Nahost

Wo steht die Hisbollah heute?

Auch wenn die Ermordung von Hassan Nasrallah ein schwerer Schlag für die Hisbollah ist, ist sie noch nicht am Ende.

Joseph Daher

Die blutige Gewalteskalation Israels gegen den Libanon in den letzten Wochen hat der Hisbollah einen schweren Schlag versetzt, insbesondere nach der Ermordung von Hassan Nasrallah. Zunächst wurden Kommunikationsgeräte zur Detonation gebracht, die von Hisbollah-Mitgliedern, darunter auch Zivilisten und Soldaten, benutzt wurden. Dabei starben 39 Menschen und mehrere Tausend wurden verwundet. Seither findet eine massive Bombenkampagne statt, bei der hohe militärische und politische Parteiführer liquidiert sowie fast zweitausend Zivilisten getötet und über einer Million Menschen vertrieben wurden.


Personenkult um Nasrallah …


 

Parade der Hisbollah

(Foto: IDF Spokesperson's Unit, 2022)

In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Partei in der Öffentlichkeit einen Personenkult um Hassan Nasrallah betrieben. Besonders deutlich wurde dies nach dem Krieg Israels gegen den Libanon 2006, als ihr ursprünglicher Slogan „Nasr al-ilâhi“ in „Nasrun min Allâh“ (Mit Gott zum Sieg) [1] geändert wurde, ein Wortspiel mit Hassan Nasrallahs Namen. Dies war Teil der Imagepflege des Führers in den Medienkampagnen der Partei.

Während die Hisbollah bei anderen religiösen Gruppierungen im Libanon und sogar im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika sehr populär war, hatte Nasrallahs Ansehen außerhalb der Parteibasis nach dem Krieg 2006 erheblich abgenommen. Grund dafür war u. a. das militärische Vorgehen der Hisbollah gegen andere libanesische Organisationen, bspw. 2008 in bestimmten Stadtvierteln im Westen Beiruts und auch in anderen Regionen, insbesondere in Schûf, wo es zu militärischen Auseinandersetzungen kam, nachdem die libanesische Regierung angekündigt hatte, das Kommunikationsnetz der Partei verbieten zu wollen. Zudem beteiligte sich die Hisbollah später an der blutigen Niederschlagung des syrischen Aufstandes an der Seite des despotischen syrischen Regimes, was ebenfalls zu konfessionellen Spannungen im Libanon führte.

Außerdem wird die Hisbollah neben anderen Parteien für die Wirtschafts- und Finanzkrise 2019 verantwortlich gemacht, da sie seit 2005 an jeder Regierung der nationalen Einheit beteiligt war. Nasrallah distanzierte sich vehement von der damaligen Protestbewegung und beschuldigte die Demonstranten, von ausländischen Botschaften finanziert zu werden. Dies ging so weit, dass protestierende Menschen von Hisbollah-Mitgliedern angegriffen wurden.

Immer wieder waren Hisbollah-Mitglieder in den letzten Jahren in Auseinandersetzungen mit Angehörigen anderer religiöser Gruppierungen verwickelt, und die Hisbollah galt gar als einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass die Ursache für die Explosionen im Hafen von Beirut im August 2020 nicht aufgearbeitet wurde.

Insofern hat sich die Hisbollah außerhalb ihrer schiitischen Basis politisch und gesellschaftlich immer weiter isoliert. Nasrallah wurde nicht nur als Galionsfigur des nationalen Widerstands, sondern auch zunehmend als sektiererischer „Zaim“ (Führer) wahrgenommen, der bloß die politischen Interessen seiner Partei und die autoritärer Regime wie Syrien und Iran vertritt.

Diese Isolierung hat dazu beigetragen, dass die Partei nach dem 7. Oktober einen offenen Krieg mit Israel vermeiden wollte. Durch ihre bloß punktuellen und eher symbolischen Angriffe auf militärische Ziele Israels wollte die Hisbollah verhindern, dass der Konflikt von innenpolitischen Gegnern im Libanon ausgenutzt wird, sie erneut zum Hauptverantwortlichen für die ganze Misere des Landes zu stempeln. Der jetzt stattfindende Angriff Israels auf den Libanon mit Unterstützung der USA hat dieses Kalkül durchkreuzt.


… und wie weiter nach seinem Tod


Die Führung der Hisbollah versucht jetzt unter Beweis zu stellen, dass die Partei ihre bisherige Orientierung auch nach der Ermordung ihres ehemaligen Generalsekretärs und einer Reihe hoher militärischer und politischer Kader beibehält. Der Interimsführer Naim Qassem unterstrich dies in seiner Rede vor Anhängern und Mitgliedern mit den Worten: „Wir treten in die Fußstapfen von Hassan Nasrallah“.

Für die Hisbollah geht es nun in erster Linie darum, ihre internen Strukturen und die Hierarchie zu schützen, indem sie das nun entstandene Vakuum an der Parteispitze und in den verschiedenen politischen und militärischen Verantwortungsbereichen beseitigt und einen neuen Generalsekretär wählt.

Hassan Nasrallah

(Foto: Khamenei.ir, 2019)

 

Zweitens ist die Partei bestrebt, ihre Ziele im Krieg mit Israel aufrechtzuerhalten: keine Spaltung der Fronten in Gaza und im Libanon bis zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen und Aufrechterhaltung und Schutz ihrer militärischen Infrastrukturen und Kapazitäten, einschließlich der Langstreckenraketen und -flugkörper, vor den Angriffen und Bodenoffensiven Israels.

Hierbei gilt, dass die Partei trotz der erheblichen Rückschläge derzeit immer noch der wichtigste politische Akteur im Libanon ist. Ihr Einfluss erstreckt sich auch über die Landesgrenzen hinaus, insbesondere in Syrien, wo sie ebenfalls die politischen Interessen Teherans in der Region vertritt.

Die militärischen Kapazitäten der Hisbollah sind trotz der israelischen Invasion, der Schwächung der internen Kommunikation und der Ermordung zahlreicher militärisch erfahrener Kommandeure nach wie vor ihr wichtigstes Kapital. Vor allem verfügt sie über ein großes Arsenal an Raketen und Flugkörpern. Erstmals seit dem 7. Oktober hat die Partei kürzlich verschiedene Fadi-Raketen (Mittelstreckenraketen) eingesetzt, um militärische Einrichtungen in den Außenbezirken der Städte Haifa und Tel Aviv zu treffen. Bei den ersten Versuchen der israelischen Armee, in libanesisches Gebiet einzudringen, zerstörten die Hisbollah-Soldaten ihre Merkava-Panzer und verletzten und töteten einige ihrer Soldaten.

Neben ihrem militärischen Flügel verfügt die Partei über ein großes Netz von Einrichtungen für grundlegende Dienstleistungen, auch wenn dieses Netz durch den Krieg und die damit einhergehenden wachsenden Nöte der Bevölkerung teilweise unzureichend wurde. Vor diesem Hintergrund wird die Basis der Hisbollah höchstwahrscheinlich bestehen bleiben – insbesondere in Ermangelung einer umfassenden politischen Alternative und angesichts einer anhaltenden Wirtschaftskrise mit einem nicht funktionierenden Staat.

      
Mehr dazu
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Auf regionaler Ebene profitiert die Hisbollah nach wie vor von der Unterstützung durch den Iran, auch wenn diese in Teilen der Partei nach den jüngsten Attentaten und Zerstörungen Israels schwächer geworden ist. Die strategischen Ziele Teherans, insbesondere seit dem 7. Oktober, bestehen in der Tat darin, seine regionale geopolitische Position zu stärken, um seine künftige Verhandlungsposition gegenüber den USA in Bezug auf atomare Anlagen und Sanktionen zu stärken. Der Iran versucht dadurch, seine politischen und sicherheitspolitischen Interessen zu wahren und gleichzeitig einen direkten regionalen Konflikt mit Israel und den USA zu vermeiden.

Irans jüngste Vergeltungsmaßnahmen gegen Israel, die keine nennenswerten Schäden verursacht haben, sind in diesem Rahmen zu sehen. Natürlich haben sie damit auch versucht, in gewisser Weise ihr Abschreckungspotential zu demonstrieren, auch wenn dies gemessen an den überlegenen israelischen Militärkapazitäten und der Unterstützung durch Washington völlig asymmetrisch gewesen ist. Außerdem wird dies den Krieg Israels gegen den Libanon nicht aufhalten.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sich die Hisbollah in der gefährlichsten Situation seit ihrer Gründung befindet, was sich angesichts der anhaltenden Angriffe Israels und der Isolation der Partei innerhalb des Libanon wahrscheinlich nicht bald verbessern wird.

Während die Hauptstärke der Bewegung darin bestand, eine starke und disziplinierte Organisation aufzubauen und keine „Ein-Mann-Veranstaltung“ zu betreiben – trotz des Personenkults um Nasrallah –, kann die Partei wegen ihrer politischen Strategie und Orientierung ihre Basis kaum ausbauen. Die Hisbollah hat es versäumt, eine Gegenhegemonie aufzubauen, die das unter den Konfessionen austarierte neoliberale System im Libanon infrage stellt. Sie hat es vielmehr aktiv unterstützt und ist zu einem seiner Hauptstützen geworden.

Zudem fungiert die Partei als entscheidender Transmissionsriemen der iranischen Einflussnahme und Interessen in der Region, insbesondere nach dem Beginn der Aufstände in Syrien und im gesamten Nahen Osten und Nordafrika 2011. Sie fördert damit ebenfalls eine neoliberale autoritäre Ordnung, die der Emanzipation und Befreiung der Völker entgegensteht.

Mit anderen Worten, die Hisbollah ist, wie auch andere regionale politische Akteure, die am Widerstand gegen Israel beteiligt sind, nicht in der Lage, eine umfassende Bewegung aufzubauen, die demokratische und soziale Anliegen miteinander verknüpft, allen imperialistischen und subimperialistischen Kräften Widerstand leistet und gleichzeitig den sozialen Wandel von unten durch den Aufbau von Bewegungen fördert, in denen die Unteren die wahren Akteure ihrer Emanzipation sind.

Aus: New Arab vom 5.10.2024
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Hassan Nasrallah hieß schon von Kindesbeinen an so. Der „Leitspruch“ der Hisbollah [idhâ dschâ’] nasr-al-ilâhi ist wie dieser Name der Beginn einer der letzten Suren und wird heute genau so ausgesprochen wie der Name Hassans. Das mag dazu geführt haben, dass der Leitspruch geändert wurde in nasr-un min Allah, was fast dasselbe bedeutet: „die Hilfe Allahs[und Sieg]“ bzw. „eine Hilfe Allahs …“ Anm. d. Red.