1989

Der Osten wird kapitalistisch

Catherine Samary

Da alle Augen auf den Fall der Berliner Mauer gerichtet waren, geriet eine konkrete Analyse der Modalitäten und Auswirkungen der kapitalistischen Transformation in Osteuropa aus dem Blickfeld.

Den Auftakt zu diesem Umbruch bildete die deutsche (Wieder-)Vereinigung, die weit bedeutsamer als der bloße Mauerfall und weit entfernt von einem Märchen mit Happy End war. Wir stehen noch immer vor einer Aufarbeitung der „dunklen Seiten“ dieser historischen Wende von 1989, nämlich ihrer zutiefst undemokratischen Aspekte, durch die sie sämtliche Formen sozialer Absicherung zerstört hat, die nicht der Logik des Profits gehorchten.


Noch schlimmer als 1929


Selbst die falscher Sympathien gewiss unverdächtige Weltbank hat in ihrem Bericht von 2002 über die ersten zehn Jahre des „Übergangs zur Marktwirtschaft“ (ein Euphemismus für die kapitalistische Restauration) in Osteuropa und der Ex-Sowjetunion geschrieben, dass alle davon betroffenen Länder ausnahmslos eine „tiefe Rezession über Jahre hinweg“ erlitten haben, die als „System- oder Übergangskrise“ bezeichnet werden kann. Hinsichtlich „ihres Ausmaßes und ihrer Dauer“ war sie „mit der Großen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre vergleichbar“ und „für die meisten Länder sogar noch schlimmer“. Der Rückgang des Wirtschaftswachstums hat in den ersten Jahren und sogar bis Ende der 90er Jahre alle Branchen betroffen und reichte von 6 % in Polen über 15 % in Mitteleuropa bis hin zu 40 % in den anderen Regionen. Es kam dabei zu einer bis dahin unbekannten strukturellen Arbeitslosigkeit und zu einem sprunghaften Anstieg sozialer Ungleichheit „in Ländern, die bis dahin die mithin egalitärsten Strukturen der Welt vorwiesen“ – so die Weltbank.

Die dortige Bevölkerung hatte keine Ahnung davon, was „Privatisierungen“ und „Markt“ bedeuten, und sie kannte auch keine Arbeitslosigkeit. Nun durchlebten sie die bittere Erfahrung eines neoliberalen gesellschaftlichen Paradigmenwechsels bei den Parteien, die im Namen des politischen Pluralismus ab Beginn der 90er Jahre neu entstanden sind.


Demokratische Revolutionen?


Der britische Politologe Timothy Garton Ash bezeichnete den Umwälzungsprozess von 1989 mit dem Neologismus einer „Refo-lution“, bei der von oben oktroyierte (und nicht von Massenbewegungen getragene) „Reformen“ zusammenkamen, die auf strukturelle Veränderungen abzielten und insofern „revolutionärer“ – de facto aber konterrevolutionärer Natur waren. Tatsächlich waren die Ziele des Restaurationsprozesses in allen betroffenen Ländern die gleichen, unabhängig davon, wie die jeweiligen „kommunistischen“ Regime entstanden sind (ob auf revolutionärem Weg, wie in der UdSSR oder in Jugoslawien, oder als bürokratische „Ableitung“ aus der Position, die die UdSSR bei den sozialen Polarisierungsprozessen und der politischen Radikalisierung im Zuge des antifaschistischen Kampfes während des Zweiten Weltkriegs innehatte). Denn ihre sozioökonomische und ideologische „Struktur“ war nach demselben Modell gestaltet.

Man kann diese (weder kapitalistischen, noch sozialistischen) Gesellschaftssysteme besser einordnen, wenn man sie – so wie es die Bolschewiki in den 20er Jahren auf die UdSSR angewandt haben – als „Übergangsgesellschaften“ charakterisiert, also von den Zielen und der sozialen Basis des Systems her als sozialistisch oder kommunistisch, in denen aber gegensätzliche Entwicklungstendenzen vorhanden sind. Diese können entlang der jeweiligen Umstände zu revolutionären, emanzipatorischen Weiterentwicklungen mit sozialistischer oder kommunistischer Orientierung führen oder aber prokapitalistische Tendenzen entfalten oder schließlich als Mittelding Bürokratien ausbilden, die zwischen den beiden Hauptklassen schwanken und mitunter ein Eigenleben entwickeln. Die kapitalistische Restauration setzt voraus, dass prokapitalistische Strömungen im Staatsapparat die Oberhand gewinnen und die sozialen Errungenschaften und internationalen Beziehungen entsprechend umgestalten.

Insofern ist es wichtig, alle Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zu kritisieren, auch wenn sie „nicht-kapitalistisch“ sind und die „Arbeiter“-Institutionen und Organisationen durchdringen. Der totalitäre Stalinismus war das Ergebnis eines Bürokratisierungsprozesses, in dem die Warenbeziehungen abgeschafft sind und zugleich die Arbeiter*innen im Namen des Sozialismus in die Staats- und Parteiapparate kooptiert werden. Die stalinistische Sowjetunion trachtete danach, die politische Hegemonie über die internationale Arbeiterbewegung aufrecht zu erhalten. Dies führte dazu, dass alle neuen Regime, selbst wenn sie letztlich ihren Aufstieg dem Einfluss der Sowjetunion zu verdanken hatten, die Einparteienherrschaft unter den Arbeiter*innen zu stabilisieren und legitimieren und dabei deren Autonomiebestrebungen zu brechen versuchten, egal ob sie sich an das „sowjetische Modell“ anlehnten, dessen Unterstützung sie genossen, oder ob sie in Konflikt mit dem Kreml gerieten.


Realer Sozialismus statt „Realsozialismus“


Aus diesen Gründen entstanden unter den Arbeiter*innen und Intellektuellen als sozialer Basis dieser Regime bis in die 1980er Jahre hinein große antibürokratische Demokratiebewegungen, die beileibe nicht antikommunistisch inspiriert waren, sondern den emanzipatorischen Gehalt des Marxismus und Sozialismus aufgriffen, um ihn gegen die bestehenden Unterdrückungsverhältnisse zu kehren. Dieser „Kommunismus“, der sich gegen die bestehende Ordnung richtete, war in allen Institutionen von Partei und Staat, die im Namen der Arbeiter*innen regierten, aktiv und hatte zum Ziel, die Kluft zwischen den sozialistischen Ansprüchen und der Realität zu verringern. Dies galt für die Arbeiterräte in Polen und Ungarn 1956 bis hin zu den Selbstverwaltungsbestrebungen in Jugoslawien und den Arbeiterräten im Prager Frühling und auch später noch, als Solidarność, in der er als Berater aktiv war, „ein Kind des Sozialismus“. Ebenso waren die Arbeiterräte, die während und gegen die Intervention der russischen Panzer in der Tschechoslowakei im Herbst 1968 entstanden waren und um sich griffen und die dabei vom „Selbstverwaltungsflügel“ innerhalb der KP und den Gewerkschaften unterstützt wurden, Ausdruck einer „revolutionär-politischen“ Dynamik in dem Sinn, dass sie die bürokratische Herrschaft der KP infrage stellten.

Innerhalb dieser Partei- und Staatssysteme war „das Politische“ zutiefst gesellschaftlich und die geringsten „Arbeitsunterbrechungen“ entfalteten eine subversive „politische“ Dynamik gegen die Spitzenfunktionäre, ohne dass diese Eigentumsrechte [an den Produktionsmitteln] gehabt hätten. Die Massenbewegungen verfolgten das Ziel, die Kluft zwischen den „gesetzlichen“ (vom System legitimierten) sozialistischen Errungenschaften und der bürokratischen und repressiven Praxis im Alltag zu verringern.


Was war an 1989 anders als zuvor?


Zum einen haben die „sowjetische Normalisierung“ in der Tschechoslowakei und später, 1981, der Staatstreich von Jaruzelski gegen Solidarność dafür gesorgt, dass sich eine subversiv sozialistische Dynamik im Sowjetblock nicht weiter ausbreiten konnte. Und Jugoslawien verstrickte sich nach Titos Tod (1980) in widersprüchliche Reformen, Auslandsverschuldung und eine schwere Wirtschaftskrise, hatte aber keine kohärenten Lösungsvorschläge mit sozialistischer Orientierung parat, als Ende der 80er Jahre Tausende von Streiks ausbrachen. Stattdessen zerfiel das Land in blutigen Schlachten unter dem Ansturm von Nationalismus und Kapitalismus. Für Europa und in geostrategischer Hinsicht war entscheidend, was sich unter Gorbatschow in der Sowjetunion ereignete. Der setzte darauf, dass durch den Fall der Mauer eine Auflösung der beiden Militärbündnisse des Kalten Krieges (Nato und Warschauer Pakt) und ein Mehrparteiensystem eine wirklich „friedliche Koexistenz“ der unterschiedlichen Systeme Einzug halten und ihm westliche Kredite einbringen würde.

Die deutsche Wiedervereinigung indes hatte rein gar nichts von einer „Koexistenz“ an sich und die USA beschlossen, das vereinte Deutschland in die Nato zu integrieren und diese dann noch unter Zuhilfenahme der Krise in Jugoslawien zu erweitern, während der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst wurde. Auch die Kredite des IWF flossen erst, nachdem Gorbatschow auf das Abstellgleis geschoben und die UdSSR durch Jelzins Radikalkur zerschlagen worden waren.


Strukturelle „Anpassungsmaßnahmen“


Nachdem die Strömungen und Oppositionsbewegungen der Arbeiterklasse, die (in Polen und der Tschechoslowakei) eine glaubwürdige sozialistische Alternative verkörperten, zerschlagen worden waren, konnte sich das Mehrparteiensystem in der UdSSR und allen osteuropäischen Ländern und Jugoslawien durchsetzen. Dabei warben die liberalen Strömungen anfangs unter den Arbeiter*innen (besonders den jüngeren) damit, dass sie denen angeblich die „Kontrollgewalt“ wieder zurückgeben wollten, die ihnen unter der Staats- und Parteibürokratie genommen worden war. Aber es dauerte nicht lange, bis die so Verführten die wahren sozialen Folgen dieser „Strukturanpassungen“ im Auftrag des IWF und der Wirtschaftsarchitekten des „Washington-Konsenses“ zu spüren bekamen. Dabei ging es um durchgängige Privatisierungen im Eilverfahren, um die Vermarktung der Produktionsmittel oder die Abschaffung der Arbeitsschutzgesetze. Auch das Geld, das bisher als Zahlungsmittel gedient hatte, bekam eine ganz neue Funktion und konnte zur Kapitalakkumulation verwandt werden. „Egalitarismus“ war nunmehr verpönt, wohingegen Unternehmenspleiten und Entlassungen erlaubt wurden.

Diese Maßnahmen betrafen keineswegs ein paar staatliche Unternehmen, sondern die gesamte Industrie dieser Länder und die große Mehrheit der Lohnabhängigen. Die großen Industrieunternehmen, in denen die kommunistischen Regime ihre soziale Basis hatten, galten bis dahin als der Inbegriff der sozialen Errungenschaften und der Daseinsfürsorge des Staates. Wer dort arbeitete, bekam eine Wohnung, einen Krippenplatz, Einkaufsmöglichkeiten und kostenlose Gesundheitsversorgung sowie andere Formen des „Sozialeinkommens“, das nicht in Geld ausbezahlt wurde und in den letzten Jahren des Bestehens der UdSSR über 60 % des Einkommens der Arbeiter*innen ausgemacht hat.


Die Privatisierungsformen


Dass der Roll-back auf der Tagungsordnung stand, war klar, nicht jedoch die Akzeptanz der Maßnahmen unter der Bevölkerung und die tragenden Kräfte dieses Umbruchs. Die früheren Oppositionsbewegungen gegen die Einheitspartei oder die Mauer hatten nie ein gemeinsames Programm zur Veränderung der Gesellschaft vor Augen. Privatisierungen und Marktwirtschaft waren unter der Bevölkerung vielmehr abstrakte Begriffe. Der Roll-back jedoch zielte auf alles, was bis dahin nicht den Marktgesetzen unterworfen war und nicht der ursprünglichen Kapitalakkumulation, die es als solche in diesen nicht-kapitalistischen Systemen gar nicht gab, unterlag.

      
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Im unter der Ägide eines allgewaltigen und strikt neoliberal orientierten Kapitalismus wiedervereinigten Deutschland wurden derlei Probleme mit der Brechstange „gelöst“. In den anderen Ländern gab es anfangs i. W. zwei verschiedene Varianten. In den baltischen Staaten oder in Ungarn gingen die lukrativen Unternehmen an ausländisches Kapital. In der großen Masse der anderen Länder jedoch gingen solche „Massenprivatisierungen“ ohne Einwirkung von Kapital mit gewissen Abweichungen wie folgt vonstatten. An die Beschäftigten wurden Gutscheine oder „Vouchers“ ausgegeben, die sie in einen nennenswerten Anteil am gesamten „Aktienkapital“ umtauschen konnten. Der Rest und damit die Mehrheit ging an den Staat, der damit „rechtlicher“ Eigentümer wurde und auch das Recht auf Privatisierung bekam.

Viele Arbeiter*innen veräußerten ihre Gutscheine und führten ein prekäres Lohnabhängigendasein, was dann zu einer zweiten Phase der Umverteilungs- und Konzentrationsprozesses des gesellschaftlichen Eigentums führte und zugleich allen Ansätzen von Arbeiterräten und Selbstverwaltung die Grundlagen entzog. Die meisten unter den ehemaligen „kommunistischen“ Apparatschiks versuchten ihre vormals bloß funktionellen Privilegien in Eigentumsprivilegien umzuwandeln. Viele von ihnen (wie Jelzin und die Mehrzahl der neuen Bourgeois in Osteuropa) wurden zu Kompradorenbourgeois, die ihr Wissen über die Systemabläufe an das Auslandskapital verkauften, um dann eine subalterne Position innerhalb der globalen Neuordnung einzunehmen. Andere, etwa in China, zogen rasch die Konsequenzen aus diesem Unterwerfungsprozess und wehrten sich erfolgreich dagegen, um sich schließlich als neue Großmacht innerhalb des globalisierten Kapitalismus zu etablieren. Ein Vorbild, dem Putin später nacheifern sollte.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz