Kaum eine Stunde, nachdem ich letzte Woche einen Artikel über die „israelische Einschüchterungsstrategie“ geschrieben hatte, startete der israelische Geheimdienst eine Massenterroroperation im Libanon, indem er in zwei aufeinanderfolgenden Wellen an zwei Tagen tausende Kommunikationsgeräte in die Luft jagte und dabei mehr als 40 Menschen tötete und mehr als 3500 verletzte.
Gilbert Achcar
Dem folgte eine Eskalation mit gegenseitigen Bombardements zwischen der Hisbollah und den israelischen Aggressionskräften (den sogenannten „Verteidigungskräften“) als Vorspiel zu den massiven Bombenangriffen, die sich am Montag, den 23.9. über den Süden des Libanon und andere Gebiete mit Hisbollah-Stellungen ergossen und fast 500 Menschen töteten und mehr als 1600 verletzten.
Israelische Bodentruppen im Libanon (Foto: IDF Spokesperson's Unit, 2022) |
Die Bombardements dauern zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen immer noch an.
Damit stellt sich die Frage, ob diese plötzliche Eskalation dessen, was wir als „israelische Einschüchterungsstrategie“ bezeichnet haben, das Vorspiel zu einer breit angelegten Aggression gegen den Libanon ist. Gemeint sind wahllose intensive Bombardements aller Gebiete, in denen die Hisbollah präsent ist, einschließlich der dicht besiedelten südlichen Vororte von Beirut, mit dem Ziel, diese „wie Gaza aussehen zu lassen“, wie es einer der engsten Mitarbeiter Benjamin Netanjahus ausdrückte. Es ist in der Tat zu befürchten, dass der zionistische Staat eine brutale Aggression gegen Teile des Libanon durchführen wird, ähnlich den Angriffen auf den gesamten Gazastreifen, gemäß dem, was einer der Befehlshaber der israelischen Aggression gegen den Libanon im Jahr 2006 als „Dahiya-Doktrin“ bezeichnete (in Anlehnung an die südlichen Vororte von Beirut, wobei das arabische Wort dahiya „Vorort“ bedeutet).
Diese Doktrin zielt darauf ab, jeden, der Israel zu widerstehen versucht, durch massive Gewaltandrohungen abzuschrecken. Dies gilt namentlich für Gebiete, die von einer als „feindlich“ erachteten Zivilbevölkerung bewohnt werden, analog zu 2006, als die südlichen Vororte von Beirut als „Hochburgen“ der Hisbollah ins Visier genommen wurden.
Damals überquerten Hisbollah-Kämpfer die Südgrenze des Libanon, töteten acht israelische Soldaten und nahmen zwei gefangen. Die darauf folgenden Angriffe der Israelis hatten zweifellos eine solch abschreckende Wirkung, dass auch der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, sein Bedauern zum Ausdruck brachte, als er nach diesem Krieg im Fernsehen erklärte: „Wenn ich nur annähernd geahnt hätte, dass diese Entführungsaktion zu einem Krieg dieses Ausmaßes führen würde, hätten wir sie aus humanitären, moralischen, militärischen, sozialen, sicherheitsrelevanten und politischen Gründen sicherlich nicht durchgeführt.“
Die westlichen Medien sind schnell bei der Hand, Kriegsverbrechen von Feinden des Westens zu verurteilen, etwa des russischen Regimes in der Ukraine. Verschwiegen wird hingegen, dass die „Dahiya-Doktrin“ kein Beispiel für militärische Genialität ist, das es wert ist, an den militärischen Hochschulen zivilisierter Länder gelehrt zu werden, sondern vielmehr eine eklatante Verletzung des Kriegsrechts. Dabei werden Kriegsverbrechen im großen Stil begangen, bis hin zum Völkermord in Gaza mit der ausdrücklichen Absicht, Zivilisten aufs Korn zu nehmen, um den Gegner abzuschrecken. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine von einem Terrorstaat par excellence ausgearbeitete terroristische Strategie, mithin eine eindrucksvolle Bestätigung dafür, dass der Staatsterrorismus viel gefährlicher ist als der Terrorismus nichtstaatlicher Gruppen, da er dieselbe Logik anwendet, nämlich die Tötung von Zivilisten zu politischen Zwecken, jedoch mit einem unermesslich größeren Ausmaß an Tod und Zerstörung.
Die Hisbollah hat aus dem 33-Tage-Krieg von 2006 zwei Lehren gezogen. Erstens berücksichtigt sie seither eine „rote Linie“, um dem zionistischen Staat keinen neuen Vorwand für Angriffe auf libanesische Zivilisten zu liefern. Um in erster Linie ihre Basis in der Bevölkerung zu schonen, führte die Hisbollah keine waghalsigen Operationen mehr durch, wie die von 2006 oder wie sie die Hamas vor etwa einem Jahr beging und damit den Krieg mit der Zerstörung des Gazastreifens und das Massaker an der dortigen Bevölkerung auslöste. Zweitens baute die Hisbollah ein riesiges Raketenarsenal auf und damit ein Abschreckungspotential zur Bedrohung ziviler Gebiete innerhalb des zionistischen Staates, was im Vokabular der nuklearen Abschreckung als „Gleichgewicht des Schreckens“ bezeichnet wird.
Es liegt in dieser Logik, dass sich die Hisbollah am Tag nach der Operation „Flut von Al-Aqsa“ auf einen begrenzten Zermürbungskrieg mit dem zionistischen Staat beschränkte, um so in gewisser Weise dem Aufruf der Hamas zur Teilnahme an dem von dieser angezettelten Krieg Folge zu leisten. Dieser Aufruf war in der Botschaft des militärischen Führers der Islamischen Bewegung im Gazastreifen, Mohammed al-Deif, enthalten, die zu Beginn der Operation ausgestrahlt wurde: „O Brüder des islamischen Widerstands im Libanon, Iran, Jemen, Irak und Syrien, der Tag ist gekommen, an dem euer Widerstand mit eurem Volk in Palästina verschmelzen wird, damit dieser schreckliche Besatzer begreift, dass die Zeit, in der er wütete und unsere Geistlichen und Führer ermordete, vorbei ist. Die Zeit der Plünderung eurer Reichtümer ist vorbei. Die fast täglichen Bombardements in Syrien und im Irak werden aufhören. Die Zeit der Spaltung der muslimischen Gemeinde und der Vergeudung ihrer Kräfte in internen Konflikten ist vorbei. Die Zeit ist gekommen, dass sich alle arabischen und islamischen Kräfte vereinen, um diese Besetzung unserer heiligen Stätten und unseres Landes hinwegzufegen.“
Die Hisbollah war jedoch klug genug, sich nicht von dieser Euphorie mitreißen zu lassen und zu glauben, dass der Tag des Sieges über Israel und der Befreiung Palästinas gekommen sei. Daher beschloss sie, wohl als Unterstützer, aber nicht als vollwertiger Kriegsteilnehmer aufzutreten und bloß einen begrenzten Abnutzungskrieg zu führen. Die Partei wollte damit ihre Solidarität mit den Menschen in Gaza zum Ausdruck bringen, aber ihre Basis in der Bevölkerung nicht einem ähnlichen Schicksal wie die dortigen Bewohner:innen aussetzen. Diese Rechnung geht nun jedoch nicht auf, denn die zionistische Aggressionsarmee hat ihre intensiven Großeinsätze in Gaza beendet, konzentriert sich nun auf ihre Nordfront und hat die von uns als „Einschüchterungsstrategie“ bezeichnete schrittweise Eskalation der Angriffe eingeleitet, verbunden mit der Drohung, zur Umsetzung der „Dahiya-Doktrin“ überzugehen.
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Diese Vorgehensweise Israels zeigt, dass die Abschreckungsstrategie der Hisbollah wirkt und die zionistische Regierung vorsichtig sein muss, bevor sie einen umfassenden Krieg beginnt, der die israelische Bevölkerung teuer zu stehen kommt, auch wenn die Kosten für die Hisbollah-Anhänger angesichts der haushohen israelischen militärischen Überlegenheit weitaus höher liegen werden. Die zionistische Regierung wählte daher zunächst eine Eskalationsstrategie der „asymmetrischen Kriegsführung“, ein Begriff, der gemeinhin das Vorgehen einer irregulären Einheit gegen eine reguläre Armee beschreibt. Hierbei war es der zionistische Staat, der der Hisbollah und ihrem zivilen Umfeld einen hinterhältigen und schmerzhaften Schlag versetzte, indem er Kommunikationsgeräte explodieren ließ. Darauf folgte eine Eskalation der konventionellen Kriegsführung, die am Montag begann und massiv zunehmenden Druck auf die Hisbollah ausüben soll, um sie zur Kapitulation und zur Annahme der von Washington mit Billigung der zionistischen Regierung gestellten Bedingungen zu zwingen und damit v. a. zum Rückzug der Hisbollah bis nördlich des Litani-Flusses.
Angesichts dieses wachsenden Drucks steckt die Hisbollah in der Falle einer zwar gegenseitigen, aber ungleichen Abschreckung. Sie verfügt nicht über die Fähigkeit, einen „asymmetrischen Krieg“ im Herzen Israels zu führen und dort Hunderte von Toten in Kauf zu nehmen, so wie es die zionistische Armee am Montag im Libanon getan hat. Sie weiß genau, wie die Reaktion ausfiele, da Israel durchaus auf einem viel höheren Niveau zurückschlagen kann. Die zionistische Regierung ihrerseits ist sich der Spielregeln durchaus auch bewusst. Obwohl sie die Abschreckungsfähigkeit der Hisbollah zerschlagen will, kann sie keinen umfassenden Krieg beginnen, ohne sich der vollen Rückendeckung der USA zu versichern, wie dies Washington mehrere Monate lang beim Krieg gegen Gaza getan hat – die Zeit, als es die meisten Toten und Zerstörungen gab –, indem es alle Aufrufe zu einem Waffenstillstand sabotierte. Die zionistische Regierung braucht die volle Mitwirkung der USA für einen umfassenden Angriff auf den Libanon, wofür die politischen Voraussetzungen allerdings noch nicht gegeben sind. Sie bemüht sich jedoch darum und könnte der Hisbollah zu diesem Zweck ein Ultimatum mit einer begrenzten Frist stellen.
All dies deutet darauf hin, dass Netanjahu allmählich befürchtet, dass sein Freund Donald Trump bei den nächsten US-Präsidentschaftswahlen in etwa eineinhalb Monaten scheitern könnte. Offensichtlich hat er sich deswegen entschlossen, die Lage zu eskalieren und die letzten Monate zu nutzen, in denen sein anderer Freund, der „stolze irisch-amerikanische Zionist“ Joe Biden, im Weißen Haus sitzt. Die Frage ist nun: Wird Biden genügend Druck auf Netanjahu ausüben, um einen Krieg zu verhindern, der sich negativ auf die Kampagne der Kandidatin seiner Partei, Kamala Harris, auswirken könnte, oder wird er erneut das kriminelle Vorgehen seines Freundes unterstützen und bloß Bedauern und Unmut heucheln, um seine Hände und die seines Außenministers Blinken in Unschuld zu waschen?
Quelle: Französische Übersetzung der arabischen Tageszeitung Al-Quds al Arabi vom 25.9.2024. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz