Seit mehr als einem Jahr führt die israelische Armee einen völkermörderischen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Krankenhaus, eine Schule oder eine andere Flüchtlingsunterkunft bombardiert wird. Penetrant behauptet die israelische Regierung stets, dass sich dort jeweils „eine Kommandozentrale der Hamas“ befunden habe. Sie kann es zwar nie beweisen, aber die Staaten der „westlichen Wertegemeinschaft“ stehen eisern zu Israel und liefern weiter Waffen. So können diese Kriegsverbrechen ungehindert weitergehen.
Jakob Schäfer und Michael Weis
Da die Menschen sich gar nicht in sichere Gebiete begeben können, ist dieser Krieg inzwischen mehr als eine auf Vertreibung basierende ethnische Säuberung, es ist Völkermord. Die Verhandlung zur Klage der Republik Südafrika vor dem Internationalen Strafgerichtshof steht noch aus, aber die Fakten sprechen schon heute eine klare Sprache.
Gaza 2023 Foto: Tasnim News Agency |
Nehmen wir nur ein paar Zahlen aus Mondoweiss sowie aus der Süddeutschen Zeitung vom 7.10.2024: Bis Anfang Oktober wurden mehr als 42 000 Menschen getötet, unter den Trümmern werden weitere 10 000 Tote vermutet. Von den Bestatteten wurden bis Anfang August 32 280 identifiziert. Diese waren zu 60 Prozent Frauen und Kinder. Schwer verletzt wurden nach Angaben der Süddeutschen Zeitung mehr als 97 000, kaum einer davon kann angemessen ärztlich versorgt werden.
Von den 36 Krankenhäusern sind 19 komplett, die übrigen teilweise zerstört. Auch 85 % der Schulen sind nicht mehr nutzbar, sodass 625 000 Schüler:innen ohne Zugang zu öffentlicher Bildung sind.
Zwischen dem 7. Oktober 2023 und Ende September 2024 sind allein im Westjordanland 722 Menschen – darunter 146 Kinder – von rechtsradikalen Siedlern und der Armee getötet worden. Seitdem hat die israelische Regierung ihr mörderisches Vorgehen noch verschärft. Am 3. Oktober flog die Luftwaffe einen Angriff auf Tulkarem im Westjordanland und tötete 20 Menschen.
Auch im Libanon sind seit Beginn der Bodenoffensive und der Dauerbombardements auf den Süden des Landes, die Bekaa-Ebene und Beirut bereits über 2000 Menschen getötet, über 10 000 verletzt und 1,2 Millionen vertrieben worden. Beim Beschuss eines Wohnhauses inmitten von Beirut, bei dem 22 Zivilisten getötet und 117 verletzt wurden, fanden Reporter des Guardian Teile des Lenksystems JDAM, mit dem bunkerbrechende 2000-Pfundbomben (Mk80) gesteuert werden. Beides wird von den USA geliefert und der Einsatz in Wohngebieten führt zwangsläufig zu vielen zivilen Opfern. Zynisch mutet die gleichzeitige Stellungnahme des US-Sondergesandten Hochstein an, dass dieser Beschuss „völlig inakzeptabel“ sei.
Allein im letzten Jahr lieferten die USA militärische Ausrüstung im Wert von 17,9 Mrd. US-Dollar an Israel. Während Länder wie Spanien oder Irland das Freihandelsabkommen mit Israel wegen der andauernden Menschenrechtsverletzungen aussetzen wollen, fordert die BRD Israel zwar dazu auf, „weniger Zivilisten zu töten“, hat aber gleichwohl Waffenlieferungen an Israel wieder aufgenommen. Da internationale Gerichte und auch das Verwaltungsgericht Berlin Waffenlieferungen unter den Vorbehalt gestellt haben, dass das Empfängerland die „Übereinkünfte des humanitären Völkerrechts“ beim Einsatz dieser Waffen zu berücksichtigen habe, wurde von dem gerichtsnotorischen Kriegsverbrecher Gallant die formale Zusicherung zu dieser Klausel eingeholt. Der Wert einer solchen Zusage zeigt sich beispielsweise in den permanenten Angriffen auf UN-Blauhelme im Libanon, die einer entgrenzten Offensive im Weg sind und zudem zu unliebsamen Zeugen der israelischen Kriegsverbrechen werden.
Wie sehr auch die Helfer:innen bei diesem Krieg betroffen sind, zeigt eine Mitteilung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNRWA, dass allein bei der Bombardierung der Nuseirat-Schule 6 ihrer Mitarbeiter getötet wurden. Insgesamt sind bis Anfang Oktober 298 Helfer getötet worden.
Der so lange anhaltende Krieg führt aktuell aber noch zu einer anderen Entwicklung: Viele Menschen verlassen heute Israel, andere bringen ihre Geldvermögen im Ausland in Sicherheit. Siehe dazu das Interview mit Shir Hever: „Steht Israels Kollaps bevor?“ [1]
Zur misslichen Lage im Land verweisen wir auch auf den Artikel von Itzhak Brik, in dem die ausweglose Strategie der israelischen Regierung kritisiert wird. Generalmajor Brik ist kein Freund der Palästinenser. Er setzt sich für eine Stärkung der Armee ein, beklagt aber die Überdehnung der Armeeeinsätze, wie sie die israelische Regierung seit Monaten betreibt. Auch das ist ein zentrales Element für die sich zuspitzende Krise des israelischen Staates und der israelischen Gesellschaft. So hatte er schon am 24. Oktober 2023 vor einem Einmarsch der israelischen Armee im Gazastreifen gewarnt.
Was nach außen, vor allem in den deutschen Medien, als ein so stabiles israelisches Regime erscheint, das mit allen seinen Gegnern fertig wird, verdeckt – zunehmend nur notdürftig – die missliche Lage im Land. Vor allem: Die Menschen, die zu Hunderttausenden gegen Netanjahu demonstrieren, haben zwar kein Mitleid mit den Palästinenser:innen. Aber sie sind von der Regierung schwer enttäuscht, denn ihnen ist inzwischen klar, dass der Regierung die Geiseln, also israelische Bürger:innen, im Grunde schnuppe sind. Dies rüttelt an den Grundfesten der israelischen Gesellschaft; auch das ist ein zentrales Element in der Krise der israelischen Gesellschaft.
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Spätestens seit Juni 2024 ist klar, dass ein Waffenstillstand und eine daran angehängte dauerhafte Waffenruhe möglich wären. Katar und Ägypten, die an den Verhandlungen über den Biden-Plan beteiligt waren, haben mehrfach bestätigt, dass Hamas unterzeichnen würde, aber die israelische Seite hat – auch nach der Zusage ihrer Verhandlungsdelegation – immer wieder neue Forderungen gestellt, vor allem aber keine bindende dauerhafte Waffenruhe akzeptiert. Wäre es im Sommer zu einer Unterzeichnung des Vertrags gekommen, wäre mit einem Schlag auch Ruhe an der „Nordfront“ eingetreten.
Allgemein wird die Weigerung Israels vor allem – oft sogar ausschließlich – mit Netanjahus Angst vor einer Verurteilung wegen Korruption erklärt, denn nach einem Ende des Kriegs, spätestens nach einer Neuwahl muss er mit einer Abwahl rechnen. Sicher ist dies ein Element zur Erklärung der aktuellen Politik, genauso wie die erpresserische Politik der religiösen und rechtsradikalen Parteien in der israelischen Regierung. Der Hauptgrund liegt aber woanders.
Trotz der oben genannten politisch-gesellschaftlichen Krise im Land drängt der unangefochten dominante Teil der politischen Kräfte des Staatsapparats einschließlich der Generäle weiterhin auf eine Fortsetzung und Verschärfung der ethnischen Säuberung. Für sie wäre es unentschuldbar, die Gelegenheit, die sich ihrer Ansicht nach mit dem 7. Oktober ergeben hat, nicht konsequent im Sinne der zionistischen Staatsmacht zu nutzen. Schon am 19.11.2023 veröffentlichte der pensionierte Generalmajor Giora Eiland in Yedioth Ahronoth zwei Artikel, die auf ein rücksichtsloses Vorgehen drängten. Er ging auch so weit, sich über mögliche Epidemien im Gazastreifen zu freuen, weil dies den Sieg Israels nur beschleunigen werde.Und, man solle sich nicht von der internationalen Gemeinschaft von einem scharfen Vorgehen (gemäß der Dahiya-Doktrin) abhalten lassen.
Darauf aufbauend und sich explizit auf Giora Eiland beziehend haben im September aktive Generäle der Regierung den „Plan der Generäle“ unterbreitet, nach dem die Armee erneut und verstärkt in den Norden des Gaza-Streifens einziehen soll, um den dort unter unmöglichen Bedingungen hausenden mehr als 200 000 Menschen das Leben zur Hölle zu machen, also keine Hilfslieferungen durchlassen usw. Genau damit hat die Regierung Anfang Oktober begonnen. Seitdem wird dort wieder intensiv bombardiert. Innerhalb von 11 Tagen wurden dabei 350 Menschen getötet und das geht seitdem ungehindert weiter. So hat beispielsweise am 14.10. eine Killerdrohne 10 Menschen getötet, die an einer Verteilerstation von Hilfslieferungen warteten. Begründet wird das damit, dass die Bevölkerung zur Evakuierung aufgefordert sei, und alle, die noch da seien, werden als „Kombattanten“ (Kriegsteilnehmer) angesehen, auf die man schießen könne. Zusätzlich wurde südlich von Gaza-Stadt (beim Wadi Gaza) ein militärisches Sperrgebiet eingerichtet, um andere Menschen an der Rückkehr in den Norden zu hindern. Damit könnte ein Traum der israelischen Siedlerbewegung in Erfüllung gehen, Teile von Gaza zu annektieren und die 2005 aufgegebenen Siedlungen wieder neu zu errichten.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz