Julien Salingue
Am Abend des 9. November 1989 zerbrach ein Symbol des Kalten Krieges und der Unterdrückung der Völker des Sowjetblocks: Während Demonstrationen das ostdeutsche Regime erschütterten, attackierte die Bevölkerung in Berlin die im August 1961 errichtete Mauer und zerstörte sie. Die Jubel- und Verbrüderungsszenen zwischen den Menschen in Westberlin und Ostberlin verbreiteten sich über die ganze Welt und läuteten den Zusammenbruch des Sowjetblocks und das Ende des Kalten Krieges ein.
Der Fall der Berliner Mauer ist das Tat gewordene Symbol für das Ende eines Jahrhunderts, das 1917 durch die Russische Revolution und die Machtergreifung der Bolschewiki während des Ersten Weltkriegs eröffnet wurde und den Hintergrund für die Geburt des „kurzen 20. Jahrhunderts“ bildete, das der britische Historiker Eric Hobsbawm in seinem Meisterwerk Das Zeitalter der Extreme [1] sezierte. Für Hobsbawm war „die Welt, die Ende der achtziger Jahre in Stücke brach, […] eine Welt, die von den Auswirkungen der Russischen Revolution von 1917 geprägt worden war. Wir alle waren von ihr gezeichnet, etwa dergestalt, dass wir uns daran gewöhnt hatten, die moderne Industriegesellschaft in dem binären Gegensatzpaar von ›Kapitalismus‹ und ›Sozialismus‹ zu sehen; als sich gegenseitig ausschließende Alternativen, wobei die eine mit den nach dem Vorbild der UdSSR organisierten Volkswirtschaften und die andere mit dem Rest der Welt gleichgesetzt wurde.“
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Wenn auch in der Tat die immensen Hoffnungen, die durch die Oktoberrevolution geweckt worden waren, durch die bürokratische Konterrevolution des stalinistischen Thermidors längst zunichte gemacht worden waren, blieb doch die Existenz eines „anderen“ nicht-kapitalistischen Systems ein Schlüssel zum Verständnis der Welt. Der Mauerfall war kein Donnerschlag am heiteren Himmel, aber er beschleunigte den Zusammenbruch der UdSSR und des gesamten Sowjetblocks. Einige verkündeten daraufhin das „Ende der Geschichte“ und sahen den absoluten und endgültigen Triumph des neoliberalen Kapitalismus bevorstehen. Dreißig Jahre später kann man angesichts der wiederholten Krisen des Kapitalismus und der Instabilität des Systems bloß sagen, dass diese Propheten falsch lagen und dass die Idee einer „anderen möglichen – wenn nicht gar notwendigen – Welt“ überlebt hat. Insofern wollen wir heute auf diese Ereignisse, ihre Ursprünge, ihre Bedeutung und Auswirkungen zurückblicken, ohne dabei in Nostalgie, ebenso wenig jedoch in Resignation zu verfallen.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz