Worum geht es bei dem Konflikt innerhalb der zionistischen Machtelite? Mitnichten handelt es sich um einen Konflikt zwischen Falken und Tauben, wie die westlichen Medien uns glauben machen wollen …
Gilbert Achcar
Auch den israelischen Massen, die für ein Abkommen auf die Straße gehen, das zu einem weiteren Gefangenenaustausch zwischen ihrer Regierung und der Hamas führt, geht es mehrheitlich nicht darum, die Tragödie in Gaza zu beenden und die Besatzungsarmee von dort abzuziehen. Vielmehr wird sich die zionistische Armee kein zweites Mal aus dem Gazastreifen zurückziehen, da selbst die „Gemäßigten“ in ihren Reihen glauben, dass mit einem neuerlichen Rückzug bloß dieselben alten Fehler wiederholt würden.
Stabschef Halevi, Premierminister Netanyahu und Verteidigungsminister Galant Juli 2024, Foto: IDF Spokesperson's Unit / CC BY-SA 3.0 |
Die politische Trennlinie in Israel verläuft bekanntlich nicht zwischen denen, die einen vollständigen Rückzug aus dem Gazastreifen fordern, und denen, die darauf bestehen, dort zu bleiben. Sie verläuft vielmehr zwischen der extremen Rechten, die die Annexion des Gazastreifens an den zionistischen Staat fordert, indem sie die meisten seiner Bewohner:innen aus dem größten Teil des Territoriums vertreibt und durch jüdische Siedler ersetzt, und der zionistischen „Mitte“, die erkennt, dass der Preis für die Annexion und Vertreibung zu hoch für ihren Staat ist. Sie will sich lieber an den „Allon-Plan“ von 1967 halten, der die Situation im Westjordanland so regelt, dass Israel die strategischen Standorte und Straßen um die Wohnorte der palästinensischen Bevölkerung herum kontrolliert.
Mit anderen Worten: Nicht Falken und Tauben stehen sich hier gegenüber, sondern Falken und Geier, wenn Benjamin Netanjahu und die zionistische „Mitte“ streiten, zu der die Oppositionsparteien sowie eine Minderheit im Likud gehören, die durch Kriegsminister Joav Galant vertreten wird. Die israelische Presse berichtete über den jüngsten Streit während einer Kabinettssitzung zwischen Galant und Netanjahu und betonte, dass der Minister den Standpunkt des Militär- und Sicherheitsapparats vertrete. Bei diesem Streit ging es um das Waffenstillstandsabkommen, das Washington mit Hilfe von Kairo und Doha zwischen der Regierung und der Hamas zu schließen versucht.
Dass dieses Abkommen die israelische Besatzung des Gazastreifens beenden könnte, ist pure Illusion, denn aus israelischer Sicht geht es vor allem darum, einen vorübergehenden Waffenstillstand mit einem begrenzten Rückzug der Besatzungstruppen aus Teilen des Gazastreifens zu akzeptieren, um die Freilassung der Mehrheit der von der Hamas gefangenen Personen zu ermöglichen und anschließend den Krieg wieder fortzuführen, bis ihre Ziele vollständig erreicht sind. In diesem Zusammenhang haben wir Netanjahus Dilemma wie folgt beschrieben:
|
||||||||||||
„Innenpolitisch steht er zwischen zwei Fronten: Einerseits diejenigen, die der Freilassung der in Gaza festgehaltenen Israelis Vorrang einräumen wollen, in erster Linie natürlich die Familien der Gefangenen; andererseits diejenigen, die jegliche Waffenruhe ablehnen und den Krieg partout ohne Unterbrechung fortsetzen wollen, angeführt von den Hardlinern unter der zionistischen extremen Rechten. Der größte Druck auf Netanjahu kommt aus Washington. Dort identifiziert man sich mit dem Wunsch der Familien israelischer Gefangener nach einem „humanitären“ Waffenstillstand von einigen Wochen. Die Biden-Regierung könnte sich so als um das Wohl der Zivilbevölkerung besorgter Friedensstifter profilieren, nachdem sie für den völkermörderischen Krieg, den Israel ohne die militärische Unterstützung der USA nicht hätte führen können, voll mitverantwortlich war und ist.“
Was wir vor über vier Monaten geschrieben haben, hat sich seither in nichts geändert. Die Biden-Regierung braucht noch einen Erfolg, um ihren guten Willen vor der amerikanischen und internationalen Öffentlichkeit zu beweisen, und vor diesem Dilemma steht jetzt Kamala Harris, zu deren Gunsten Biden aus dem Rennen ausgestiegen ist. Die zionistische „Mitte“ versucht stets, so viele Geiseln wie möglich freizubekommen, zumal sie unter dem Druck ihrer Anhängerschaft steht, die in der Protestbewegung vertreten sind. Beide Seiten sind sich jedoch darin einig, dass die israelische Kontrolle über Gaza langfristig aufrechterhalten werden soll. Sie unterscheiden sich in der Form und dem Umfang der Kontrolle, nicht aber in ihrem Prinzip.
Bei der Meinungsverschiedenheit zwischen Galant und Netanjahu ging es um die von Kairo unterstützte Forderung der Hamas nach einem Rückzug der Besatzungsarmee aus dem „Philadelphia-Korridor“ an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten. Während die zionistische Armee und der Sicherheitsapparat diesen Rückzug befürworten, lehnt die im Kabinett vertretene zionistische extreme Rechte ihn kategorisch ab und droht damit, ihre Koalition mit Netanjahu aufzukündigen, sollte er das Abkommen akzeptieren, was zu Neuwahlen und damit zum möglichen Ende von Netanjahus politischer Karriere führen könnte.
Netanjahu lehnt den Rückzug aus dem Grenzkorridor kategorisch ab und verweist dabei auf Sicherheitsaspekte, die kein Mitglied der zionistischen Machtelite widerlegen kann. Denn sie alle wissen, dass Waffen und Tunnelbaumaterial vom ägyptischen Sinai in den Gazastreifen gelangt sind, und sie haben keinerlei Vertrauen in die ägyptische Seite oder anderweitig, was die Überwachung des Korridors angeht.
Während einige Vertreter der Opposition den Vorschlag der Sicherheitsdienste befürworten, den Grenzstreifen ohne ständige Stationierung israelischer Truppen elektronisch zu überwachen, beschreibt Galant die Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und Netanjahu als Wahl „zwischen dem Leben der Geiseln oder sechs Wochen lang im Philadelphia-Korridor zu bleiben“. Mit anderen Worten, Galant zufolge handelt es sich lediglich um einen sechswöchigen Rückzug aus dem Korridor, um die Freilassung der meisten von der Hamas festgehaltenen Personen zu ermöglichen, in dem Wissen, dass die Besatzungsarmee nach Abschluss der ersten Stufe des von Washington gewünschten Abkommens wieder die direkte Kontrolle über die Grenze übernehmen würde. Jeder weiß also, dass der hypothetische zweite Schritt dieses Abkommens, bei dem es um den vollständigen Rückzug der Besatzungsarmee aus dem Gazastreifen geht, niemals eintreten wird. Sie sind alle Heuchler.
Erschienen am 3.9. in Achcars Kolumne in Al-Quds-Al-Arabi |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz