Nahost

Der Massenmord in Gaza

Das israelische Kriegskabinett hat Anfang Mai einstimmig die Ausweitung des israelischen Krieges gegen Gaza gebilligt, wobei der Gazastreifen auf unbestimmte Zeit besetzt werden soll.

Qassam Muaddi

Die Genehmigung kam einige Tage, nachdem der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu erklärt hatte, dass das Hauptziel des Krieges darin bestehe, „die Hamas zu besiegen“, und dass die Freilassung der israelischen Gefangenen ein zweitrangiges Ziel sei. Die Nachricht wurde von der Associated Press bestätigt, die mit zwei israelischen Offiziellen sprach.

 

Opfer des Gaza-Kriegs

Vierjähriges Mädchen, gestorben an Mangelernährung und fehlender Behandung (2024, Foto: UNRWA, Ashraf Amra)

Äußerungen von Regierungsvertretern in den letzten Wochen deuten darauf hin, dass die israelische Strategie in Rafah auf den gesamten Gazastreifen operativ ausgeweitet wird. In Rafah haben die israelischen Streitkräfte die Stadt in Schutt und Asche gelegt und alle Palästinenser:innen zum Verlassen der Stadt gezwungen. Somit kann dieser Plan nur als nächster Schritt zur ethnischen Säuberung aller Palästinenser:innen in Gaza verstanden werden.


Die Wiederbesetzung des Gazastreifens


Drei Wochen zuvor enthüllten israelische Medien Pläne zur Aufteilung des Gazastreifens in fünf permanente Militärzonen innerhalb der palästinensischen Enklave. Seit der Wiederaufnahme des Krieges durch Israel Mitte März haben die israelischen Streitkräfte das südliche Gebiet von Rafah vollständig vom Rest des Streifens isoliert, indem sie einen neuen Militärkorridor, den so genannten „Morag-Korridor“, geschaffen haben, der den Gazastreifen von Osten nach Westen durchquert und Rafah von Khan Younis abschneidet, wo derzeit Hunderttausende vertriebener Palästinenser:innen Zuflucht suchen.

[…] Neben der Isolierung von Rafah verfolgt die israelische Armee die Strategie, die Stadt durch die Zerstörung oder Sprengung großer Wohnblöcke in Schutt und Asche zu legen. Die israelische Armee kündigte außerdem an, dass sie Rafah zu einem Teil ihrer neuen erweiterten militarisierten Pufferzone machen wird.

In einer im Fernsehen übertragenen Erklärung beschrieb Israels Kriegsminister Israel Katz das Ziel der Operation, „den Gazastreifen kleiner und isolierter zu machen“. Diese Strategie nahm bereits Gestalt an, als Israel noch indirekte Gespräche über Ägypten und Katar führte, um ein neues Waffen­stillstands­abkommen mit der Hamas zu erreichen. Israel hatte die Entwaffnung der Hamas zur Bedingung gemacht, was die palästinensische Seite ablehnte. Israel weigerte sich außerdem, den Krieg verbindlich zu beenden.

Die Sitzung des Kriegskabinetts fiel zusammen mit einem Wiederaufleben des Widerstands palästinensischer Gruppierungen, die in der vergangenen Woche israelische Streitkräfte in Rafah und Beit Hanoun angegriffen hatten, wobei Israel den Tod von vier Soldaten und mehrere Verletzte einräumte. Unterdessen setzte Israel die Bombardierung palästinensischer Städte vom Norden bis zum Süden des Streifens fort. Täglich wurden mindestens zwanzig Palästinenser:innen durch israelische Angriffe in Beit Lahia, Gaza-Stadt und Khan Younis getötet.


Die Strategie zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens


Hinter der vollständigen Wiederbesetzung des Gazastreifens verbirgt sich jedoch das seit langem verfolgte Ziel Israels, die Palästinenser:innen aus dem Streifen zu vertreiben. Netanjahus Verbündete im Kabinett, namentlich Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, sowie Knessetmitglieder und Führer der Siedlerbewegung fordern seit dem 7. Oktober 2023, die Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen zu vertreiben und das Gebiet wieder israelisch zu besiedeln. Netanjahu selbst hat wiederholt seine Vision einer „freiwilligen Auswanderung“ der Palästinenser:innen verbreitet, die sich auf den Vorschlag von US-Präsident Donald Trump stützt, die Gaza-Bewohner:innen aus dem Streifen zu vertreiben und ihr Gebiet in eine „Riviera“ zu verwandeln. Im März genehmigte die israelische Regierung die Einrichtung eines Sonderbüros, das die Zwangsumsiedlung von Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen in andere Länder organisieren soll.

Dieses Ziel deckt sich mit der „Rafah-Strategie“, die darauf abzielt, die gesamte zivile Infrastruktur zu zerstören, um das Gebiet für die Palästinenser unbewohnbar zu machen und ihren Transfer aus dem Gazastreifen somit als „freiwillig“ zu inszenieren. Israel hat bereits vor dem Waffenstillstand im Januar damit begonnen, eine solche Strategie in großem Maßstab umzusetzen, indem die israelische Armee im vorigen November das Gebiet nördlich von Gaza-Stadt vollständig abriegelte und verhinderte, dass humanitäre Hilfe und Waren dorthin gelangten. Gleichzeitig wurden große Wohnblocks zerstört und die verbliebenen Krankenhäuser und Schulen, in denen Familien untergebracht waren, zwangsgeräumt.

      
Mehr dazu
Editorial: Israel als imperialistischer Stoßtrupp im Nahen Osten, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Büro der Vierten Internationale: Israel jetzt stoppen!, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). Auch bei intersoz.org.
Erklärung aus der iranischen Opposition, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). Auch bei intersoz.org.
Samah Salaime: Die Rechte der Frauen sind teilbar, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jodie Jones: Abschiebung wegen Palästinasolidarität, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Hermann Dierkes: Der Anfang vom Ende?, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jakob Schäfer: Bankrott der „westlichen Wertegemeinschaft“, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Auszüge aus Reden vor dem Internationalen Gerichtshof, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Al-Mounadil-a: Solidarität in Marokko, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Gideon Levy: Geschichte als Feigenblatt, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025).
Büro der Vierten Internationale: Trump und Netanjahu: Todfeinde der Völker im Nahen Osten und weltweit! Hände weg vom Iran!, die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025) (nur online). Auch bei intersoz.org.
 

Diese Entscheidung des israelischen Kriegskabinetts verschlimmert die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen infolge der vollständigen Blockade durch die israelische Armee ohne Zugang der Bevölkerung zu humanitärer Hilfe und Gütern. Kürzlich ist ein zwei Monate altes palästinensisches Mädchen, Dschenan al-Skafi, in Gaza-Stadt an Unterernährung gestorben. Ihre Mutter erklärte gegenüber Al Jazeera, dass ihr Kind während des Waffenstillstands geboren wurde, als Waren in den Gazastreifen eingeführt werden durften, und dass es nach der Wiederaufnahme der Blockade und der erschwerten Beschaffung von Milch an Gewicht verloren hat. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind 51 palästinensische Kinder seit Oktober 2023 an Unterernährung gestorben.

In den zwei Monaten vor dem Waffenstillstand dezimierte Israel die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens von mehr als 800 000 auf unter 100 000. Israels Plan, den nördlichen Gazastreifen zu entvölkern, scheiterte schließlich, als die Palästinenser:innen während der Waffenruhe in einem massiven, spontanen, mehrtägigen Marsch in den Norden zurückkehrten. Die neuen Pläne zur Ausweitung des Krieges nach dem laufenden Modell könnten ein neuer Versuch Israels sein, die Entvölkerung nunmehr von Rafah aus zu starten. Die Schaffung des neuen „Morag“-Korridors soll wohl dazu dienen, den Palästinenser:innen Zugang zur ägyptischen Grenze oder zum Meer zu verschaffen.


Innenpolitische Hürden


Ein großes Hindernis für die neuen Pläne des israelischen Kriegskabinetts stellt jedoch der Mangel an aktiven Soldaten in der Armee dar. Der neue Generalstabschef der israelischen Armee, Eyal Zamir, hat seit Beginn seiner Amtszeit vor diesem Manko gewarnt. Mitte April berichtete die israelische Tageszeitung Jediot Ahronot, Zamir habe die Minister des Kriegskabinetts darauf hingewiesen, dass die israelische Armee nicht genug Soldaten habe, „um alle ihre Ziele zu erreichen“.

Seit Monaten bereits mangelt es dem Land zunehmend an Soldaten, da die Reservesoldaten, die seit dem 7. Oktober 2023 mehrere monatelange Einsätze absolviert haben, zunehmend erschöpft sind und viele an Verwundungen, Amputationen und Traumata in diesem längsten Krieg in der Geschichte Israels leiden. Im April forderten Tausende von israelischen Soldaten, Offizieren und Veteranen in offenen Briefen ein Ende des Krieges, wenn dadurch die verbleibenden israelischen Gefangenen in Gaza freikämen. Netanjahu und seinem Kabinett wurde darin vorgeworfen, den Krieg zu seinem persönlichen politischen Vorteil in die Länge zu ziehen.

Im Zentrum der Krise steht die religiös-orthodoxe Haredi-Gemeinde, die seit der Gründung Israels im Jahr 1948 vom Militärdienst befreit ist. Ihre Vertreter in der Knesset und in der Regierung haben gefordert, diese Freistellung gesetzlich festzuschreiben. Und obwohl die Knesset das Gesetz bereits im Juni in erster Lesung verabschiedet hat, ist es noch immer nicht in Kraft getreten. Unterdessen kündigte der Generalstabschef der israelischen Armee an, Zehntausende von israelischen Reservesoldaten zu mobilisieren, um den Krieg gegen Gaza auszuweiten. […]

Bislang stießen diese Pläne zur Ausweitung der Militäroperationen und zur Wiederbesetzung des Gazastreifens auf wenig bis gar keine offiziellen Reaktionen der westlichen Regierungen. Dieses Stillschweigen nach fast zwei Jahren Völkermord mit über 60 000 getöteten Palästinenser:innen beweist, dass nicht nur die USA Israel grünes Licht für die Auslöschung des Gazastreifens geben. Es gibt noch viel mehr Komplizen an diesem Völkermord, selbst wenn dies stillschweigend geschieht.

Aus: Mondoweiss vom 5.5.2025
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2025 (Juli/August 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz