalversammlung oder durch zwölf Prozent der in die Wahlregister eingetragenen Personen verlangt werden. Das Referendum muss sich zu der Form der Wahl der Vertreter und Vertreterinnen und zu den Regeln des Wahlprozesses äußern. Die neue Verfassung erfordert für ihre Inkraftsetzung ein Referendum mit der Zustimmung der Hälfte plus einer gültigen Stimme.“

In der aktuellen Lage von zunehmender Krise und Gewalt erweist sich der Einbezug der Stimme des Volkes als unverzichtbar, sodass die Einberufung durch den Souverän in einem Referendum gutgeheißen würde, und dass mit einem Ergebnis der verfassungsgebenden Versammlung, sofern ein solches vorliegen sollte, ebenso verfahren würde. Deshalb rufen wir zur Bildung einer breiten Front für die Durchführung solcher konsultativen Referenden auf. Wir fordern bis dahin die uneingeschränkte Weiterführung der Verfassung von 1999.

Wir sehen uns angesichts des Ernstes der aktuellen Lage zum Warnhinweis verpflichtet: Wenn die Regierung weiterhin die Ohren gegenüber den Einwänden seitens eines Teils der Gesellschaft verschließt (Einwänden, die selbst in den Rängen des Chavismus aufkommen); wenn das Ausmaß der Repression und der Missachtung der verfassungsmäßigen Verpflichtungen weiterhin zunimmt und alle Wege der demokratischen Beteiligung des Volkes versperrt werden, dann liquidiert die Regierung die von Chávez entworfene Verfassung.

      
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Internationales Komitee der IV. Internationale: Resolution zu Venezuela, Inprekorr Nr. 402/403 (Mai/Juni 2005)
 

Das unmittelbare Resultat der Einberufung durch Maduro zeigt sich − neben der Verwirrung, die diese in der Mehrheit der Bevölkerung gesät hat – an der Zunahme der gewalttätigen staatlichen Repression bei den Demonstrationen. Ein Beispiel dafür ist die Aktivierung des „Planes Zamora“ im Bundesstaat Carabobo, der als Pilotprojekt für seine beabsichtigte spätere Ausdehnung auf das ganze Land verstanden werden muss. Dabei geht es um die Zuständigkeit von Militärgerichten anstelle von zivilen Gerichten für die eingekerkerten Demonstrant*innen und um die faktische Errichtung von Häftlingslagern in militärischen Einrichtungen. Das wirkt alarmierend und könnte zur Überschreitung der schmalen Grenze hin zu einer offen repressiven und totalitären Regierung führen.

Dieses eine Beispiel sollte genügen, dass wir alle, die wir die wachsende, von der Regierung ausgelöste Gewaltspirale zurückweisen, von der nationalen Wahlbehörde verlangen, dass sie das Funktionieren der Verfassung von 1999 wieder herstellt, ihrer historischen Verantwortung nachkommt, die aufgeschobenen regionalen Wahlen der Gouverneure und Bürgermeister ansetzt und Gewissheit gibt, dass im nächsten Jahr Präsidentenwahlen stattfinden und dass sie ab jetzt einen Zeitplan für diese ausarbeitet. All dies mit weitreichenden Garantien für die demokratische Teilnahme aller politischen Ausdrucksformen des Landes.

Der von uns vorgeschlagene Kampf ist von großer Tragweite und erfordert den Aufbau einer sozialen und politischen Kraft der Aktionseinheit auf der Grundlage der Verteidigung der demokratischen Rechte; am Aufbau dieser Kraft werden wir arbeiten.

7. Mai 2017
Marea socialista (Sozialistische Flut) ist eine marxistische revolutionäre Organisation, die aus der klassenkämpferischen gewerkschaftlichen Strömung C-CURA hervorgegangen ist, die in den Bundesstaaten Carabobo und Guayana stark ist. Ihre Mitglieder betreiben mit https://www.aporrea.org/ eine der bedeutenderen sozialistischen Internet-Seiten; die Organisation hat sich 2008 der PSUV angeschlossen. 2014 forderte Marea socialista die Anerkennung als unabhängige politische Partei, was ihr im Mai 2015 durch die nationale Wahlbehörde verweigert wurde. Im Juli 2016 haben einige ihrer Führungspersönlichkeiten, darunter der Gewerkschaftsführer der Metallarbeiter Stalin Perez Borges, den Austritt aus Marea socialista erklärt und eine neue Formation, den vereinigten Bund sozialistischer Chavisten (LUCHAS) gegründet. Seither haben sich die taktischen Differenzen zwischen den beiden Organisationen verstärkt. Marea socialista hat den Status eines permanenten Beobachters an den Sitzungen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.
Übersetzung W. Eberle



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Der Congreso de la Patria (Kongress des Vaterlandes) wurde durch Präsident Maduro am 2. April 2016 einberufen; an ihm nahmen Vertreter und Vertreterinnen aus sozialen Bewegungen und Aktivistinnen und Aktivisten aus der PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela; Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) aus verschiedenen Gliedstaaten teil.

[2] Die Idee, Brandherde (foquismo, Fokismus) der ländlichen Guerilla zu schaffen, um die Kräfteverhältnisse zu verändern und die sozialistische Revolution vorwärtszubringen, wurde von Ernesto Che Guevara aufgrund seiner Interpretation der kubanischen Revolution formuliert. Sie wurde in Venezuela kürzlich von der faschistoiden äußersten Rechten mit der Zielsetzung aufgegriffen, Brandherde der gesellschaftlichen Destabilisierung zu schaffen.

[3] Die Mesa de Unidad Democrática (MUD, Tisch der demokratischen Einheit) ist ein Bündnis der Opposition aus der traditionellen Bourgeoisie; sie wurde 2010 im Hinblick auf die Wahlen mit dem Ziel gegründet, der bolivarischen Revolution ein Ende zu bereiten.

[4] Im Urteil 155 vom 27. März 2017 hat der Oberste Gerichtshof (OGH) den Beschluss der Nationalversammlung, die aus einer MUD-Mehrheit besteht, als ungültig erklärt; darin sollten die demokratische Charta der OAS (Organisation amerikanischer Staaten) auf Venezuela angewandt und die Immunität der Parlamentarier und Parlamentarierinnen im Falle von Verfassungsverstößen und von offensichtlichen Straftaten eingeschränkt werden. Im Urteil 156 vom 29. März 2017 hat der OGH beschlossen, dass sich die Nationalversammlung den Beschlüssen der Exekutive betreffend von Joint-Ventures in der Erdölindustrie nicht widersetzen darf, und dass der OGH die parlamentarischen Kompetenzen ausübt, sollte die Situation der Unbotmäßigkeit und der Ungültigkeit der Nationalversammlung weiter anhalten. Unter Druck hat der OGH seine Urteile am 1. April 2017 „revidiert“.