1989

Warum Berlin?

Cathy Billard

Woher kommt es, dass der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 das Ende eines Zeitalters markiert hat, viel mehr noch als der Zerfall der Sowjetunion am 26. Dezember 1991?

Berlin ist eine der Symbolstätten in der Geschichte des Imperialismus des 20. Jahrhunderts. Die Stadt verkörpert den Aufstieg des deutschen Imperialismus zu einer Macht, die die bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen den imperialistischen Mächten infrage stellen konnte. Zugleich symbolisiert sie die Macht der Arbeiterrevolution, dem Kapitalismus einen entscheidenden Schlag zufügen zu können, sodass Lenin im März 1918 meinte: „Es ist eine absolute Wahrheit, daß wir ohne die deutsche Revolution verloren sind.“ Später verkörperte sie den Sieg des Faschismus und dessen irrsinnige Herrschaftsform sowie auch dessen spätere Niederlage. Zuletzt stand sie für den Kalten Krieg zwischen dem imperialistischen Block und der Sowjetunion.


Ein Symbol des Klassenkampfes in Deutschland


Anders als die meisten europäischen Hauptstädte kann Berlin nicht auf eine jahrhundertealte Geschichte zurückblicken. Erst 1870 wurde die Stadt zur Hauptstadt des aufkeimenden deutschen Reiches und dessen Industriebürgertums und vertrat dessen politische und geschäftliche Interessen auf nationaler und internationaler Ebene. Ab 1919 wurde Berlin zum Epizentrum der deutschen Revolution. Als erste sozialdemokratische Partei einer imperialistischen Bastion wurde dort die SPD durch eine Arbeiterrevolution an die Macht gehievt und zugleich mit dem Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als wichtigem Wendepunkt zu deren Totengräber.

 

Menschen auf der Mauer (10.11.1989), Foto: Sue Ream

Die Zerschlagung der Revolution zwischen 1919 und 1923 konnte den Klassenkampf jedoch nicht beenden, weswegen die deutsche Bourgeoisie ihr Heil letztendlich bei den Nazis suchen musste. Berlin wurde so ab 1933 zum Schaufenster des Regimes und zugleich zu einem mächtigen Industriezentrum, das von expansionistischen Ambitionen getragen wurde. Das Nazi-Regime hatte die Arbeiterorganisationen vernichtet und der Stalinismus vollendete die Eliminierung der Arbeiterführer, die der revolutionären Idee treu geblieben waren. Doch das Gespenst einer revolutionären Welle, die in Deutschland wieder auflebte, hat die Alliierten auf ihren internationalen Konferenzen wieder umgetrieben. Es war weniger die Furcht vor den wenigen Tausend überlebenden Kadern, die sie umtrieb, sondern davor, dass die jahrzehntelangen Erfahrungen im sozialen und politischen Kampf wieder ins Bewusstsein dringen könnten. Von Teheran bis Jalta versuchten die USA, die UdSSR, England und der gerade noch einmal davongekommene französische Imperialismus, das besiegte Deutschland und Berlin durch einen Vier-Mächte-Besatzungsplan unter ihre Kuratel zu stellen.

Im Rahmen dieser Vereinbarungen ließen die westlichen Armeen die sowjetische Armee, unterstützt durch westliche Bombardierungen, Berlin in ein Ruinenfeld mit 600 000 zerstörten Wohnungen verwandeln. Die 2,8 Millionen Berliner*innen, darunter zwei Millionen Frauen, wurden einer Welle von Gewalt ausgesetzt. In Berlin wurden Hunderttausende von Frauen vergewaltigt (nicht nur von Russen), wie Marta Hillers in ihren Tagebuchaufzeichnungen Eine Frau in Berlin berichtet. Die hungernde Bevölkerung wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, zum einen als Kollektivstrafe für den Nationalsozialismus und zum andern, um alle Strukturen wirtschaftlicher und politischer Macht gründlich zu zerschlagen.


Sinnbild des Kalten Krieges


Aber die konterrevolutionäre Allianz aus Imperialismus und Stalinismus konnte nicht von Dauer sein. Nach der Niederlage Deutschlands wurde die Existenz der UdSSR für die imperialistischen Mächte wieder unerträglich. Und Berlin, aufgeteilt in vier Besatzungssektoren in der Mitte des sowjetisch besetzten Gebietes, wurde zum Schauplatz dieser Konfrontation, wobei eine Krise die andere ablöste und jeweils das Kräfteverhältnis zwischen den Mächten neu ausgelotet wurde, bis schließlich wieder ein deutscher Staat entstand.

Die Berlin-Blockade von Juni 1948 bis Mai 1949 geriet zum Auftakt eines bis dahin einmaligen Kalten Krieges. Im Gegenzug zu der Wirtschaftsoffensive der USA, die mit dem Marshall-Plan und der Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen wieder ein marktwirtschaftliches System unter US-Hegemonie etablieren wollte, beschlossen die Sowjets, alle Verbindungswege zwischen Westberlin und den westlichen Besatzungszonen zu unterbinden, um die Berliner Bevölkerung durch die Blockade der Lebensmittel- und Stromversorgung gegen die Westmächte aufzubringen. Mit Unterstützung Englands errichteten die USA eine Luftbrücke, um Westberlin zu versorgen: Alle drei Minuten landete ein Flugzeug, um Fracht auszuladen und die Kranken mitzunehmen etc. Angesichts einer möglichen Bedrohung durch US-Atomwaffen wurde kein Flugzeug durch das sowjetische Flaksystem attackiert und auch die westlichen Bodentruppen versuchten nie, die Blockade zu durchbrechen. In Anbetracht ihrer Ineffektivität beendete die UdSSR die Blockade. Somit geriet die Angelegenheit zu einem politischen Sieg für die imperialistischen Mächte.

      
Weitere Artikel zum Thema
Julien Salingue: Ein Jahrhundert geht zu Ende, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Laurent Ripart: Der sowjetische Block, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Catherine Samary: Die Widersprüche des „realen Sozialismus“, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Laurent Ripart: Revolution oder Konterrevolution?, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Catherine Samary: Der Osten wird kapitalistisch, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Henri Wilno: Unsere Lehren, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Vierte Internationale: Die Lage in der DDR und unsere Aufgaben, Inprekorr Nr. 227 (Mai 1990)
 

Die Westmächte setzten ihre weitere Präsenz in Berlin sowie die Errichtung eines deutschen Bundesstaates durch, worauf die Sowjets mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik reagierten. Ein scharfer Konkurrenzkampf begann, um die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft zu demonstrieren. Aber der von den Westmächten erwartete KO-Sieg wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil, am 16. Juni 1953 kam wieder das Gespenst der Arbeiterrevolution zum Vorschein, als die Bauarbeiter auf der Ostberliner Stalinallee gegen die von der bürokratischen Regierung verhängten höheren Arbeitsnormen protestierten. Der Streik nahm rasch politischen Charakter an und griff unter der Losung „für Brot und Freiheit“ auf die Leuna-Werke und viele andere Fabriken über. Während der DDR-Regierung der Wind ins Gesicht pfiff und ihr die Verantwortung angelastet wurde, vermieden es die BRD-Regierung und die imperialistischen Mächte tunlichst, gegen die Intervention der sowjetischen Armee vorzugehen.

Einen politischen Sieg konnte der Imperialismus zwar nicht erringen, dafür aber punktete er durch seinen wirtschaftlichen Aufschwung. In Berlin wie auch im übrigen Westdeutschland zog die boomende Konsumgesellschaft immer mehr Ostdeutsche an. 1960 flohen mehr als 200 000 Deutsche aus der DDR nach Westberlin und im Juli 1961 lag die Zahl bei 30 000. Die DDR-Regierung und die Sowjetunion reagierten und ließen im August 1961 die Berliner Mauer errichten, die zum Symbol für die strikte Trennung und die Kasernierung der Ostdeutschen wurde. Die Mauer war eine politische Niederlage des Sowjetblocks, die letztlich nur die ideologische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Konkurrenz beförderte und das Wettrüsten, eine enorme Verschwendung von Material und Arbeitskräften, beschleunigte. Bis dann im November 1989 …


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz