Auch wenn in der Vergangenheit der moralische Diskurs in Israel über dessen Militäraktionen eng und heuchlerisch gewesen sein mag – wenigstens gab es ihn. Inzwischen wird das nicht einmal mehr diskutiert.
Meron Rapoport
Am 10. August um 5 Uhr 40 schickte der Sprecher der IDF [Israel Defense Forces, d. Red.] eine Nachricht an die Reporter, in der er sie über einen israelischen Luftangriff auf ein „militärisches Hauptquartier, das sich auf dem Gelände der Al-Taba‘în-Schule in der Nähe einer Moschee auf dem Gebiet von Daradsch und Tuffah befindet, die als Zufluchtsort für die Bewohner von Gaza-Stadt dient“, informierte.
Al-Tabieen-Schule (Foto: حسام شبات, 10.8.2024) |
„Das Hauptquartier“, so der Sprecher weiter, „wurde von Terroristen der Hamas-Terrororganisation als Versteck genutzt, von wo aus sie Terroranschläge gegen die IDF und die Bürger des Staates Israel planten und unterstützten. Vor dem Angriff wurden viele Schritte unternommen, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass Zivilisten zu Schaden kommen, einschließlich des Einsatzes von Präzisionsmunition, visueller Ausrüstung und nachrichtendienstlichen Informationen.“
Kurz nach dieser Ankündigung gingen schockierende Bilder aus der Al-Taba‘în-Schule um die Welt, auf denen Haufen von zerstückelten Körpern und Leichenteilen zu sehen waren, die in Plastiksäcken abtransportiert wurden. Die Bilder wurden von Berichten begleitet, wonach rund 100 Palästinenser:innen bei dem israelischen Angriff getötet worden waren und viele weitere im Krankenhaus lagen. Die meisten der Getöteten befanden sich mitten im Fadschr, dem Morgengebet, an einem dafür vorgesehenen Platz auf dem Schulgelände.
In den darauffolgenden Stunden und Tagen wurden erwartungsgemäß die unterschiedlichsten Versionen über die Zahl der zivilen Todesopfer verbreitet. Der IDF-Sprecher veröffentlichte die Fotos und Namen von 19 Palästinensern, von denen er behauptete, es handele sich um „Agenten“ der Hamas oder des Islamischen Dschihad, die bei dem Angriff getötet wurden, ohne dabei jedoch ihre angebliche Position oder ihren Rang zu nennen.
Die Hamas wies die Anschuldigungen zurück. Auch „Euro-Med Human Rights Monitor“ bestritt diese Informationen der israelischen Armee: Die Nichtregierungsorganisation wies nach, dass einige der von den Militärs gelisteten Personen in Wahrheit bei früheren Angriffen im Gazastreifen getötet worden waren und dass andere nie Anhänger der Hamas und einige sogar deren Gegner gewesen waren. Später veröffentlichte die Armee eine zusätzliche Liste mit 13 weiteren Palästinensern, bei denen es sich angeblich um bei dem Bombardement getötete Kämpfer handelte.
Während nur eine unabhängige Untersuchung die Identität aller Opfer des Angriffs endgültig feststellen kann, ist die erste Erklärung des IDF-Sprechers ein Hinweis auf den dramatischen Wandel, den die israelische Gesellschaft in Hinblick auf den Wert des Lebens der Palästinenser:innen in Gaza vollzogen hat.
In der Erklärung der IDF hieß es ausdrücklich, dass die Schule „als Zufluchtsort für die Bewohner von Gaza-Stadt dient“, was bedeutet, dass die IDF wusste, dass die Flüchtlinge aus Angst vor den Bombenangriffen der Armee dorthin geflohen waren. In der Erklärung wurde nicht behauptet, dass von der Schule aus Schüsse oder Raketenangriffe erfolgten, sondern dass „Hamas-Terroristen ... von der Schule aus terroristische Handlungen geplant und unterstützt“ hätten. Es wurde auch nicht behauptet, dass die Zivilisten, die in der Schule Zuflucht suchten, gewarnt wurden, sondern nur, dass die Armee „Präzisionswaffen“ und „Geheimdienstinformationen“ eingesetzt habe. Mit anderen Worten: Die Armee bombardierte einen bewohnten Unterschlupf, wohl wissend, welche tödlichen Folgen ihr Angriff haben würde.
Es überrascht kaum, dass die israelischen Medien die Behauptungen des IDF-Sprechers stützten. Wenn es um die eklatanten Sicherheitsmängel geht, die zum 7. Oktober führten, dürfen die israelischen Medien, insbesondere die rechten, Kritik und Skepsis gegenüber der Armee äußern. Aber wenn es um die Tötung von Palästinenser:innen geht, wird diese Skepsis über Bord geworfen: In Gaza hat die Armee immer Recht.
„Im Krieg sind die Schulen tabu“, schrieb Prof. Juli Tamir, Israels ehemaliger Bildungsminister, in Haaretz. „Gibt es einen einzigen Kommandeur, der sagt: ‚Nie wieder’?“ Die Antwort ist ein klares Nein. Jeder Krieg bringt ein gewisses Maß an Entmenschlichung des Feindes mit sich. Aber im aktuellen Krieg in Gaza ist offensichtlich die Entmenschlichung der Palästinenser:innen nahezu absolut.
Nach jedem Krieg der letzten Jahrzehnte, in dem Israelis gekämpft haben, gab es öffentliche Reuebekundungen. Dies wurde oft als eine Mentalität des „Schießens und Weinens“ kritisiert – aber zumindest haben die Soldaten geweint.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurde das sehr erfolgreiche Buch The Seventh Day: Soldiers’ Talk about the Six-Day War (Der siebte Tag: Soldaten sprechen über den Sechstagekrieg) veröffentlicht. Es enthält die Aussagen von Soldaten, die versuchen, sich mit den moralischen Dilemmata auseinanderzusetzen, denen sie während der Kämpfe ausgesetzt waren. Nach den Massakern von Sabra und Schatila im Jahr 1982 gingen Hunderttausende von Israelis – darunter viele, die im Libanonkrieg gedient hatten – auf die Straße, um gegen die Verbrechen der Armee zu protestieren.
Während der ersten Intifada sprachen viele Soldaten offen über die Misshandlung von Palästinensern. Die zweite Intifada führte zur Gründung der NRO „Breaking the Silence“. Der moralische Diskurs über die Besatzung mag eng und mitunter heuchlerisch gewesen sein, aber er existierte.
Diesmal ist dies nicht mehr der Fall. Das israelische Militär hat mindestens 40 000 Palästinenser:innen im Gazastreifen getötet – etwa zwei Prozent der dortigen Bevölkerung. Es hat eine totale Verwüstung angerichtet und systematisch Wohnviertel, Schulen, Krankenhäuser und Universitäten zerstört. Hunderttausende von israelischen Soldaten haben in den letzten 10 Monaten im Gazastreifen gekämpft, und dennoch ist der moralische Diskurs so gut wie inexistent. Die Zahl der Soldaten, die sich mit ernsthaften Bedenken oder Bedauern über ihre Verbrechen oder moralischen Zweifeln geäußert haben, selbst wenn sie anonym waren, lässt sich an einer Hand abzählen.
Paradoxerweise ist die sinn- und grundlose Zerstörung, die das Militär im Gazastreifen anrichtet, auf Hunderten von Videos zu sehen, die israelische Soldaten voll Stolz auf ihre Taten gefilmt und an Freunde, Familie oder Partner geschickt haben. Auf diesen Aufnahmen konnten wir sehen, wie Truppen Universitäten in Gaza in die Luft sprengten, wahllos auf Häuser schossen und ein Wasserwerk in Rafah zerstörten, um nur einige Beispiele zu nennen.
Brigadegeneral Dan Goldfuss, Kommandeur der 98. Division, dessen ausführliches Interview bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand als beispielhaft für einen Kommandeur gelobt wurde, der demokratische Werte hochhält, sagte: „Ich habe kein Mitleid mit dem Feind … Sie werden nicht erleben, dass ich auf dem Schlachtfeld Mitleid mit dem Feind hätte. Entweder ich töte ihn, oder ich nehme ihn gefangen.“ Kein Wort über die Tausende von palästinensischen Zivilisten, die durch den Beschuss der Armee getötet wurden, oder über die Gewissensbisse, die sich bei einem solchen Gemetzel einstellen.
Ähnlich äußerte sich Oberstleutnant A., Kommandeur des 200. Geschwaders, das die Drohnenflotte der israelischen Luftwaffe betreibt, Anfang des Monats in einem Interview mit Ynet, in dem er behauptete, seine Einheit habe während des Krieges „6000 Terroristen“ getötet. Als er im Zusammenhang mit der Rettungsaktion zur Befreiung von vier israelischen Geiseln im Juni, bei der mehr als 270 Palästinenser getötet wurden, gefragt wurde: „Wie erkennen Sie, wer ein Terrorist ist?“, antwortete er: „Wir haben am Straßenrand angegriffen, um die Zivilisten zu vertreiben, und jeder, der nicht geflohen ist, auch wenn er unbewaffnet war, war für uns ein Terrorist. Jeder, den wir getötet haben, hat getötet werden müssen.“
Diese Entmenschlichung hat in den letzten Wochen mit der Debatte, inwieweit die Vergewaltigung palästinensischer Gefangener legitim ist, einen neuen Höhepunkt erreicht. In einer Diskussion im landesweit größten Fernsehsender Channel 12 forderte Jehuda Schlesinger, ein „Kommentator“ der rechten Tageszeitung Israel Hayom, die Vergewaltigung von Gefangenen als Teil der militärischen Praxis zu institutionalisieren. Mindestens drei Knessetmitglieder der regierenden Likud-Partei sprachen sich ebenfalls dafür aus, dass israelischen Soldaten alles erlaubt sein sollte, auch Vergewaltigungen.
Den Vogel jedoch schoss der auch für den Siedlungsausbau im Westjordanland zuständige israelische Finanzminister Bezalel Smotrich ab. Die Welt „will nicht zulassen, dass wir 2 Millionen Zivilisten verhungern lassen, auch wenn dies moralisch gerechtfertigt ist, bis unsere Geiseln zurückgegeben werden“, beklagte er Anfang des Monats auf einer Konferenz von Israel Hayom.
Die Äußerungen wurden in der ganzen Welt scharf verurteilt, aber in Israel wurden sie mit Gleichgültigkeit aufgenommen, als ob das Aushungern von Millionen Menschen nur ein banaler Zeitvertreib wäre. Wäre die Saat der Entmenschlichung nicht bereits gesät und weithin legitimiert worden, hätte Smotrich es nicht gewagt, so etwas öffentlich zu sagen. Zudem sieht er, wie bereitwillig die israelische Regierung und Armee seinen „Decisive Plan“ in Gaza übernommen haben.
Wenn wir über die moralische Korruption sprechen, die die Besatzung mit sich bringt, fallen uns oft die Worte von Prof. Jeschajahu Leibowitz ein. Im April 1968, noch nicht einmal ein Jahr nach Beginn der israelischen Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens, schrieb er: „Der Staat, der über eine feindliche Bevölkerung von 1,4 bis 2 Millionen Ausländern herrscht, wird zwangsläufig zu einem Schin-Bet-Staat werden, mit allem, was dies für Auswirkungen auf Erziehung, Rede- und Gedankenfreiheit und demokratische Regierungsführung hat. Die Korruption, die für alle kolonialen Regime charakteristisch ist, wird auch den Staat Israel infizieren.“
Angesichts des moralischen Abgrunds, in dem sich die israelische Gesellschaft heute befindet, kommt man kaum umhin, Leibowitz prophetische Fähigkeiten zuzuschreiben. Doch bei genauerer Betrachtung seiner Worte ergibt sich ein vielschichtigeres Bild.
Man könnte argumentieren, dass Israel 1968 noch weniger demokratisch war als heute. Es war ein Einparteienstaat, der von der Mapai (dem Vorläufer der heutigen Arbeitspartei) regiert wurde und nicht nur seine palästinensischen Bürger:innen diskriminierte, gegen die damals erst zwei Jahre zuvor das Kriegsrecht aufgehoben worden war, sondern auch die mizrachischen Juden aus arabischen und muslimischen Ländern, und in dem religiöse und ultraorthodoxe Juden marginalisiert wurden. Die israelischen Medien verhielten sich unkritisch gegenüber der Regierung und die Schulbücher, aus denen ich in den 1960er und 70er Jahren lernte, waren nicht besonders fortschrittlich.
Innerhalb der Grünen Linie ist Israel heute viel liberaler als 1968. Frauen haben zunehmend Machtpositionen inne, ganz zu schweigen von LGBTQ+-Personen, deren bloße Existenz damals ein Verbrechen war. Wirtschaftlich gesehen ist Israel ein viel liberaleres Land als unter der zentralistischen Staatswirtschaft der 1960er Jahre (mit entsprechend gewachsenen Ungleichheiten), und das Land ist viel stärker in die übrige Welt integriert.
Man könnte einwenden, dass es sich hierbei nicht um einen Widerspruch, sondern vielmehr um komplementäre Prozesse handelt. Die Besatzung hat Israel nicht nur reicher gemacht (die Rüstungsexporte haben beispielsweise im Jahr 2023 ein Rekordvolumen von 13 Milliarden Dollar erreicht), sondern auch dazu beigetragen, zwei parallele Regierungssysteme aufrechtzuerhalten – Kolonialismus und Apartheid in den besetzten Gebieten und liberale Demokratie für Juden innerhalb der Grünen Linie – und vielleicht sogar zwei parallele moralische Wertesysteme. Die Kluft zwischen den gewachsenen Rechten der israelischen Bürger und der Rechtlosigkeit der palästinensischen Untertanen ist zu einem integralen Bestandteil des Staates geworden. „Villa im Dschungel“ ist nicht nur ein malerischer Begriff, sondern beschreibt das Wesen des israelischen Regimes.
Die derzeitige faschistische Regierung hat das einstige fragile Gleichgewicht verschoben. Indem sie sich auf den „Liberalismus“ einschießen, versuchen Politiker wie Jariv Levin, Simcha Rothman und Konsorten, die Barriere zwischen den unabhängigen Gewalten durch einen Justizputsch niederzureißen. Die hochrangigen Positionen, die Rassisten und Faschisten wie Smotrich und Itamar Ben Gvir bekleiden, haben diesen Prozess noch angeheizt.
|
|||||||||||
Angesichts der von der Hamas am 7. Oktober verübten Gräueltaten bleibt das Narrativ dieser israelischen Faschisten die wichtigste Stimme im öffentlichen Diskurs, da das vermeintlich liberale Israel, das die Besatzung jahrelang ignoriert hat, nicht in der Lage war, die Gewalt der Hamas in den Gesamtkontext von struktureller Unterdrückung und Apartheid einzuordnen. Daher sind wir jetzt an einen Punkt gelangt, an dem es im Zentrum der israelischen Gesellschaft keinen wirklichen Widerstand gegen die totale Entmenschlichung der Palästinenser:innen gibt.
Die israelische Tötungsmaschine weiß nicht, wie sie aufhören soll, schrieb Orly Noy von +972 und Local Call auf Facebook nach der Bombardierung der Al-Taba‘în-Schule, weil sie träge ist und sich im Alleinbesitz der Wahrheit glaubt. „Israel handelt aus Trägheit, denn wenn es aufhört, muss es sich damit auseinandersetzen, was es verursacht hat und welche Gräueltaten von historischem Ausmaß in seinem Namen passiert sind … Und dann kommt die tautologische Logik ins Spiel: Solange wir töten, ist es offensichtlich, dass sie den Tod verdienen.“ Genauso, wie der Kommandeur des 200. Geschwaders ein paar Tage später sagte.
Dennoch gibt es innerhalb der Grünen Linie immer noch eine Zivilgesellschaft und ein liberales Lager, das eine beträchtliche Macht besitzt, wie die wöchentlichen Demonstrationen gegen die Regierung zeigen. Die Frage ist, was passiert, wenn ein Waffenstillstand erreicht und die israelische „Vernichtungsmaschine“ zum Stillstand gezwungen wird. Werden Teile der israelischen Gesellschaft erkennen, dass die ungezügelte Gewalt, die Israel seit dem 7. Oktober entfesselt hat, und die Kräfte der Entmenschlichung, die sie antreiben, die Existenz des Staates selbst bedrohen?
„Schweigen ist erbärmlich“, schrieb Sejew Schabotinski in dem Gedicht, das zur Hymne der revisionistischen zionistischen Bewegung Beitar, dem Vorläufer des Likud, wurde. Dass Netanjahu und seine Partner das Getöse eines andauernden Krieges wollen, liegt auf der Hand. Die Frage ist, warum das liberale Lager schweigt.
aus +972 Magazine vom 23. August 2024 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz