1989

Revolution oder Konterrevolution?

Laurent Ripart

„Champagner und Alka-Seltzer zugleich“, mit diesen Worten umriss Daniel Bensaïd seinen ersten Eindruck von den Ereignissen von 1989, die in einem dazu führten, dass sich die Bevölkerung Osteuropas politisch und als Nation emanzipieren konnten und dass kapitalistische Produktionsverhältnisse wiederhergestellt wurden.

In dieser paradoxen Formel zeigte sich, wie perplex die internationale Arbeiterbewegung darauf reagierte und vor die Frage gestellt war, ob der Zerfall des Ostblocks eine Revolution oder Konterrevolution war.


„Samtene“ Revolutionen


Auch wenn dieser Begriff nur für die tschechoslowakische Revolution gebraucht worden ist, lässt er sich doch auf nahezu alle Länder des Ostblocks übertragen, in denen der revolutionäre Prozess bemerkenswert friedlich verlaufen ist. Die Erklärung dafür liegt darin, dass kein gesellschaftlicher revolutionärer Umbruch stattgefunden hat, also nicht die Massen die Macht übernommen haben, sondern die herrschende Kaste selbst in neuem Gewand die Grundfesten ihrer Herrschaft radikal umgestaltet hat.

In Polen und Ungarn, die den Umbruch angestoßen haben, vollzog sich die Revolution nahezu vollständig innerhalb der Kommunistischen Parteien, die sich durch den Verzicht ihrer Führungsrolle zur Selbstzerstörung entschlossen, um sich dann aufzulösen und als sozialdemokratische Parteien wiederzugründen. Das einzige Land, in dem der Prozess eine gewaltsame Wendung nahm, war Rumänien, aber dort ging der Umbruch auch nicht von einer Volksrevolution aus, sondern von einem Staatsstreich, in dem Nicolas Ceauşescu von der Armee und dem KP-Apparat gestürzt wurde und so die Partei und ihr Herrschaftssystem liquidiert wurden.


In der Systemkrise


Zumeist wurde dieser Prozess durch die Umstände erzwungen, die den Führungen de facto kaum eine Wahl ließen. So im Fall der DDR, die gleichwohl das einzige Land des Sowjetblocks war, in der die Wirtschaft halbwegs funktionierte: Nachdem Ungarn beschlossen hatte, die Grenzen zum Westen zu öffnen, und viele DDR-Bürger*innen daraufhin den Weg über Budapest zur Fluchtroute in die BRD erkoren hatten, blieb dem Regime nur die Wahl, entweder sämtliche Grenzen dichtzumachen – was unhaltbar war – oder eben alle zu öffnen, was zu seinem Untergang führte. So wie die Gorbatschow-Anhänger in Russland hatten die Staatsführungen inzwischen begriffen, dass das System nicht mehr reformierbar war und dass revolutionäre Umwälzungen unumgänglich waren.

Denn seit den frühen 1970er Jahren befand sich die Wirtschaft im Ostblock in einer Krise, die insofern unlösbar war, als sie systemisch war. Die Erträge in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften waren rückläufig, was auf die Unfähigkeit der Industrie, die notwendigen Maschinen zu liefern, den Verfall des Transport- und Verteilungssystems, aber auch auf die unkontrollierte Entwicklung einer Schattenwirtschaft zurückzuführen war. Traditionelle Agrarländer wie Rumänien, Polen oder Ungarn konnten ihre Bevölkerung nicht mehr ernähren und mussten erhebliche Mengen an Lebensmitteln aus dem Westen importieren, die sie nur bezahlen konnten, indem sie sich über die Maßen verschuldeten.

Die Ursache des Problems war der Zusammenbruch des bürokratischen Planungssystems. Die großen Industriekomplexe produzierten riesige Mengen, deren Gebrauchswert nahezu Null war, da diese Produkte größtenteils von unzureichender Qualität für die praktische Verwendung waren oder nicht den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprachen. Das Verkehrssystem war nahezu komplett heruntergekommen und die Wohnungen, die nicht instand gehalten wurden, befanden sich in einem unglaublich verwahrlosten und elenden Zustand. Diese Situation führte dazu, dass die Bevölkerung in einem Wirtschaftssystem permanenter Knappheit lebte und sehr viel Zeit damit vergeudete, auf dem Schwarzmarkt nach den Grundversorgungsmitteln zu suchen, was sich wiederum auf ihre Motivation am Arbeitsplatz auswirkte.


Die widerstandslose Restauration des Kapitalismus


Infolge dieser systemischen Krise gelangten die Führungen der kommunistischen Parteien zunehmend zu der Überzeugung, dass nur noch die Wiederherstellung einer Marktwirtschaft die Probleme lösen konnte. Ein Teil dieser Funktionäre tat sich mit der ehemaligen Bourgeoisie zusammen, die ihr 1945 beschlagnahmtes Eigentum zurückerhielt, und verwandelte sich in eine neue Kapitalistenklasse, wobei sie ihre Positionen im Staatsapparat ausnutzte, um sich öffentliches Eigentum anzueignen, das dann für einen Spottpreis privatisiert wurde. Da sie von dieser Mangelwirtschaft genug hatte und den herrschenden Regime zutiefst abhold war, leistete die Arbeiterklasse trotz ihrer erheblichen Macht keinen Widerstand gegen diese Entwicklung, die zu einer fast vollständigen Liquidation der gesamten alten Industrie führen sollte, mit dramatischen Folgen wie Massenarbeitslosigkeit und Verarmung.

      
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Die Besonderheiten des revolutionären Prozesses von 1989 lassen sich somit durch die systemische Krise des stalinistischen Modells der bürokratischen Planwirtschaft erklären. Da die herrschende Bürokratie aus diesem abgewirtschafteten System keine Vorteile mehr schöpfen konnte, begab sie sich aus freien Stücken an die Wiederherstellung des Kapitalismus, in der Annahme, dass sie dabei mehr zu gewinnen als zu verlieren hatte. Da sie einem System, das nie ihr eigenes und obendrein nicht in der Lage gewesen war, ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen, gleichgültig gegenüber stand, hatte die Arbeiterklasse kein objektives Interesse daran, es zu verteidigen. Da sich auch keinerlei politische Alternative anbot, gab es für sie nur noch die Lösung, die Entwicklung gleichgültig hinzunehmen oder ihr Heil im Nationalismus zu suchen, der hier auf ein fruchtbares Terrain stieß.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz