Israel/Palästina

Ein weltlich-demokratischer Staat – eine Losung für die Gegenwart

Ein Gespräch von Tikva Honig-Parnass mit Eli Aminov

 Tikva Honig-Parnass: Wie Machover hervorhebt, negierte die Vorstellung eines weltlich-demokratischen Staates (WDS), wie sie die Hauptströmung der PLO in den sechziger Jahren annahm, die jüdische Nationalität und betrachtete die Juden als eine rein religiöse Gruppe. Übernahmen die Linken Frak­tionen in der PLO und vor allem die Volksfront und die Demokratische Front (PFLP und DFLP) Fatahs Modell, dem zufolge die weltlich-demokratische Lösung gegenwärtig eine Lösung für ein arabisches Filastin im Sinne einer Nationalität sei?

E. Aminov: Zwischen den Positionen der Linken Fronten und der Position der zentralen PLO-Körperschaft bestand kein bedeutsamer Unterschied. Nur die Linke sprach vom Sozialismus. Ich will hier nicht in die Materie einsteigen, son­dern nur daran erinnern, dass zum Bei­spiel George Habash seinen Sozialismus in Prag erworben hat, wo er viele Jahre lebte. Sowohl Habash wie Hawatmeh sind Schüler des Stalinismus und nicht des Sozialismus. Die Fronten haben nie zu irgendeiner linken Opposition gehört. Und hier möchte ich Machover zitieren: „Sie benutzten den Begriff des Sozia­lismus als einen Deckmantel für natio­nale Fragen, weil sie meinten, die leninistisch-sozialistische Vorstellung sei das geeignetste Mittel, um die nationale Befreiung zu erzielen“. So sah die palästinensische Linke in Wirklichkeit aus.

 Und was ist Deine Stellung zu der Ver­neinung der jüdisch-israelischen Nation innerhalb ihres weltlich-demokratischen Rahmens?

Auch ich erkenne nicht das Vorhan­densein einer jüdisch-israelischen Nation im Sinne einer modernen Nation an. Was der Zionismus hier getan hat, ist der Versuch, eine moderne jüdische Nation auf einer religiösen Grundlage und ohne die eingeborene Bevölkerung dieses Landes zu schaffen. Das kann ich nicht anerkennen. Ich benutze die Begriffe Gemeinschaft oder Bevölkerung. So genießt die jüdische Gemeinschaft im weltlich-demokratischen Staat genau die gleichen Rechte wie die palästinensische Gemeinschaft. Die Gleichheit zwischen ihnen hinsichtlich der Sprachen, Schulen usw. sollte eine kollektive sein.

 Also sprichst Du über eine Lösung in der Form eines Bi-Nationalismus?

Nein. Der Bi-Nationalismus geht seinem Wesen nach von dem Gedanken des jeweiligen Ursprungs aus, was ich zurückweise. In der Schweiz zum Beispiel besitzt die ethnische Abstammung eines Individuums keine zentrale Bedeu­tung: Wenn du möchtest, kannst du sie sogar geheim halten. Bist du ein franzö­sischer Schweizer, möchtest du jedoch deine Kinder in der italienischen Sprache aufwachsen lassen, dann ziehst du ganz einfach in einen Bezirk mit italie­nischer Sprache und machst die erfor­derlichen Vorkehrungen, um dein Wahl­recht in diesem Bezirk zu erlangen. Hier erstrebe ich diese Art Lösung. Natürlich muss sie nicht genau so wie die der schweizerischen Distrikte ausfallen. Viel wichtiger ist, dass sich hier nicht das li­banesische Beispiel wiederholt: Es muss ein Regime verhindert werden, das auf einem national-völkischen Schlüssel beruht: z. B. auf einem jüdischen Premier­minister und einem palästinensi­schen Präsidenten oder umgekehrt. Eine derartige Lösung ist dazu verurteilt, ein Regime ethnischer Gruppen zu verewigen, bei dem jede Gruppe einen Anteil an den Machtorganen entsprechend ihrer Größe erhält.

 Du erkennst also nicht die Existenz einer israelisch-jüdischen Nation an. Wie steht es nun mit einer palästinensischen Nation? Bedeutet die Unterstützung ihres Befreiungskampfes nicht tatsächlich einen Kampf für einen Staat, der nur die palästinensische Nationalität anerkennt?

Absolut nicht. Ich bin prinzipiell ein Feind des Nationalismus. Es gibt indessen Bevölkerungen, die zu dem hinneigen, was man als nationalistisch bezeich­nen kann, und das Problem in Palästina kann man tatsächlich als ein nationales Problem dieser Art bezeichnen. Das will besagen, dass es sich hier um eine Frage handelt, die in sich alle demokratischen Probleme konzentriert, und in erster Linie die Frage einer Befreiung von impe­rialistischer Kontrolle, durch die diese Unterdrückung ermöglicht wird – aber nicht nur die der PalästinenserInnen.

Fangen wir zunächst mit der palästi­nensischen Frage an: Die Palästinense­rInnen sind in fünf Teile gespalten: die­jenigen innerhalb Israels, in der West­bank, im Gazastreifen, in den Flücht­lingslagern hier und in anderen Staaten im Nahen Osten, und die Palästinense­rInnen innerhalb der gesamten Diaspora. Selbstbestimmung bedeutet nicht einfach: „Die Völker bestimmen, was sie sind“. Es bedeutet, dass sie ihre Identi­tät und ihr nationales Wesen nur dann bestimmen, wenn sie in einem gewis­sen Territorium zusammen sind. Die Selbstbestimmung der Palästinen­serInnen bedeutet ihre Befreiung und Verei­nigung in ihrer Heimat.

 Und das hat die PLO gegenwärtig aufgegeben...

Stimmt. Das Zusammentragen von Lösungen, die die Teilung des Landes Palästina verlangen, wird nicht die Vereinigung des Volkes ermöglichen. Außer­dem haben diese Lösungen zum Ziel gehabt, das Volk aufzuteilen. Das ist der-zentrale Punkt, das den WDS von der Zwei-Staaten-Lösung unterscheidet.

Kommen wir aber auf die nationale Frage zurück. Die nationale Frage der Juden in Israel ist nicht weniger kom­pliziert. Wie ich bereits sagte, versuchte der Zionismus hier eine Nation auf­zubauen, jedoch auf einer deformierten Basis. Wer sich auch immer dieser Basis anschließen will – sei er zum Beispiel ein Franzose – muss sich einem religiösen Ritual unterziehen. Man stelle sich eine Situation vor, bei der jemand, der französischer Bürger werden möchte, gezwungen wäre, an einer christli­chen Messe teilzunehmen. Hinzu kommt, dass diese „Nation“ die einge­borene Bevölkerung des Landes – die PalästinenserInnen aus dem Land ver­trieben hat.

Der weltlich-demokratische Staat müsste diese komplizierten Probleme beider, der Palästinen­serInnen wie auch der Israelis, lösen, um das Entstehen einer Nation entsprechend dem Territori­um (auf dem sie sich befinden) zu ermög­lichen. Zusammensetzen wird sich diese Nation aus der unterdrückten palästinensischen Bevölkerung (ein­schließlich der Rückkehrer), deren Heimat von Kolonialisten besetzt wurde, und der jüdischen Bevölkerung, die aus Menschen besteht, die hierher gebracht wurden, und die sich im Verlauf der letz­ten 50 Jahre zu einer Art jüdisch-israe­lischer Gemeinschaft entwickelt haben: Die Juden in Israel haben eine gemein­same Sprache, eine geschlossene Kultur, usw. Das Vorhandensein dieser beiden Bevölkerungen dürfte keinerlei Einfluss auf die Form des Regimes haben. Wie ich bereits sagte – in der Schweiz gibt es vier Sprach- und Kultur­gemein­schaften, aber einen schweizerischen bürgerlichen Staat. Es gibt eine schwei­zerische, aber keine deutsche, französi­sche und italienische Bourgeoisie. Wir haben also eine schweizerische Nation, einen schweizerischen Pass, eine schweizerische Staatsangehörigkeit.

 So ist deine Auffassung vom weltlich-demokratischen Staat tatsächlich anders als die der früheren PLO. Was waren die Folgen der verqueren, nationa­listischen PLO-Auffassungen vom weltlich-demokratischen Staat für den palästinensischen nationalen Befreiungskampf?

Es ist selbstverständlich, dass der nationale Kampf eine Strategie hätte haben müssen, an dem die Juden hätten teilnehmen können. Die PLO hätte aus­drücklich erklären müssen, dass die in Palästina lebenden Juden an einem gemein­samen Kampf für die Befreiung des palästinensischen Volkes und die Demo­kratisierung Palästinas teilnehmen sollten und ihre Reihen für jede Person, die ihr Programm akzeptiert, offen seien. (Zweifellos hätte das Programm selber dann korrekter sein müssen). Aber sie haben niemals daran gedacht, eine solche Position einzunehmen. Sie waren an der begrenzten, engen palästinensischen Frage interessiert, die sie im Verlauf der Jahre immer mehr eingeengt haben – von einer panarabischen Frage zu einem Herangehen in der Art eines „Nur wir allein“, „Keiner wird für uns entschei­den“. Während tatsächlich hinter den Kulissen andere für sie entschieden haben. Die palästinensische Führung hat nie aufgehört, mit den arabischen Regi­men und dem Imperialismus verknüpft zu sein.

 An Stelle der weltlich-demokratischen Lösung der PLO bekannte sich Matzpen, von der Machover einer ihrer Begründer war, zu der Auffassung, die er weiter oben diskutiert: Sie betont die Notwendigkeit einer radikalen Umwand­lung des Nahen Ostens als not­wendige Vorbedingung für die palästi­nensisch-israelische Lösung. Hat der Revolutionär Kommunistische Bund (Vierte Internationale), der von Mitglie­dern, die sich 1972 von der Matzpen trennten, gegründet wurde (und von der du einst Mitglied warst, und viel später auch ich) die weltlich-demokratische Betrachtungsweise angenommen, nach­dem sie Matzpen verlassen hatten?

Nein, die Trennung hatte nichts mit der Frage des WDS zu tun, sondern mit innerorganisatorischen Fragen und der des Beitritts zur Vierten Internationale. Der RKB (engl. RCL) unterstützte wei­terhin viele Jahre lang die. Vorstellung der arabischen Revolution. Erst 1986 übernahm er, aber nur teilweise, das Konzept des weltlich demokratischen Staates. Umgehend lautete dann. die Parole: „Ein bi-nationaler demokratisch-weltlicher Staat“. Meine Opposition da­gegen hatte keine Wirkung.

 Warum warst du gegen die Hinzufügung von „bi-national“, während „weltlich-demokratisch“ beibehalten wurde?

DieseHinzufügung ist eine Art Ver­mischung zweier gegensätzlicher Dinge. Im Prinzip ist das wieder eine natio­nale Lösung, nur dass es sich hier nicht um je eine Nation, jede davon in einem besonderen Staat wie bei der Zwei-Staaten-Lösung handelt, sondern um zwei Nationen in einem Staat. Und wonach soll die Zugehörigkeit in jeder dieser Nationen bestimmt werden? Für die Juden entsprechend der Mutter und für die PalästinenserInnen nach dem Vater –denn die PLO legt in ihrem Programm fest, dass als ein Palästinenser der ange­sehen wird, dessen Vater oder der selber in Palästina vor 1948 geboren wurde.

All die traditionellen Vorstellungen, die Existenz einer Nation von der Abstammung her zu bestimmen, sind für mich unannehmbar. Eine ethnische Abstammung sollte nicht der Schlüssel sein, nach dem Positionen in der Macht­struktur des Staates zugewiesen werden. Wir MarxistInnen haben keinerlei posi­tive Lösungen für die nationalen Fragen. Wir sind keine Theoretiker von Nationen, die in ihnen irgendetwas Wesentli­ches erblicken. Jede Bevölkerung bzw. Gemeinschaft, die sich als eine natio­nale oder religiöse Gemeinschaft betrachtet und dafür einen Ausdruck wünscht, hat die Freiheit, sich einen derartigen Rahmen auszusuchen.

 Ohne irgendeinen kollektiven Ausdruck dieses gemeinsamen und gemeinschaft­lichen Inhalts in den Macht­einrichtungen sollten Wahlen nach dem Prinzip „Eine Person – eine Stimme“ abgehalten werden. Dies ist ein weiterer bedeut­samer Unterschied zwischen einem bi-nationalen und einem weltlich-demokratischen Staat.

Natürlich. Jede Person sollte eine gleiche Stimme haben.

 Wer unterstützt gegenwärtig das Konzept eines WDS in Palästina/Israel?

In einer kürzlichen Umfrage in den Besetzten Gebieten von ‘67 wurden die Interviewten gefragt, ob sie eine „Ein-Staat“-Lösung unterstützen (es wurde nicht gesagt einen „weltlich-demokra­tischen Staat“) oder eine Zwei-Staaten-Lösung. 51 % unterstützten die „Zwei-Staaten-Lösung“ und 34 % waren für den einen Staat – ganz selbstverständlich, ohne die dahinter steckende Ideologie zu berücksichtigen – die sogar die Linke schon lange aufgegeben hat.

In Israel gibt es drei kleine Gruppen: Abna’ Al Balad (Die Söhne des Landes) und zwei andere (die nur wenige Mit­glieder zählen –THP), bei einer von ihnen bin ich Mitglied.

Man muss bedenken ziehen, dass jede politische Partei oder Gruppe, die zionistisch ist, oder sogar solche, die behaupten, „nichtzionistisch“ zu sein wie Rakah (die Israelische Kommunistische Partei), die Teilung Palästinas in zwei Staaten befürworten.

 Und damit unterstützen sie den „Jüdischen Staat“ – eine Aussage, die gegen­wärtig die wirkliche Wasserscheide auf der politischen Karte Israels bildet, wo die große Mehrheit der jüdischen Bevöl­kerung, die „Linke“ und selbst das aktive Friedenslager wie „Gusch Schalom“ einen „Jüdischen Staat“ unterstützen.

Sie argumentieren, dass ihr Interesse nur in der „jüdischen Identität“ besteht, während es tatsächlich die Erhaltung der zahlenmäßigen Überlegenheit in jeder Hinsicht, und damit tatsächlich eine Unterstützung der Unterdrückungskräf­te bedeutet.

 Ich denke, dass Machover nicht gegen den Inhalt und die Natur des weltlich-demokratischen Staates argumentieren will, der, im Gegensatz zur Vorstellung der PLO, vom arabischen Nationalis­mus frei ist. Aber sein zweites wichtiges Argument gegen die WDS-Parole betrifft ebenfalls den Inhalt deiner Vor­stellung von der weltlich-demokratischen Parole. Sein Einwand basiert auf der Annahme, dass eine radikale Umwand­lung des Nahen Ostens für die Zerstörung des zionistisch jüdischen Staates erforderlich ist, eines Staates, der vom Imperialismus aufrecht­erhalten wird: Auf diese Weise will er eine progressive und gleichmäßige Lösung für die beiden Völker sicherstellen. Meine Frage ist folgende: Hat Machover nicht recht? Vor allem, wenn er betont, „es besteht keine Möglichkeit ein Problem lokal zu lösen, das nicht lokal ist.“ Warum also sollte man nicht direkt dazu auffordern, für einen sozialistischen Nahen Osten zu kämpfen, wie es Machover vorschlägt, statt für die irre­führende Parole eines weltlich-demokratischen Staates?

Nein. Das ist keine irreführende Parole. Das zentrale Problem ist folgendes: Woraus bestehen die dringenden Bedürfnisse der Massen, und was sind die dringenden Bedürfnisse, für die sie zu kämpfen imstande sind? Der Kampf der palästinensischen Massen für eine nationale Befreiung stellt ihr dringend­stes Bedürfnis dar. In der nationalen Befreiung sehe ich tatsächlich nicht das endgültige Stadium auf dem Weg zum Fortschritt der Menschheit, sondern einen notwendigen Schritt gegen die Unter­drückung. Der Kampf für eine natio­nale Befreiung ist eine ausgezeichnete, passende Situation, um dabei alle demo­kratischen Fragen zu lösen.

Verschiedene Klassen verstehen den nationalen Kampf und das Ziel, die Besatzer zu vertreiben, auf verschiedene Weise: So ist es das Ziel der Fellachen (Ackerbauern), ihren Boden zurückzu­bekommen. Die Arbeiter erblicken in der Vertreibung des Eroberers ein Mittel zur Schaffung einer Lage, in der sie einen gerechten Lohn und das Ende der Ausbeutung erlangen. Die Bourgeoisie ist daran interessiert, die Besetzung durch ein Regime zu ersetzen, das die Ausbeutung zu ihren eigenen Gunsten weiterführt. Die Flüchtlinge sehen die Befreiung als ein Mittel zur Rückkehr in ihre Heimat und zur Erreichung der vollen Kontrolle über ihr eigenes Leben. Auf diese Weise bedeutet meine Auffassung von nationaler Befreiung Demo­kratisierung, Industrialisierung, das Beseitigen der gesamten „feudalen Scheiße“, wie Marx es nannte, und Übergabe des Bodens an die Bauern – nicht als Privateigentum, sondern als Land, das sie zu bebauen berechtigt sind – und die Rückkehr der palästinensischen Flücht­linge. Alle diese Probleme sind in die weltlich-demokratische Vorstellung ein­geschlossen. Sie sind nicht in der Zwei-Staaten-Lösung enthalten.

 Machover spricht mit Recht über die gegenwärtigen Machtverhältnisse, die weder die Zwei-Staaten-Lösung noch den WDS möglich machen.

Völlig richtig. Aber trotzdem besteht weiter ein grundsätzlicher Unterschied, wenn man die unterschiedlichen Größen­ordnungen der betreffenden Kräfte­verhältnisse betrachtet: Für die Herbei­führung einer Situation, in der in Palä­stina zwei Staaten errichtet werden, gibt es nur eine Bedingung, dass nämlich Israel und die PalästinenserInnen sich unter die Schirmherrschaft des Imperialis­mus begeben und damit einverstanden sind, natürlich zusammen mit den ara­bischen Regimen. Dann wird es keine Notwendigkeit für eine revolutionäre Umgestaltung der regionalen Macht­struktur geben. Die beiden Staaten werden eine Widerspiegelung der bestehenden Macht­verhältnisse sein. Auf der an­deren Seite steht der WDS im Wider­spruch zu der bestehenden Ordnung im Nahen Osten, in welcher der zionistische Staat eine Schlüssel­stellung einnimmt.

Will man die Wirklichkeit ändern, muss man versuchen, die Kräfteverhält­nisse zu ändern. Die Frage ist, wie man dies schafft. Ich gebe nicht vor, ein Erfolgs­rezept zu besitzen. Aber der einzu­schlagende Weg sieht so aus:

Man muss die palästinensischen Massen für den Kampf gegen ihren Feind – den zionistischen Staat – orga­nisieren. Auch die jüdischen Massen müssen für dieses Ziel mobilisiert werden. Jedoch ist die Lage der Palästinen­serInnen viel dringlicher als die der Juden, und deshalb müssen deren unmittel­bare Bedürfnisse angesprochen werden. Deshalb können wir nicht in ein Flüchtlingslager gehen und erzählen, die Lösung für ihr Elend sei der Sozialis­mus. Das würde von ihnen als etwas Abstraktes und von der Wirklichkeit weit Entferntes betrachtet werden. Die unmit­telbare Lösung in ihrer Situation ist zu­ erst einmal, die israelische Armee zu vertreiben. Die Parole des Rechts auf Rückkehr kann ebenfalls die gesamte palästinensische Bevölkerung mobilisieren, weil die Frage der Flüchtlinge für jede Familie in Palästina relevant ist.

 Du sprichst jetzt über „Übergangs­forderungen“, über die Machover ebenfalls spricht. Aber führst du nicht wiederum die Bevölkerung in die Irre, wenn du die weltlich-demokratische Lösung forderst. denn sie ist keine unmittelbar erreichbare Lösung, sondern hängt von einer antiimperialistischen Umwandlung des Nahen Ostens ab?

Ich führe sie nicht in die Irre. Ich schließe mich ihnen an und versuche, Parolen zu entwickeln, die ihren Kampf fördern werden. Die Massen brauchen Parolen, welche eine Antwort auf die Frage geben, was morgen zu tun ist. Sie brauchen keine Theorien. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Russische Revolution bis zum letzten Augenblick unter demokratischen und nicht soziali­stischen Parolen geführt wurde. Lenin veröffentlichte seine „Thesen über die Weltrevolution“ für seine Partei, nicht für die Massen. Dort, innerhalb der Partei, musste er seinen theoretischen Kampf führen. Die russischen Massen wollten Brot, Land und Frieden. Und die Bolschewiki waren hinsichtlich dieser Fragen die konsequentesten.

Sowohl in den ‘67er Gebieten [West­bank, Jerusalem und Gazastreifen) wie in Israel gibt es viele Kräfte, die Freiheit und Gleichheit erstreben. Wir sollten uns auf dieses Verlangen stützen, und alle diese Kräfte sollten in eine Richtung arbeiten: Nicht dahin, den Prozess zurück­zuhalten, (sich auf einen tatsächlich welt­lichen Staat hin zu bewegen), sondern ihn zu fördern. Deshalb geben wir die Parole der Gründungs­versammlung aus, die die Knesseth ersetzen soll, und zu der Vertreter ganz Palästinas entsandt werden sollen: PalästinenserInnen – ein­schließlich der Flüchtlinge – und Juden. Das ist eine Einrichtung, die nur in einer revolutionären Situation ins Leben gerufen werden kann und nicht innerhalb der bestehenden imperialistischen Ordnung. Wie die gegenwärtige Ordnung untergraben werden wird, kann ich nicht sagen. Der Imperialismus bringt die Samen seiner eigenen Zerstörung hervor, und der Kampf für eine Gründungs­versammlung kann die Massen mobilisieren und das gegenwärtige System in Frage stellen.

Wir müssen daran arbeiten, diese inne­ren Widersprüche zu verstärken und die Brüche zu vertiefen, Deshalb sollte die erste Forderung lauten: Heraus aus den Besetzten Gebieten von 1967.

 Und was sind die Forderungen in Hinblick auf die 48er PalästinenserInnen?

Die Unterdrückung zu beenden und Gleichheit herzustellen. Es ist notwendig, gegen die Politik zu kämpfen, die einen vollentwickelten Apartheidstaat aufrecht erhält, in dem Palästinen­serInnen keinen Zugang zu „Staats­ländereien“ haben, die 93 % des gesamten Bodens in Israel umfassen. Ich denke, dass ein Teil der jüdischen Bevölkerung an diesem Kampf teilnehmen wird.

 Die Forderungen bestehen nicht nur auf „gleiche Rechte“, sondern auch auf „Rückgabe“ ihrer Rechte.

Stimmt. Gleichheit der Rechte bedeutet Rückgabe der Rechte, die den Palästinen­serInnen geraubt worden sind: Ländereien und das Recht, in dein Dorf zurückzukehren. In keinem zionisti­schen Staat ist Raum, über Gleichheit zu sprechen, denn zuerst und vor allem zielt er auf Rechte für die Jüdinnen und Juden: eine jüdische Nation, ein jüdi­sches Heimatland, ein jüdischer Staat. Deshalb muss jeder, der Gleichheit erstrebt, gegen den Begriff des jüdischen Staates kämpfen, und für einen Staat, in dem die Macht nicht in den Händen einer einzigen Bevölkerung konzen­triert ist. Das bedeutet: wir müssen für einen weltlich-demokratischen Staat kämpfen.

 Aber warum nicht auch die Lösung der sozialistischen Föderation des Nahen Ostens vorschlagen?

Folgendes ist die Frage: Wo beginnt man den Kampf für die Umwandlung der Region? In Kuwait? Wo stehen die drin­gendsten Fragen? Die befinden sich hier, in Palästina. Das besagt, dass hier in Pa­lästina die Losung eines WDS erhoben werden muss. Die Massen werden nur imstande sein, jeder Teilungslösung Palästinas entgegenzutreten, wenn sie erkennen, dass es ein anderes Programm gibt, das einen radikalen Wechsel der gegenwärtigen Situation beabsichtigt und das zu einer zukünftigen wirklichen Frei­heit und Gleichheit führt. Und natürlich werden die Kämpfe, die hier weiter­ge­führt werden, einen Einfluss auf das Erwachen der Massen in anderen arabi­schen Ländern des Nahen Ostens haben. Wie ich sagte, ist die Zwei-Staaten-Lösung eine Lösung innerhalb des Rahmens der alten Ordnung, während der WDS die Lösung ist, sie zu demontieren.

 Gegenwärtig ist der WDS eine Lösung, die darauf basiert, den jüdischen Staat herauszufordern.

Jawohl. Und der Ruf nach der Einberufung einer Gründungsversammlung ist ihr Ausdruck. Diese Idee ist noch abstrakt. Sie wird nicht zu einer (mobi­lisierenden) Losung werden, solange sich die Massen ohne Hoffnung fühlen und deshalb bereit sind, sich selbst in die Luft zu jagen und so viele Israelis wie möglich zu töten. Wir sind tatsäch­lich sehr wenige. Aber hat die Bevölke­rung in Palästina nicht Anspruch auf das Ziel einer anderen Sorte Staat, der im Geiste wirklicher Freiheit und Gleich­heit errichtet werden soll? Kein Ziel, das sich in dem alten Rahmen bewegt, der in der imperialistischen Ordnung wurzelt. Wie wir wissen, ist der Imperialis­mus hier die zentrale Macht.

 Und du meinst, dies sind Losungen, die die Bevölkerung mobilisieren können? Auch deine These erfordert „Übergangs­forderungen“.

Der weltlich-demokratische Staat ist eine Vision, die die Massen erfassen kann.

 Der gegenwärtig zunehmende tagtäg­liche Kampf der 48er PalästinenserInnen ist ganz sicherlich auf Initiative der National-Demokratischen Gesell­schaft –Tajamu’ – entstanden und wird von ihr geleitet. Einerseits geben sie eine Antwort auf die unmittelbaren Bedürf­nisse der Bevölkerung – gegen Beschlag­nahme von Böden, Diskriminierung in den Regierungs­haushalten usw., und zum andern haben sie zum ersten Mal die Forderung nach kollektiven Rechten erhoben und lehnen den Begriff des jüdischen Staates ab, der den Kern des zionistischen kolonialistischen Unternehmens bildet.
Die 48er PalästinenserInnen haben da­mit die „Übergangsforderungen“ des demokratischen Kampfes in Israel auf die Tagesordnung gestellt. Sie sind die einzigen, die diesen Kampf führen. Sowohl objektiv wie subjektiv haben sie das unmittelbare Bedürfnis, die Natur des jüdischen Staates zu ändern: Das ist weit mehr ihr Bedürfnis als das der arbeitenden Klasse als solcher.
      
Mehr dazu
Debatte unter sozialistischen RevolutionärInnen:. Zwei Staaten, säkularer demokratischer Staat, sozialistischer Naher Osten, Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002).
Paul Flewers: Gegen die Zwei Staaten – für einen säkular-demokratischen Staat, Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002).
Martin Thomas: Die Zwei-Staaten-Lösung, Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002).
Moshe Machover: Ein vereinigter sozialistischer Naher Osten, Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002).
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023).
Interview mit Micha [Jakob Taut]: Zur Entwicklung des Trotzkismus in Palästina, Inprekorr Nr. 19 (15. September 1972).
Interview mit Arie Bober: Der Kampf von „Matzpen“ in Israel, Inprekorr Nr. 4 (15. Juni 1971).
 

Das ist richtig – in einem gewissen Maße lehnen sie tatsächlich den jüdi­schen Staat ab. Aber die Perspektive, die von Tajamu’ für sie aufgestellt wird, ist die eines bi-nationalen Staates oder von „Autonomie“ für die 48er Palästinense­rInnen. Das ist eine Perspektive, die einen Anteil an der bestehenden Macht­struktur fordert und keine Forderung, sie abzulösen.

Zweifellos gibt es in der Tajamu’-Bewegung gute Leute und wundervolle Aktivisten. Und ich begrüße alle ihre Aktionen gegen diese Art Staat. Meine Kritik richtet sich jedoch gegen die Per­spektive, die ihre Führung ihnen gege­ben hat: Sie widerspricht der demokratisch-weltlichen Lösung.

 Sie beschäftigt sich nicht mit Losungen.

Aber sie ist auch nicht mit dem Wesent­lichen beschäftigt.

 Aber bei ihren tagtäglichen Aktivitäten führt Tajamu’ den wirklich demokrati­schen Kampf.

Das stimmt. Und sie ist hier tatsäch­lich eine der verschiedenen bestehenden demokratischen Bewegungen. Ich aber versuche, eine Perspektive vorzubringen, was sie zu tun vermeidet. Meiner Meinung nach wird Tajamu’, wenn sie weiterhin beständig gegen den jüdischen Staat kämpft, zum Schluss gezwungen sein, die Vorstellung eines weltlich-demokratischen Staates zu akzeptieren.

Übersetzung: Rudolf Segall



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002). | Startseite | Impressum | Datenschutz