Es ist nicht sonderlich überraschend, dass der Verkauf von Literatur mit Bezug auf eine Pandemie in den letzten Wochen in die Höhe geschossen ist. Albert Camusʼ Die Pest, Stephen Kings Das letzte Gefecht und Dean R. Koontzʼ Die Augen der Finsternis [1] werden bei den Online-Versandhändlern stapelweise bestellt, da die Menschen ein gewisses Verständnis für die schreckliche Situation suchen, in der wir uns befinden. Wer eine Erklärung für die Dynamik hinter der Coronavirus-Pandemie sucht, wäre gut beraten, Mike Davisʼ gut recherchiertes, 2005 veröffentlichtes Buch The Monster at Our Door [2] zu lesen.
Paul Murphy
Angesichts der täglichen Entwicklungen, die die Mainstream-Medien und unsere Social-Media-Feeds dominieren, ist das Gefühl, von den Schrecken der Krise überwältigt zu werden, unvermeidlich. Das grausame Kalkül rechter Regierungen weltweit führt dazu, dass ganze Schichten Mystifizierung des Kapitalismus abgetragen werden. Von der Befürwortung einer Strategie der „Herdenimmunität“ durch die Tory-Regierung vor einigen Wochen bis hin zu Trumps inzwischen aufgegebenem Vorschlag, dass die USA nach Ostern wieder für das Geschäft öffnen würden – der Vorrang des Profits ist nicht schwer zu erkennen.
Mike Davis, Theoretiker des Urbanen und Sozialist, der wahrscheinlich durch sein Buch Planet der Slums [3] am bekanntesten ist, vermittelt allerdings ein tieferes Verständnis für die Verantwortung des kapitalistischen Systems. Auch wenn der Schwerpunkt seines Buches auf der Vogelgrippe liegt, zeichnet er die Geschichte der Pandemien in den letzten hundert Jahren nach, von der so genannten Spanischen Grippe 1918 über die Ebola-Krise bis hin zur Vogelgrippe, die alle für das Zeitalter des Corona-Virus ausgesprochen relevant sind.
Er leistet eine sehr gute Arbeit, wenn es darum geht, die Wissenschaft hinter Pandemien in relativ verständlicher Sprache zu erklären. Wie alle Lebewesen entwickeln sich Viren. Virenstämme, die ihre Ausbreitung maximieren, werden von der Evolution bevorzugt. Doch während sich Tiere über Millionen von Jahren entwickeln, leben Viren in dem, was Davis als die Überholspur der Evolution bezeichnet, und entwickeln sich Millionen Mal schneller als ihre Wirte.
Eine Methode der Evolution der Viren ist die jährliche Veränderung ihrer Aminosäuren oder des genetischen Codes, auf dessen Grundlage sie sich fortbewegen und vermehren, deshalb wird für die saisonale Grippe in jedem Jahr ein anderer Impfstoff benötigt. Ein weiterer Evolutionssprung findet statt, wenn ein Virus von einer Spezies auf eine andere überspringt, zum Beispiel von einem Vogel auf einen Menschen. Es erreicht einen „Antigenshift“, indem es entweder Gene mit einer Variante eines Virus austauscht, die bereits in einer anderen Tierart vorhanden ist, oder indem es sich selbst so mutiert, dass es den Übergang vollzieht. Der andere Mechanismus, durch den ein neues Virus entsteht, ist die Rekombination – das ist genau das, wonach es sich anhört: wenn in der Tat verschiedene Virusarten zusammenkommen, um ein neues Virus zu bilden. Auch wenn der genaue Ursprung des aktuellen Covid-19-Virus noch nicht bekannt ist, haben Wissenschaftler*innen die These aufgestellt, diese neue Version, der Corona-Virus sei durch den Sprung von einem nichtmenschlichen Tier, vielleicht einer Fledermaus oder einem Schuppentier, auf einen Menschen entstanden.
Der kalifornische Soziologe, Historiker und Urbanist Mike Davis (Jg. 1946) wird der „Los Angeles School of Urban Studies“ zugerechnet und versteht sich als „Marxist-Environmentalist“. Von seinen zahlreichen Büchern erschienen die meisten Übersetzungen ins Deutsche zwischen 1994 und 2007 bei Schwarze Risse bzw. Assoziation A. Lieferbar sind zur Zeit drei Titel von Assoziation A: Die Geburt der Dritten Welt– Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter (2001; dt. 3. Aufl. 2019); Planet der Slums (2006; dt. 2007); Casino-Zombies und andere Fabeln aus dem Neon-Westen der USA (1999); siehe: https://www.assoziation-a.de/buch/nachautoren/C-F. Ein Artikel, der 2004 in analyse und kritik erschien, und vier Beiträge aus der SoZ sind verzeichnet bei https://www.linksnet.de/autorin/davis_mike. |
So weit, so natürlich. Viren existieren in der Natur und tödliche Pandemien sind möglich. Davis argumentiert jedoch überzeugend, dass die von der menschlichen Gesellschaft geprägte Umwelt ernsthafte Virenausbrüche wahrscheinlicher gemacht hat. Tatsächlich ist die Ära der Pandemien ein Teil des Anthropozän, einer Periode in der Erdgeschichte, in der menschliche Aktivitäten einen dominierenden Einfluss auf die Umwelt haben.
Die menschlichen Aktivitäten sind im Kapitalismus auf der Grundlage von privatem Besitz von Reichtum und von Streben nach Profit organisiert. Er hat die drei Faktoren vorangetrieben, die zusammen das Auftreten von Pandemien wesentlich erhöht haben: Superurbanisierung der Tierpopulationen, Entwaldung und Überfischung sowie Verstädterung in weniger entwickelten Ländern.
Die Superurbanisierung der Viehzucht besteht im Wesentlichen in der Schaffung riesiger Fabrikfarmen mit einer dichten Konzentration von Tieren. Davis berichtet von einem Gebiet im Westen von Arkansas und im Norden von Georgia, wo pro Jahr mehr als eine Milliarde Hühner für die Fleischproduktion geschlachtet werden! In solch einer Umgebung kann sich das Virus schnell von Tier zu Tier ausbreiten und die Evolutionsrate des Virus dramatisch erhöhen.
Entwaldung und Überfischung haben die Bevölkerung um traditionelle Proteinquellen gebracht und sie dazu gedrängt, andere, nicht domestizierte Tiere zu essen, das so genannte „bushmeat“ (Buschfleisch). Da sie nicht, wie Kühe, Hühner und andere „Nutztiere“, in unmittelbarer Nähe zu menschlichen Populationen gelebt haben, haben diese Tiere Viren, die unserem Immunsystem unbekannt sind. Wenn Menschen gezwungen sind, nach anderen tierischen Proteinen zu suchen, erhöht dies die Chance, dass ein neues Virus den Sprung zum Menschen schafft.
Mike Davis bezieht sich auf eine Studie, die die Zerstörung der lokalen Fischereiindustrie in Westafrika durch Supertrawler aus Europa aufzeigt. Das Ergebnis ist ein Anstieg der Fischpreise, dadurch ist Fisch für viele Einheimische unerschwinglich geworden. Fisch ist durch „bushmeat“ ersetzt worden. Nun werden in jedem Jahr 400 000 Tonnen verschiedener Wildtiere gegessen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Viren den Sprung vom Tier zum Menschen schaffen. Man geht heute davon aus, dass AIDS auf diese Weise von einem Affen auf den Menschen übertragen wurde.
Die Entstehung riesiger Slums mit einer hohen Dichte an Menschen und ihren Haustieren in Verbindung mit unzureichenden sanitären Einrichtungen beschleunigt ebenfalls die Entwicklung und Verbreitung von Viren. Davis erwähnt aus diesem Grund ausdrücklich Südchina und Guangdong, eine Provinz südlich von Wuhan, als potenzielle Pandemie-Schauplätze.
Er macht auch auf die verheerenden Auswirkungen von Pandemien in ärmeren Ländern aufmerksam. Die Tatsache, dass „jedem Autor, der über die Pandemie publizierte, der besondere Zusammenhang von Krankheit und Armut, schlechten Wohnbedingungen und ungenügender Ernährung aufgefallen sein“ musste, sollte jetzt Alarm auslösen. Die Arbeitslosigkeit stellte „einen ebenso verlässlichen Indikator für die Sterblichkeit (dar) als eher konventioneller epidemiologische Faktoren wie Personendichte pro Wohnraum“. [4] Die Berichterstattung bezieht sich zum größten Teil auf die fortgeschrittene kapitalistische Welt, dagegen ist es bedauerlicherweise sehr wahrscheinlich, dass die neokoloniale Welt aufgrund der hoffnungslos unterfinanzierten Gesundheitsdienste eine viel höhere Sterblichkeitsrate erleiden wird.
Andere Elemente der Pandemiegeschichte sind für Sozialist*innen vielleicht von vorherein klar – eine Pharmaindustrie, die sich nur um die Bilanzen kümmert, und Regierungen, die bereit sind zu lügen und zu vertuschen, um die Profite großer Konzerne zu schützen. Die Einzelheiten, die Davis liefert, sind allerdings frappierend und an sich schon ein starkes Argument für öffentliches Eigentum und Arbeiterkontrolle über die großen Pharmakonzerne.
Tatsächlich haben sie die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen fast völlig vernachlässigt, weil sie einfach nicht profitabel genug sind. Die weltweiten Verkäufe aller Impfstoffe von allen Pharmaunternehmen bringen weniger Einnahmen, als Pfizer mit einem einzigen Anti-Cholesterin-Medikament erzielt! Diese Unternehmen, die davon reden, wie wichtig geistiges Eigentum und Patente sind, damit sie in die Forschung investieren können, investieren in Wirklichkeit nur 11 % ihrer Einnahmen in die Forschung, während sie 27 % für Marketing ausgeben. Die Irrationalität, private Profite bestimmen zu lassen, welche Medikamente erforscht und entwickelt werden, ist kristallklar.
Auch die Vertuschung durch die Regierung, wie während des Ausbruchs der Vogelgrippe in den Jahren 2003 und 2004, ist ein durchgängiges Merkmal. In Thailand ist dies von der größten Agrobusiness-Firma in Asien betrieben worden, von der Charoen Pokphand Company (bekannt als CP). Um ihre Profite zu schützen, ging die Regierung mit CP eine Absprache ein, um Vertragslandwirte zu bezahlen, damit sie über ihre infizierte Herde schweigen, und bemühte sich um Geschäfte für den Export der mit Virus befallenen Tiere.
Solches Versagen der Regierung ist nicht auf Asien beschränkt. Mike Davis skizziert die Zerstörung der öffentlichen Gesundheitssysteme in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt, vor allem in den USA. Trumps Abbau einer Einheit des Nationalen Sicherheitsrats, die sich auf die Vorbereitung auf eine Pandemie konzentrierte, war nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen dessen, was vor ihm sowohl von den Republikanern als auch von den Demokraten angerichtet worden ist. Davis trägt eine vernichtende Kritik ihres Fokus auf eine übertrieben dargestellte Bedrohung durch Bioterrorismus vor, während sie die Kürzungen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und den chronischen Mangel an Impfstoffen und Tamiflu, einem antiviralen Medikament, das als erste Verteidigungslinie gegen eine Grippepandemie dienen sollte, billigten.
Wenn die schrecklichen Folgen dieser globalen Pandemie deutlich werden, werden immer mehr Menschen nach Antworten suchen. Warum hat diese Pandemie stattgefunden? Wie konnte es sein, dass die Regierungen so unvorbereitet waren? Was hätte man anders machen können, um die Pandemie ganz zu vermeiden oder ihre Auswirkungen abzuschwächen? Davisʼ Buch liefert den Sozialist*innen Information, um diese Fragen zu beantworten und die Schuld des gefühllosen kapitalistischen Systems aufzuzeigen.
Inspirierende Solidarität und Aktionen, die heute stattfinden, – von General-Electric-Arbeiter*innen, die einen Ausstieg inszenieren, um zu fordern, dass ihre Fabriken auf die Produktion von Beatmungsgeräten umgestellt werden, bis hin zu den Solidaritätsgruppen in der Nachbarschaft, die in ganz Irland gegründet werden, – sollten uns Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen aus der Arbeiterklasse geben, die Kontrolle zu übernehmen und die Gesellschaft auf einer rationalen öko-sozialistischen Grundlage zu organisieren. Eine zentrale Aufgabe wird es sein, die durch das kapitalistische System verursachte Kluft zwischen Natur und Mensch zu heilen. Das ist notwendig, nicht nur, um uns vor der Bedrohung durch künftige Pandemien zu schützen, sondern auch, um die drohende Klimakatastrophe zu verhindern.
Aus dem Englischen übersetzt von Wilfried Dubois; die Anmerkungen wurden vom Übersetzer hinzugefügt. Quelle: https://www.letusrise.ie/coronavirus-1/monster-at-our-door-review (3. April 2020) Auf Jacobin ist am 27. April 2020 ein Artikel von Mike Davis über schnelle und umfangreichen Lockerungen in der US-amerikanischen Wirtschaft veröffentlicht: https://www.jacobinmag.com/2020/04/mike-davis-economy-coronavirus-crisis-trump Am 14. März hatte Jacobin einen weiteren Beitrag von Mike Davis veröffentlicht, in dem er sich mit dem Monster an der Tür beschäftigt und für eine internationale öffentliche Gesundheitsinfrastruktur plädiert: https://www.jacobinmag.com/2020/03/mike-davis-coronavirus-outbreak-capitalism-left-international-solidarity. Diesen Artikel gibt es auch auf Deutsch: https://jacobin.de/artikel/mike-davis-corona-virus-vogelgrippe/ |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz