Moshe Machover
Lieber Paul!
Vielen Dank für die Kopie Deines Briefs an Worker’s Liberty. Zunächst möchte ich festhalten, dass ich mit Deiner Kritik an der „Zwei-Staaten-Lösung“ übereinstimme, die darauf hinausläuft, heute für die Schaffung eines palästinensischen Staates neben dem israelischen Staat aufzurufen. Du hast Recht mit Deiner Feststellung, dass dies eine reaktionäre „Lösung“ wäre. Dies würde in der Tat eine Art palästinensisches Bantustan schaffen.
Angesichts der gegenwärtigen ungünstigen Kräfteverhältnisse – die sich leider in der nächsten Zeit überhaupt nicht ändern werden – und aufgrund der völligen Korruptheit der palästinensischen Führung wird „jedes Szenario“ einer „Zwei-Staaten-Lösung“ in der Praxis einen reaktionären und unterdrückerischen Ausgang finden, in dem die Palästinenserinnen die Hauptopfer sein werden, in dem aber auch die israelischen Arbeiterinnen verlieren werden, denn bekanntlich kann eine Nation, die eine andere unterdrückt, nicht selbst frei sein. Dies trifft nicht nur auf die sogenannte „Zwei-Staaten-Lösung“ zu, sondern auf alle Arrangements, die unter den gegenwärtigen Bedingungen getroffen werden. Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass wir Sozialistinnen der Versuchung widerstehen sollten, uns für irgendeine kurzfristige „Lösung“ stark zu machen. Da in einer kurzfristigen Perspektive eine gerechte, demokratische oder fortschrittliche Lösung schlicht unmöglich ist, sollten sich unsere Sofortforderungen auf grundlegende Prinzipien konzentrieren:
Sofortiger Rückzug der israelischen Armee aus allen besetzten Gebieten
Anerkennung des Rechts des palästinensischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung.
Gleiche individuelle Rechte für alle Personen aus allen ethnischen Gruppen.
Anerkennung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge – wie aller Opfer von ethnischen Säuberungen -auf Rückkehr.
Selbstverständlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Forderungen 3 und 4 kurzfristig keine Aussichten haben, umgesetzt zu werden. In der Praxis würde dies heute zu einer „Zwei-Staaten“-Konstruktion führen, einem palästinensischen Bantustan unter repressiver israelischer Hegemonie. Aber in einem solchen Fall wären wir in der Lage diese Umsetzung anzugreifen, ohne in die Verlegenheit zu kommen, einzugestehen, dass wir selbst dazu aufgerufen haben.
Gleichzeitig ist es unsre Pflicht als Sozialistinnen für etwas aufzurufen, was wir als die richtige Lösung in einer langfristigen Perspektive erachten und dabei selbstverständlich zu betonen, dass es sich dabei eben wirklich um eine langfristige Perspektive handelt, die radikale Veränderungen erfordert; für die es sich lohnt zu kämpfen, die aber sicherlich nicht in kurzer Zeit erreicht werden können.
Und ab diesem Punkt unterscheiden sich unsere Positionen. Die Formel des säkularen demokratischen Staates gibt eine solche Lösung nicht her. Lass’ mich zunächst klarstellen, dass diese Formel ihrem Wesen und ihrer Absicht nach einen nationalistischen Charakter hat. Dies wird zum Teil durch die Formulierung „säkular“ (nicht religiös begründet) verdeckt. Vollständig lautet die Formel: „ein demokratisches nicht-konfessionelles Palästina, wo Christen, Juden und Moslems ohne Diskriminierung leben und ihre Religion ausüben können.“ Sie wurde von Fatah, der Hauptorganisation der PLO Ende der 60er Jahre ausgedacht. Ihre Bedeutung wurde im Detail von Nabil Sha‘ath (einem der führenden Ideologen von Fatah und heute einer der Hauptprofiteure von Arafats korrupter Regierungsbehörde (PA) in einem Artikel der Fatah-Zeitschrift vom 19. Januar 1970 erläutert (aus der ich die oben zitierte vollständige Formel entnommen habe).
Wenn man den Text von Scha’aths detaillierten Erklärungen sorgfältig liest, wird man feststellen, dass er einen listigen ideologischen Trick anwendet, mit dem Ziel, das Problem als ein religiöses darzustellen. In dieser haltlosen Konzeption gibt es nur eine wirkliche Nationalität, die in dem Konflikt betroffen ist. das palästinensische Volk (das Teil der großen arabischen Nation ist -ich komme darauf zurück). Nach dieser Formel bilden die israelischen Juden keine Nationalität, sondern eine religiöse Gruppe. Sha’ath weist ausdrücklich die „… Bezeichnung bi-national [zwei Nationen oder Nationalitäten umfassend] und die Gegenüberstellung ‚jüdisch-arabisch‘ [als] bedeutungslos“ zurück (a.a.O.). Nach ihm sind in jedem Fall die orientalischen Juden (die damals unter den israelischen Juden die Mehrheit bildeten, heute aber, nach der Masseneinwanderung aus Russland, in der Minderheit sind) von ihrer Nationalität her arabisch, ob sie es wollen oder nicht. (Wie ich sehr sicher weiß, würde die überwältigende Mehrheit der Betroffenen dies sehr ärgerlich zurückweisen!)
Folgt man also den Erläuterungen der Erfinder dieser Formel, dann sieht dieses Konzept für die Schaffung eines Palästinas, das im nationalen Sinne arabisch wäre und das „Teil der großen arabischen Heimat und nicht ein anderer fremder Staat mittendrin sein wird.“ In diesem Staat wären dann die Israelis nur als eine von drei „religiösen Gruppen“ anerkannt und dürften „ohne Diskriminierung ihrer Religion nachgehen“.
Bekanntlich ist es bei Nationalisten gängige Praxis, sich die Angelegenheit auf der ideologischen Ebene dadurch zu vereinfachen, dass sie schlicht die Existenz der rivalisierenden Nation leugnen. So verfahren sie überall in der Welt. Die israelischen Nationalisten gingen viele Jahre lang in der entsprechenden Gegenrichtung vor: Sie leugneten die Existenz einer palästinensischen Nationalität – bis diese Fiktion von Menschen mit normalem Verstand nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Unglücklicherweise wird dieses ideologische Verfahren nicht nur von Unterdrückernationen, sondern auch von unterdrückten Nationen angewandt: Es erlaubt eine einfache Lösung des Problems im Bereich der Phantasie und zwar dann. wenn eine wirkliche Lösung, schwer zu erreichen ist Aber Sozialistinnen sollten nicht diesen Weg wählen. Ganz sicher sollten wir nationalistische Propaganda nicht unkritisch hinnehmen – auch nicht die von Seiten der unterdrückten Nationalität. Wir sollten mit der Feststellung beginnen, dass das Problem Palästina/Israel im wesentlichen ein nationales ist, das lediglich durch religiöse Elemente noch angeheizt wird.
Ein demokratisches Palästina müsste nicht einfach nur säkular sein, sondern „bi-national“. Jetzt könnte man fragen: Warum nicht als langfristige Lösung ausrufen: „Für ein bi-nationales (an Stelle eines säkularen) demokratisches Palästina“?
Meiner Ansicht nach gibt es gewichtige Einwände gegen eine solche Lösung. Zunächst würde ein bi-nationales Palästina – im Gegensatz zu einem lediglich „säkularen“ Staat zwar immerhin die Existenz der israelischen Nationalität von einem fortschrittlichen Standpunkt aus anerkennen, doch würde diese „Lösung“ die Bürger entlang (bi)nationaler Trennungslinien einteilen and dabei all jene übergehen, die sich nicht mit einer der beiden nationalen Gruppen identifizieren können oder wollen. Sie müssten sich zwangsweise einer dieser Gruppen zuordnen, um gleiche Rechte zu erhalten.
Zweitens – und das ist noch wichtiger – frage ich: Warum Palästina? Ich vertrete den Standpunkt, dass nicht nur die Grenze, die aus einer Zwei-Staaten-Lösung hervorginge, eine reaktionäre Teilung wäre. Die heutige Aufteilung der arabischen Welt ist es ebenso.
Die große arabische Nation – eine damals gerade im Entstehen begriffene Nation. mit einer gemeinsamen Geschichte, einer Sprache und ähnlicher Kultur, aber vielen lokalen Schattierungen – wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert künstlich aufgeteilt, weitgehend gemäß imperialistischer Interessen. Die letzte dieser Teilungen, mit der Libanon von Syrien abgetrennt wurde, hat der französische Imperialismus 1926 durchgesetzt. Die Teilung zwischen cisjordanischem Palästina (später kurz Palästina und heute Israel genannt) und transjordanischem Palästina (später Transjordanien und heute Jordanien genannt) wurde erst 1923 von einem gewissen Winston Churchill durchgedrückt. Du erinnerst Dich? Er war der Kolonialsekretär in Baldwins Regierung und vollendete diese Maßnahme 1928, um den Schützling Großbritanniens Amir Abdallah (später König Abdallah I. von Jordanien, Urgroßvater des gegenwärtigen Königs Abdallah II.) zufriedenzustellen. den die Briten aus Hijaz von der arabischen Halbinsel herbeigebracht hatten. (Sie waren ihm verpflichtet nachdem sein älterer Bruder Faisal, den sie als König von Syrien hatten einsetzen wollen, von den Franzosen vertrieben worden war. Faisal selbst bekam dann den Irak.) Du siehst also, diese Grenzen sind nicht ehrwürdiger oder weniger künstlich als die Grenze in Irland, gegen die du dich wendest.
Das nationale Problem Palästinas ist mit dem nationalen Problem des arabischen Ostens verzahnt, der größtenteils aus einer arabischen Nation besteht, die in regionale Unternationalitäten aufgeteilt ist. (Übrigens trägt die arabische Sprache diesem Umstand Rechnung und unterscheidet diese zwei Ebenen der Nationalität: Die arabische Nation wird mit „qawmah“, die lokalen bzw. regionalen Untergruppen mit „sha’ab“ bezeichnet.) Die arabische Nation ist mit der gleichen historischen Aufgabe konfrontiert, die in Westeuropa – mit der Ausnahme Irlands – gerade abgeschlossen wurde. Italien war der vorletzte, Deutschland vor ein paar Jahren der letzte Fall). Dies ist der historische Zusammenhang, in dem das nationale Problem von Israel/Palästina zu sehen ist.
Selbstverständlich ist auf kurze Sicht nicht die geringste Chance einer nationalen arabischen Vereinigung vorhanden, ganz gleich in welcher, und erst recht nicht in einer progressiven Weise, und zwar deswegen, weil es keine tiefgreifende wirtschaftliche, soziale und politische Transformation der gesamten Region gibt.
Aber dasselbe trifft auch auf ein wirklich demokratisches Palästina zu. Es gibt nicht die geringste Chance für eine Veränderung der Kräfteverhältnisse zugunsten des palästinensischen Volkes ohne eine solche regionale Transformation. Solange Israel nur mit den Palästinenserinnen konfrontiert ist und der arabische Osten schwach und gespalten ist, wird Israel viel zu stark bleiben und immer in der Lage sein, seine unterdrückerische Politik umzusetzen. Wenn also für ein gesondertes demokratisches Palästina (und zwar die gesamten 27 000 km2 oder 10 500 Quadratmeilen) wie auch für einen vereinigten arabischen Osten in jedem Fall vergleichbare Vorbedingungen erfüllt sein müssen: Für welche Perspektive sollten wir uns stark machen?
Ich sage: Denken wir groß! „...denn die Vorteile der großen Staaten, sind sowohl vom Standpunkt des ökonomischen Fortschritts als auch von demjenigen der Interessen der Massen zweifellos, wobei diese Vorteile mit dem Kapitalismus steigen.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Thesen), 1916, Lenin Werke, Bd. 22, S. 147f; hier muss sogar ich eingestehen, dass er verdammt Recht hatte.)
Übrigens kannst du einen dieser „Vorteile“ an dem Fall Irland sehen. Die Grenzfrage wird innerhalb der Europäischen Union, in der sowohl Großbritannien als auch Irland Mitglied sind, viel leichter zu lösen sein, so dass diese dornige Grenze zu einer internen Grenze innerhalb der EU wird. Vor der EU gab es nur zwei Optionen: ein nordirisches Ulster, das Teil des Vereinigten Königreichs ist, oder vollständige Integration in die irische Republik. Die erste Option war von einem fortschrittlichen Standpunkt aus vollkommen inakzeptabel, denn sie bedeutete die Hinnahme orangistischer Hegemonie und Unterdrückung. Die zweite Option war vorzuziehen, aber nur als das kleinere Übel, denn die Aussicht, in einen sehr stark von (katholischen) Priestern beherrschten und am Papst orientierten Staat gezwängt zu werden, war für die protestantische Gemeinschaft nicht akzeptabel. Ein eigenständiger nordirischer Staat wäre eine Totgeburt.
Aber innerhalb der EU werden alle möglichen anderen Szenarien denkbar, einschließlich eines halbautonomen Nordirlands, halbautonom sowohl vom Vereinigten Königreich wie von der irischen Republik, aber im gleichen Maße wie sie Teil der EU wäre. Warum sollte sich jemand mehr um diese Grenze scheren als um die Grenze sagen wir zwischen Holland und Belgien, die man ohne es zu merken überqueren kann?
Die nationalen Probleme in Irland und in Palästina/Israel sind in vielerlei Beziehungen sehr unterschiedlich, und jedem, der eines dieser Probleme näher kennt, muss es gefährlich erscheinen, vereinfachende Vergleiche anzustellen. Aber eine allgemeine Wahrheit, die überall zutrifft, besteht darin, dass jegliche interne Grenze innerhalb eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates etwas vollkommen anderes ist, so-wohl auf der symbolischen wie auf der faktischen Ebene, als eine internationale Grenze zwischen zwei vollkommen souveränen Staaten.
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In einer großen Union des arabischen Ostens, wäre es möglich, eine progressive demokratische Lösung für die einzelnen lokalen nationalen Probleme der Region zu finden, einschließlich des palästinensisch-israelischen. Letzteres kann dann gelöst werden, ohne vorzugeben, die israelisch-jüdische Nation sei nur eine Religionsgemeinschaft; sie kann dann als das behandelt werden, was sie ist, eine Nation.
Das palästinensische Volk könnte dann Selbstverwaltung erhalten (so wie andere arabische Völker innerhalb der arabischen Föderation), und nicht als ein von Israel beherrschtes Bantustan, sondern als ein gleicher und vollwertige Partner in der Föderation. Und die Israelis: Sie wären eingeladen – ähnlich wie andere nicht arabische Minderheiten in der Region (die Kurden und die Völker im südlichen Sudan), sich an dieser Föderation zu beteiligen, und zwar auf der Basis von Demokratie und Selbstbestimmung. Dies wäre für beide Seiten attraktiv und für die Minderheitsnationen wäre es verrückt, dies zurückzuweisen. Wir SozialistInnen jedenfalls würden ihnen eine Beteiligung wärmstens nahelegen.
Solidarisch
Moshé
P.S. Nachdem ich Martin Thomas’ Antwort auf deinen Brief gelesen habe, denke ich, dass er nicht wirklich auf die von dir aufgeworfenen Fragen eingeht. Jedenfalls geht er nicht auf meine ein. Deswegen fasse ich nochmals zusammen: Was die kurzfristige Perspektive angeht, so kann eine Zwei-Staaten-Lösung weder demokratisch noch sonst wie fortschrittlich sein, sondern nur ein Bantustan zur Folge haben. Was die langfristige Perspektive angeht, so ist sie aus denselben Gründen unangemessen, denn auf beiden Ebenen wird dabei Palästina/Israel aus dem unlösbaren regionalen Zusammenhang gerissen: Sie gehen mit einem lokalen Ansatz an ein Problem heran, für das es keine ausschließlich lokale Lösung geben kann, sondern das nur in einem größeren Zusammenhang angepackt werden kann.
„Innerhalb“ Palästinas eine internationale Grenze zu errichten, wäre rückschrittlich. Aber es wäre auch falsch, die gegenwärtigen internationalen Grenzen von „Palästina/Israel“ mit „Jordanien“ und dem übrigen arabischen Osten zu festigen, genauso wie andere Teilungen in der Region (etwa die zwischen Syrien und Libanon). Nur wenn es gelingt, all diese Grenzen in interne Grenzen innerhalb der regionalen Union zu transformieren, wird es möglich sein, eine wirklich demokratische Lösung zu finden.
MM
Übersetzung: D. Berger |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 372/373 (November/Dezember 2002). | Startseite | Impressum | Datenschutz