Julien Salingue
Am 3. Oktober erklärte der faktische [1] Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, er lehne jeden Dialog mit Israel ab, sofern das Moratorium des Siedlungsbaus im Westjordanland nicht verlängert werde. Gleichentags war der abtretende Oberbefehlshaber der israelischen Armee, Gaby Ashkenazi, zu „Besuch“ in Bethlehem, wo er Vertreter der palästinensischen Sicherheitsdienste traf. Die Gleichzeitigkeit dieser in sich widersprüchlich erscheinenden Ereignisse entspricht dem zunehmenden Auseinanderdriften von diplomatischen Bemühungen zur Wiederbelebung des seit Langem toten und begrabenen Friedensprozesses und der Realität vor Ort, der Fortsetzung der expansionistischen Politik Israels und der immer engeren Einbindung der Palästinenserbehörde (PA) in den kolonialen Unterdrückungsapparat.
Im folgenden Beitrag sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die wichtigsten Merkmale der gegenwärtigen Situation in den Palästinensergebieten dargestellt werden. Durch Einordnung der aktuellen Ereignisse in ihren Kontext und ihre Vorgeschichte sowie Untersuchung der groben Entwicklungslinien und der Realität vor Ort sollen mit Blick auf die PA in Ramallah und die Linke die Logik aufgezeigt werden, die der palästinensischen Politik zugrunde liegt. Die Linke und insbesondere die PFLP befindet sich in einem Prozess der kritischen Aufarbeitung der Oslo-Jahre und ist sich der Tragik des politischen Kurses bewusst, den die aus der PLO hervorgegangenen Kräfte verfolgen. So hat die PFLP vor Kurzem angekündigt, sie werde sich nicht mehr an den Führungstreffen der PLO beteiligen, um gegen die Wiederaufnahme von direkten Verhandlungen durch Abbas zu protestieren. Es ist nicht das erste Mal, dass die PFLP zu einem solchen Entschluss kommt; dennoch ist er bezeichnend.
Ich möchte jedoch weniger auf diese Aktualität eingehen, als vielmehr die Entwicklungen der letzten Jahre beleuchten und vorerst einen Blick auf das belastende Erbe des 17-jährigen „Friedensprozesses“ werfen. Danach möchte ich auf Charakteristika der Politik des faktischen Regierungschefs [2] Salam Fayyad und zuletzt auf die aktuelle Dynamik der „nicht-islamischen“ palästinensischen Nationalbewegung oder dessen, was davon übrig geblieben ist [3], eingehen. Dabei greife ich auch auf frühere Artikel zurück, die aktualisiert und in den Zusammenhang gestellt werden.
Die Fiktion eines „Friedensprozesses“
Wörter haben eine Bedeutung, und so muss auch das Konzept von „Friedensprozess“ hinterfragt werden, das gebetsmühlenartig in der Nahost-Berichterstattung auftaucht. Der gängigsten Interpretation zufolge begann der „israelisch-palästinensische Friedensprozess“ Anfang der 90er-Jahre und mündete in die Unterzeichnung des Oslo-Abkommens (1993/94), das zahlreichen Kommentatoren und Diplomaten zufolge „das Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts“ versprach. Dieser „Friedensprozess“ sei mehrfach unterbrochen worden, aber nach wie vor existent, stehe über den Ereignissen und warte darauf, wieder in Gang gesetzt zu werden.
Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, und die PalästinenserInnen haben uns das in den letzten zehn Jahren mindestens zweimal in Erinnerung gerufen. Zuerst im September 2000, als sich die Bevölkerung des Gazastreifens und des Westjordanlands erhob, um ihre Wut über die anhaltende israelische Besatzung, Kolonisierung und Repression zum Ausdruck zu bringen. Und erneut bei den Parlamentswahlen von Januar 2006, als sie der Hamas zum Sieg verhalf – einer Organisation, die zu diesem Zeitpunkt klar gegen den Verhandlungsprozess auftrat und die Fortsetzung des auch bewaffneten Widerstands gegen Israel befürwortete.
Sind die PalästinenserInnen verrückt geworden? Nein, aber im Gegensatz zu den Diplomaten leben sie in Palästina und konnten mitverfolgen, wie sich die Zahl der SiedlerInnen im Westjordanland und Jerusalem zwischen 1993 und 2000 verdoppelt hat. Sie mussten miterleben, wie Hunderte israelische Checkpoints und Dutzende den SiedlerInnen vorbehaltene Straßen aus dem Boden schossen, was jeden kleinsten Ortswechsel vom Wohlwollen der israelischen Behörden abhängig macht. Sie sahen, wie Jerusalem vom Rest des Westjordanlands und der Gazastreifen vom Rest der Welt abgetrennt wurden. Sie erlebten ab September 2000 eine beispiellose israelische Repression, mit Tausenden zerstörten Häusern, Zehntausenden Festnahmen, Tausenden Toten und Zehntausenden Verletzten. Sie sehen die Mauer, die sie in Gettos einschließt. Dagegen war weder von Frieden noch von Prozess etwas zu sehen.
Das Oslo-Abkommen: Besatzung mit anderen Mitteln
„Seit Beginn gibt es zwei Lesarten des Oslo-Prozesses: einerseits, dass er dank eines palästinensischen Marionettenregimes die Kosten der Besatzung reduzieren soll, wobei Arafat die Rolle des für Israels Sicherheit verantwortlichen Polizeichefs zu spielen hat, andererseits, dass der Prozess in den Zusammenbruch Arafats und der PLO führen soll. Die Demütigung Arafats, seine immer offensichtlichere Kapitulation werden zunehmend dazu führen, dass er jeden Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Die PLO wird zusammenbrechen oder sich in internen Kämpfen aufreiben. (…) Und es wird leichter werden, die schlimmste Unterdrückung zu rechtfertigen, wenn der Gegner eine fanatische islamistische Organisation sein wird.“ [4]
Diese im Februar 1994 von der israelischen Professorin Tanya Reinhart verfassten Zeilen erscheinen im Nachhinein als prophetisch. Doch Tanya Reinhart war keine Hellseherin. Sie hatte nur vor anderen begriffen, was der Oslo-Prozess wirklich war. Wer immer das 1993 unterzeichnete Abkommen und die Nachfolgeverträge liest, versteht, dass man es mit etwas ganz anderem zu tun hat als mit „Friedensverträgen“. Zentrale Fragen wie die Zukunft Jerusalems, das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge und die Pläne für die israelischen Siedlungen fehlen und sind auf hypothetische „Endstatusverhandlungen“ vertagt. Genauso wenig ist vom „Rückzug“ der israelischen Armee aus den besetzten Gebieten die Rede. Vielmehr geht es nur um deren „Umgruppierung“.
Was auch immer die Absichten oder Illusionen der palästinensischen Unterhändler in Bezug auf die Schaffung eines „palästinensischen Staates“ gewesen sein mögen, die Wahrheit von Oslo sieht anders aus: Israel, das zu diesem Zeitpunkt ganz Palästina besetzt hält, verpflichtet sich, seine Truppen schrittweise aus den wichtigsten palästinensischen Ballungszentren zurückzuziehen und deren Verwaltung der extra dafür geschaffenen Palästinenserbehörde (PA) zu übertragen. Der PA wird die Zuständigkeit über diese Gebiete übertragen. Sie muss unter Beweis stellen, dass sie dort mithilfe eines „mächtigen Polizeikontingents“ die Ruhe aufrechterhalten kann. Jeder „Fortschritt“ im Verhandlungsprozess wird von „guten Ergebnissen“ der PA im Sicherheitsbereich abhängig gemacht. Besatzung und Kolonisierung gehen weiter, die PA hat aber den Auftrag, in der palästinensischen Gesellschaft für Ruhe und Ordnung zu sorgen – die klassische Kolonialordnung also.
Widersprüche Israels und des Zionismus
Das Oslo-Abkommen war in seiner Logik nichts anderes als die Wiederaufnahme eines alten israelischen Plans, des „Allon-Plans“ [5], benannt nach einem General der Arbeitspartei. Er wurde im Juli 1967 dem israelischen Regierungschef Levi Eshkol vorgelegt und war eine Antwort auf die durch den Krieg von 1967 neu geschaffene Situation. Israel hatte unter anderem die Kontrolle über ganz Palästina erlangt. Vor vielen anderen waren Ygal Allon die Widersprüche aufgefallen, mit denen Israel und der Zionismus früher oder später konfrontiert sein würden, und er wollte sie möglichst pragmatisch lösen.
Als sich Ende des 19. Jahrhunderts die junge zionistische Bewegung zum Ziel setzt, einen jüdischen Staat in Palästina zu errichten, sind 95 Prozent der dortigen Einwohner nichtjüdisch. Die Zionisten waren überzeugt davon, der europäische Antisemitismus beweise die Unmöglichkeit des Zusammenlebens der jüdischen Bevölkerung mit den europäischen Nationen. Daher sahen sie die Auswanderung nach Palästina vor, um dort als Mehrheit einen eigenen Staat zu errichten. Am ersten Zionistenkongress (1897) wurde der Grundsatz der „systematischen Besiedlung Palästinas“ beschlossen, in einer Zeit, als der Nationalismus auf ethnischer Grundlage und der Kolonialismus Auftrieb hatten.
Im November 1947 beschließt die UNO den Grundsatz der „Teilung Palästinas“ in einen jüdischen Staat (55 % des Territoriums) und einen arabischen Staat (45 %). Zu diesem Zeitpunkt ist ein Drittel der Bevölkerung jüdisch. Die Armee des neuen Staates Israel erobert in der Folge militärisch zahlreiche Gebiete, die theoretisch dem arabischen Staat zugesprochen worden waren. 1949 kontrolliert Israel 78 Prozent Palästinas. Um den Charakter des jüdischen Staats zu bewahren, wird die nichtjüdische Bevölkerung systematisch vertrieben: 800 000 PalästinenserInnen, das sind 80 Prozent der Einwohner, werden ins Exil gezwungen, ihre Rückkehr wurde seither unterbunden.
Der Krieg von 1967 ist ein „gescheiterter Krieg von 1948“. Obwohl Israel militärisch eindeutig überlegen ist und in der Folge 100 Prozent von Palästina kontrolliert, sind die PalästinenserInnen diesmal nicht geflüchtet. Israel behauptet, ein „jüdischer und demokratischer“ Staat zu sein. Gleiche Rechte für die PalästinenserInnen kämen dem Verzicht auf den jüdischen Charakter des Staates gleich. Deren Verweigerung bedeutet, auf die demokratischen Ansprüche zu verzichten. Allon schlägt daher vor, die palästinensischen Ballungszentren zu verlassen und ihnen eine Scheinautonomie zu gewähren, dabei aber die Kontrolle über das gesamte eroberte Gebiet zu bewahren – vereinzelte palästinensische Inseln im israelischen Meer.
Vom Krieg der Steine zur Wahl-Intifada
Die Philosophie des Allon-Plans ist leitend für die Politik der israelischen Regierungen der 70er- und 80er-Jahre, auch wenn der Zeitpunkt der Übertragung einiger Rechte auf die PalästinenserInnen möglichst hinausgezögert wird. Mit der ersten Intifada (Ende 1987), dem anhaltenden Massenaufstand der Bevölkerung des Westjordanlands und Gazastreifens, ändert sich alles. Zu Beginn der 90er-Jahre ist die Palästina-Frage ein Instabilitätsfaktor im Nahen Osten, diesem strategischen Raum, wo die USA ihre Vormacht gegenüber der UdSSR behaupten möchten. Die US-Regierung zwingt Israel zu Verhandlungen: Das Ergebnis ist das Oslo-Abkommen, das den PalästinenserInnen nichts anderes als eine Scheinautonomie über die dichtest besiedelten Gebiete „anbietet“.
Yitzak Rabin, oft als derjenige dargestellt, „der Frieden hätte bringen können“, äußerte sich unmissverständlich: „Der Staat Israel wird den größten Teil des Landes Israel aus der Zeit des britischen Mandats integrieren, Seite an Seite mit einer palästinensischen Entität, die den meisten PalästinenserInnen im Westjordanland und Gazastreifen eine Heimat bieten wird. Wir möchten, dass diese Einheit weniger als ein Staat ist und unabhängig das Leben der PalästinenserInnen verwaltet, die unter ihrer Autorität stehen. Die Grenzen des Staates Israel (…) werden jenseits der Linien liegen, die vor dem Sechstagekrieg bestanden. Wir werden nicht auf die Linien vom 4. Juni 1967 zurückkehren.“ [6] Weiter fügte er hinzu, Israel werde die meisten Siedlungen annektieren und die Souveränität über Jerusalem, seine „vereinte, unteilbare Hauptstadt“, und das Jordantal behalten. Die palästinensische Bevölkerung musste bald feststellen, dass Israel die Kontrolle über den Großteil Palästinas nicht aufzugeben gedenkt. Der Siedlungsbau beschleunigte sich, Vertreibungen nahmen zu und die PalästinenserInnen sind immer mehr in von Armee und SiedlerInnen umzingelte Bantustans abgesondert. Während sich die Lage für die Bevölkerung verschlechtert, bereichert sich eine Minderheit an Privilegierten aus Mitgliedern und Angehörigen der neuen Palästinenserbehörde im großen Stil und arbeitet im Sicherheits- und Wirtschaftsbereich immer offener mit Israel zusammen. Im September 2000 erhebt sich die palästinensische Bevölkerung erneut.
Die „zweite Intifada“ wird von Israel niedergeschlagen. Yassir Arafat, dem vorgeworfen wird, ein Abkommen zur definitiven Kapitulation zu zögerlich zu unterzeichnen, wird an den Rand gedrängt. Israel und die USA favorisieren den Aufstieg von Mahmud Abbas (Abu Mazen), der beispielsweise im Juni 2003 an einem Gipfeltreffen mit Bush und Sharon teilnimmt, während Arafat in Ramallah eingesperrt ist. Nach dem Tod des alten Führers wird Abu Mazen im Juni 2005 mehr schlecht als recht zum Vorsitzenden der PA gewählt (geringe Wahlbeteiligung, kein Hamas-Kandidat). Um sich eine parlamentarische Legitimität zu verschaffen, ohne die ein Abkommen mit Israel nicht angenommen würde, werden im Januar 2006 Parlamentswahlen durchgeführt. Am Sieg der Hamas ist nicht zu rütteln: Die Bevölkerung bringt mit ihrem Abstimmverhalten unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie die völlige Kapitulation ablehnt und gewillt ist, den Kampf fortzusetzen.
Das Ende des Oslo-Intermezzos
Der Sieg der Hamas zeigt den völlig illusorischen Charakter des „Oslo-Plans“ als Möglichkeit, die Palästina-Frage durch Bildung von Bantustans unter einheimischer Verwaltung die Israel entgegenkommt und gleichzeitig legitimiert und stabil ist, zu lösen,. Doch die „internationale Gemeinschaft“ will davon nichts wissen. Es folgen der Boykott der Hamas-Regierung, die Unterstützung der Abriegelung des Gazastreifens, die Anerkennung der von Abu Mazen ausgerufenen „Notstandsregierung“ im Westjordanland. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union verhalten sich weiter so, als ob eine „Rückkehr zu Oslo“ machbar und wünschenswert wäre.
Wie erwähnt, ist es aber gerade der „Friedensprozess“, der zur zweiten Intifada und der Machtübernahme durch die Hamas geführt hat, die als einzige Organisation in der Lage ist, die materielle Unterstützung der Bevölkerung mit der Kritik am Verhandlungsprozess und der Fortsetzung des Widerstands gegenüber Israel zu verbinden. Wenn von der nötigen „Rückkehr zur Lage vor September 2000“ die Rede ist, drängt sich die Frage auf, ob es nicht gerade diese „Lage vor September 2000“ war, die den Aufstand im September 2000 provoziert hat.
Die laufenden diplomatischen Ausflüchte und Verrenkungen beweisen in Wirklichkeit das Scheitern. Allen wird immer deutlicher bewusst, dass das Oslo-Intermezzo zu Ende ist, und während manche sich noch immer blind daran klammern, einen Toten wieder zum Leben erwecken zu wollen, suchen andere nach Alternativen – die Ideen, und seien sie noch so unrealistisch, sprudeln, von der Ausrufung eines palästinensischen Staates ohne Grenzen über eine jordanische Verwaltung über die palästinensischen Bantustans bis zur Entsendung von UNO-Truppen in den Gazastreifen. Diese Eile, „eine Lösung zu finden“, ist in Wirklichkeit Folge eines wenn auch nur partiellen Eingeständnisses der zwei Logiken, die das Geschehen vor Ort tatsächlich bestimmen: des verstärkten Zugriffs Israels auf das Westjordanland und Jerusalem, namentlich durch immer stärkere Einbindung der Palästinenserbehörde in den kolonialen Unterdrückungsapparat, und der neuerlichen Mobilisierung der palästinensischen Bevölkerung sowie der Stärkung der internationalen Solidarität.
Verstärkter Zugriff Israels
Zuerst zu Jerusalem: Seit ein paar Tagen konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Ausschreibung von 238 neuen Wohneinheiten. Ist denn schon vergessen, dass 200 000 SiedlerInnen in Jerusalem und seinen Vororten leben? Dass es in den letzten Monaten Dutzende Vertreibungen und Häuserzerstörungen gab? Die 238 neuen Wohnungen sind kein Zufall, sondern entsprechen der seit 1967 verfolgten Logik der Judaisierung Jerusalems und der Isolation der Stadt vom Rest der Palästinensergebiete, um jeglichen Anspruch auf eine palästinensische Souveränität über die Stadt zu vereiteln.
Nun zum Westjordanland, dessen „wirtschaftliche Entwicklung“ gerühmt wird. Der Zufluss an internationaler Hilfe hat der Palästinenserbehörde im Westjordanland zweifellos erlaubt, die Beamtengehälter zu zahlen. Dennoch ist es gewagt, von einem realen Aufschwung und einer spürbaren, anhaltenden Verbesserung der Lage der Bevölkerung zu reden. Das palästinensische BIP ist 2009 insgesamt gewachsen, liegt aber 35 Prozent unter dem Wert von 1999. Zudem verschleiert der Wert enorme Ungleichheiten zwischen dem Bausektor, der um 24 Prozent gewachsen ist, und beispielsweise der landwirtschaftlichen Produktion, die um 17 Prozent gesunken ist.
Zudem wurde die israelische Kontrolle über das Westjordanland nicht infrage gestellt: „Der Kontrollapparat wird immer ausgeklügelter und effizienter im Hinblick auf die Fähigkeit, alle Aspekte des Lebens der Palästinenser zu überwachen (…). Der Kontrollapparat umfasst ein Bewilligungssystem, physische Barrieren (…), Benutzungsverbote für Straßen, das Verbot des Zugangs zu weiten Teilen des Westjordanlands (…). Er hat das Westjordanland in eine Ansammlung fragmentierter, voneinander isolierter wirtschaftlicher und sozialer Enklaven verwandelt.“ [7] Das schreibt niemand Geringerer als die Weltbank in einem Bericht vom Februar 2010.
Zudem hat Israel selbst in den zehn Monaten des „vorübergehenden Einfrierens“ des Siedlungsbaus seit November 2009 die Errichtung von 3600 Wohnungen bewilligt und setzt damit eine Politik fort, in deren Zug sich die Zahl der SiedlerInnen 2009 um 4,9 Prozent erhöht hat, während die israelische Bevölkerung nur um 1,8 Prozent gewachsen ist. Nicht zuletzt erklärte am 3. März Regierungschef Netanyahu, dass selbst im Fall eines Abkommens mit den PalästinenserInnen ausgeschlossen sei, dass Israel die Kontrolle über das Jordantal abgebe.
Schließlich zu Gaza. Die Abriegelung bedeutet für die Bevölkerung des Gazastreifens eine beispiellose wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Innerhalb von zwei Jahren mussten 95 Prozent der Betriebe schließen und wurden 98 Prozent der Stellen im Privatsektor zerstört. Die Liste der Produkte, die mit einem Einfuhrverbot belegt sind, umfasst Bücher, Tee, Kaffee, Zündhölzer, Kerzen, Gries, Schreibstifte, Schuhe, Matratzen, Leintücher, Tassen, Musikinstrumente. Das Einfuhrverbot für Zement und chemische Produkte verhindert den Wiederaufbau der während der Bombardierungen 2008/09 zerstörten Infrastruktur, von Privathäusern bis zu Wasseraufbereitungsanlagen, mit all den damit einhergehenden Gesundheitsproblemen.
Unter diesen Bedingungen überrascht es nicht, dass erneut Proteste aufflammen (Entstehung von Strukturen des „Volkswiderstands“ in zahlreichen Dörfern, Kundgebungen gegen Mauer und Siedlungsbau etc.) und sich die meisten PalästinenserInnen überhaupt keine Illusionen über die „Wiederaufnahme von Verhandlungen“ machen.
Ein Plan „Ruhe gegen Nahrung“
Der verstärkte Zugriff Israels auf die Palästinensergebiete lässt sich nicht verstehen ohne Berücksichtigung der Rolle, die die Palästinenserbehörde in Ramallah unter der Führung von Präsident Mahmud Abbas und Ministerpräsident Salam Fayyad spielt.
Im Juni 2007 rief Präsident Abbas nach dem gescheiterten Staatsstreich im Gazastreifen unter Anführung des Fatah-Abgeordneten Mohammad Dahlan [8] den Notstand aus und nominierte statt der von der Hamas dominierten Regierung ein neues Kabinett unter Leitung von Salam Fayyad. Dessen Liste hatte bei den Parlamentswahlen von Januar 2006 zwar nur zwei von 132 Sitzen errungen, doch Fayyad, früher ein hoher Beamter in Weltbank und Internationalem Währungsfonds, war der Wunschkandidat der USA und der EU für die Funktion des Regierungschefs. Die Erpressung mit den seit der Hamas-Wahl eingefrorenen Zahlungen ließ Abbas seine Zurückhaltung gegenüber dieser „Entscheidung“ schnell aufgegeben.
Mitte Juni 2007 trat Fayyad also sein Amt an und setzte eine Reihe von Reformen in den Palästinensergebieten des Westjordanlands um. Drei Jahre später liegt die Rolle, die Fayyad zugedacht wurde, klar auf der Hand: Er soll den Widerstand entwaffnen und durch Normalisierung der Beziehungen zu Israel den Schwerpunkt der Palästina-Frage von der Politik auf die Wirtschaft verschieben. Er soll durchsetzen, was ich „Schweigen gegen Essen“ [9] nennen möchte, mit dem Ziel, die Gebiete des Westjordanlands zu stabilisieren, indem die Lebensbedingungen eines Teils der Bevölkerung spürbar verbessert und die Gegner unterdrückt werden, ohne jedoch die nationalen Forderungen der PalästinenserInnen zu erfüllen.
Ein „wirtschaftlicher Frieden“? [10]
Das Jahr 2007 scheint ein Wendepunkt im Umgang mit der Palästina-Frage. Die Rhetorik des „wirtschaftlichen Friedens“ zwischen Israel und Palästina dominiert sowohl beim Sonderbeauftragten des „Nahostquartetts“ Tony Blair als auch beim palästinensischen Ministerpräsidenten Salam Fayyad und dessen israelischen Amtskollegen Ehud Olmert und Benyamin Netanyahu. Die Philosophie, die hinter dieser Doktrin steckt, lautet im Wesentlichen: Die Voraussetzung für jede Verhandlungslösung des Konflikts zwischen Israel und den PalästinenserInnen ist eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sich Letztere entwickeln. Die Priorität muss daher auf israelische Maßnahmen gelegt werden, die eine bessere Wirtschaftsentwicklung in den Palästinensergebieten erlauben, sowie auf die verstärkte Unterstützung der palästinensischen Wirtschaft durch die Geberländer.
Die Doktrin des „wirtschaftlichen Friedens“ ist Teil eines Paradigmenwechsels im Umgang mit der Palästinafrage: Es geht darum, die PalästinenserInnen als Personen zu betrachten, denen es um Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse geht, und nicht um ein Volk, das kollektive nationale Rechte einfordert. Für Fayyad und seine ausländischen Unterstützer geht es nicht so sehr darum, mit der „Wirtschaftspolitik“ der PA während der Oslo-Jahre zu brechen, sondern diese vielmehr voranzutreiben, zu fördern und zu überhöhen, indem sie als Schlüssel einer zukünftigen Lösung des Konflikts zwischen Israel und den PalästinenserInnen dargestellt wird.
Die Regierung Fayyad bricht mit manchen früheren Praktiken und hat offensichtlich die Konten der PA „bereinigt“ und einen gewissen Klientelismus gestoppt. Doch die seit Oslo vorherrschende Logik wird weiterverfolgt. Die „neue Wirtschaftspolitik“ Fayyads gleicht stark jener der PA in den Jahren 1990 bis 2000: Ausländische Investitionen werden auf Kosten der lokalen Unternehmer insbesondere mit Steuerbefreiungen gefördert, die rentabelsten Sektoren (Handel, Wohnungsbau, Luxushotels in Ramallah, Mobiltelefonleitungen) ausgebaut und im Budget der PA dem Sicherheitssektor Priorität eingeräumt. Für das Geschäftsjahr 2008/09 sind für den Posten „Umwandlung und Reform des Sicherheitssektors“ Ausgaben in derselben Höhe vorgesehen wie für die Posten „Zugang zu Bildung“ und „Verbesserung der Qualität der Gesundheitsdienste“ zusammen (konkret wurden zwischen Dezember 2008 und Juni 2009 im Sicherheitsbereich 1325 Stellen geschaffen und 94 Stellen im Gesundheitsbereich gestrichen. [11]
Das für 2009 prognostizierte palästinensische Wirtschaftswachstum ist, wenn man die vorhandenen Angaben untersucht, reine Augenwischerei. Hinter scheinbar schmeichelhaften Zahlen (+6,8 %) verbergen sich zahlreiche Disparitäten, die der genannten Logik entsprechen. Die wachstumsfördernden Sektoren sind Bau (+22 %) und Dienstleistungen (+11 %), während die Industrieproduktion nur schwach steigt und die landwirtschaftliche Produktion sinkt. Die in Wirtschaftsentwicklungsprojekte gesteckten Beträge (400 Millionen Dollar) liegen deutlich unter dem, was die Regierung Fayyad geplant hatte (1,2 Milliarden Dollar). Die verschiedenen Wirtschaftsenklaven weisen deutlich unterschiedliche Ergebnisse auf, nicht nur zwischen dem Westjordanland und Gazastreifen, sondern auch zwischen einigen dynamischen Städten wie Ramallah und Bethlehem und dem Rest des Westjordanlands. Israel übt weiterhin eine strenge Kontrolle über die palästinensischen Importe und Exporte aus. Noch dazu gibt es ein erhebliches Budgetdefizit (1,59 Milliarden Dollar, also 26 % des BIP), das die PA in einer völligen wirtschaftlichen Abhängigkeit gegenüber den Gebern hält. Und selbst wenn die Arbeitslosigkeit im Westjordanland sinkt, leben heute die Hälfte bis zwei Drittel der palästinensischen Haushalte unter der Armutsgrenze. [12]
Der scheinbare gegenwärtige Wohlstand entspricht keiner wirklichen wirtschaftlichen Unabhängigkeit gegenüber Israel oder den Gebern. Die palästinensische Wirtschaft bleibt eine den israelischen Entscheidungen und den Forderungen der Geldgeber sowie Investitionsprojekten untergeordnete, abhängige Wirtschaft. Getreu dem Motto der Palestine Investment Conference, die mit Unterstützung der Regierung Fayyad 2008 organisiert wurde – „You can do business in Palestine“ [13] –, entwickeln die Investoren eine Art von „Casino-Wirtschaft“, die sich wenig um die reale, langfristige Entwicklung vor Ort kümmert, sondern kurzfristig Gewinne sichern soll, die deutlich über ihrem Einsatz liegen, im Wissen, dass auch ein hohes Risiko besteht, alles zu verlieren. Alles deutet darauf hin, dass die Bevölkerung in den besetzten Gebieten nicht bereit ist, ihre Rechte gegen einen relativen, vorübergehenden und strukturell künstlichen „Wirtschaftsaufschwung“ einzutauschen, von dem in Wirklichkeit nur eine Minderheit profitiert. Daher der zweite Teil der Politik Fayyads, die Repression.
Der Wiederaufbau des Sicherheitsapparats [14]
Während der Ära Arafats drückte die zwiespältige Rolle der Sicherheitskräfte (Aufrechterhaltung der Ordnung und Zusammenarbeit mit Israel auf der einen und ab September 2000 Beteiligung an bewaffneten Operationen gegen Israel auf der anderen Seite) einen der grundlegenden Widersprüche des Oslo-Prozesses aus: „Seit dem Oslo-Abkommen und der Entstehung der Palästinenserbehörde (…) standen die PalästinenserInnen vor einem grundlegenden strategischen Dilemma, die Forderungen der nationalen Befreiung und des Widerstands gegen die Besatzung mit den Voraussetzungen für eine Staatenbildung zu vereinbaren (…) Die Palästinenserbehörde ist mit zwei widersprüchlichen Ansprüchen konfrontiert. Einerseits erwartet man von ihr, dass sie die Gesetzesgewalt durchsetzt und jede nicht offizielle bewaffnete Demonstration verhindert. Gleichzeitig soll sie (…) die nationale Sache der PalästinenserInnen einschließlich des Rechts auf Widerstand unterstützen.“ [15]
Mit dem Tandem Abbas-Fayyad werden diese Widersprüche überwunden. Die zwei programmatischen Dokumente, die von der PA ab Juni 2007 ausgearbeitet wurden, sind in dieser Hinsicht vielsagend.
Das erste, der Palestinian Reform and Development Plan (PRDP) [16], wurde im Dezember 2007 an einer Geberkonferenz in Paris vorgestellt. Ganz zur Zufriedenheit der westlichen Staaten, die Salam Fayyad 7,7 Milliarden Dollar versprachen, während die PA „nur“ 5,6 Milliarden forderte. Also eine Erhöhung um 37,5 %, was eher selten ist. In der definitiven Fassung enthält der PRDP 148 Seiten. Das Wort „Widerstand“ kommt darin kein einziges Mal vor, das Wort „Sicherheit“ 155 Mal.
Der zweite programmatische Text datiert von August 2009 und trägt die Bezeichnung „Palästina, die Besatzung beenden, einen Staat errichten“ [17], besser bekannt unter dem Namen „Fayyad-Plan“. Der Ministerpräsident stellt darin seine Vorstellung vom Aufbau eines palästinensischen Staats durch eine Politik der Facts on the ground dar. Es geht darum, trotz Besatzung die Infrastruktur des zukünftigen Staats aufzubauen, mit dem Ziel einer Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2011. Fayyad nimmt somit einen bedeutenden Kurswechsel vor: Der Prozess der Staatsbildung soll die Beendigung der Besatzung erlauben und nicht umgekehrt das Ende der Besatzung den Aufbau des Staats. Auch hier ergibt eine Zählung wie im PRDP nahezu dasselbe Ergebnis: Auf 37 Seiten kommt der Begriff Sicherheit 38 Mal vor, der Begriff Widerstand nur einmal in einem Satz, der darauf hinweist, dass die Regierung die gewaltfreien Initiativen gegen den Bau der Mauer unterstützen wird.
Das allgemeine Gleichgewicht der beiden Dokumente entspricht diesen quantitativen Aspekten: Fayyad, der nicht aus den Reihen der PLO hervorgegangen ist, erfüllt die Rolle des modernen Technokraten und nimmt diese für sich in Anspruch. Neben der „Wirtschaftsentwicklung“ ist die Zusammenführung der Sicherheitsdienste eine seiner beiden Prioritäten. „Die Regierung wird die Umstrukturierung der Sicherheitsdienste zu Ende führen (…). Sie wird eine nachhaltige Schulung, Ausrüstungen und Infrastrukturen bieten, um eine verbesserte Leistung des Sicherheitssektors zu ermöglichen. Um den höchsten professionellen Standard zu erreichen, wird die Regierung durch Förderung der Gewaltenteilung und Entwicklung von Kontrollmechanismen und -organe die Sicherheitsdienste in die Verantwortung nehmen. [18]
Der Wiederaufbau des Sicherheitsapparats erfolgt gemäß vier Leitlinien:
Eine Reform der Sicherheitsdienste mit namentlich der Pensionierung und Ersetzung mehrerer Verantwortungsträger durch Personen, die den USA nahestehen (so wurde beispielsweise 2008 Hazem Atallah zum Verantwortlichen der Polizeikräfte des Westjordanlands ernannt, worin er Kamal Sheikh ersetzt, der aus der Fatah kommt, aber als zu konziliant gegenüber der Hamas gilt).
Eine Aufstockung dieser Dienste durch Ausbildung Tausender neuer Rekruten unter US-amerikanischer Aufsicht in jordanischen Trainingslagern.
Spektakuläre Operationen zur „Wiederherstellung der Ordnung“ im Lauf des Jahres 2008 mit einem hohen Aufgebot an Polizei und Militär insbesondere in Nablus, Jenin und Hebron.
Die Zunahme von Verhaftungen von Mitgliedern und Sympathisanten der Hamas und in geringerem Ausmaß von linken Organisationen oder Volkskomitees.
Die Verbindung dieser vier Punkte ist verantwortlich für die Kohärenz der Sicherheitspolitik von Abu Mazen und Salam Fayyad. Die meisten neuen (nationalen oder lokalen) Chefs der Sicherheitsdienste können auf keine Vergangenheit als Anführer der Intifada und keine Mitgliedschaft in den bewaffneten Gruppen der Fatah zurückblicken. Es sind besonders eifrige „Sicherheitsprofis“, die sich kaum von politischen Überlegungen bremsen lassen. Ebenso wurden die in Jordanien trainierten neuen Rekruten vornehmlich aus den ärmsten, ungebildetsten und am wenigsten politisierten Schichten der palästinensischen Bevölkerung gewählt und nicht unter Fatah-Aktivisten. Sie sind eher bereit, den Befehlen zu gehorchen, auch wenn es darum geht, Mitglieder von Hamas, Dschihad oder den aus der Fatah hervorgegangenen Aqsa-Brigaden, mit denen sie keinerlei gemeinsame Kampferfahrung teilen, zu entwaffnen.
Die Palästinenserbehörde konnte die Situation des Sicherheitschaos, das in manchen Städten des Westjordanlands seit der Zerschlagung der palästinensischen Sicherheitsdienste während der Jahre 2002/03 herrschte, nutzen. In Nablus und Jenin waren zahlreiche bewaffnete Banden entstanden, die Händler erpressten, Autos stahlen und sich für dieses oder jenes dreckige Geschäft anheuern ließen. Die PA beteuerte, die Operationen zur „Wiederherstellung der Ordnung“ sollten nur das Chaos beenden. Das massive Aufgebot Hunderter Bewaffneter bedeutete für die Banden tatsächlich das Ende.
Doch die Entwaffnung der letzten Widerstandsgruppen als zweites Ziel der mit Israel und US-amerikanischen Beratern koordinierten Operationen ging nicht ohne eine Reihe von Zwischenfällen über die Bühne. In Nablus und Jenin kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Aktivisten der Aqsa-Brigaden und des Dschihad. Es gab Verletzte und Tote, auch unter Passanten, die von den offenbar von den Jordaniern schlecht ausgebildeten Rekruten getroffen wurden.
Diese Zwischenfälle läuteten das Ende der Phase des bewaffneten Kampfs im Westjordanland ein, die im Oktober 2000 begonnen hatte. Die Kämpfer brachten ein letztes Mal ihre Ablehnung der Entwaffnung zum Ausdruck, die von der PA initiiert wurde und dazu führte, dass mehrere Hundert Mitglieder der Aqsa-Brigaden (darunter 2008 allein im Distrikt Nablus 250 Personen) öffentlich dem bewaffneten Kampf abschworen, um im Gegenzug in den Genuss einer israelischen Amnestie zu kommen, und Hunderte Hamas-Mitglieder unter dem Druck der Sicherheitskräfte die Waffen niederlegten. Verlässliche Schätzungen sind hier schwer zu bekommen, die Zahlen variieren je nach Quelle, aber man kann davon ausgehen, dass rund 2000 Mitglieder und Sympathisanten der Hamas in den letzten zwei Jahren durch die Gefängnisse der PA gegangen sind. Wichtig ist auch der Hinweis, dass es im Zug der Überprüfung von Hamas-Aktivisten zu relativ wenigen Zwischenfällen gekommen ist, im Gegensatz zum Dschihad und sogar zum Teil den Aqsa-Brigaden, was zu bestätigen scheint, dass die Hamas beschlossen hat, im Westjordanland einer Konfrontation mit der PA und einem nutzlosen Kampf um „autonome Gebiete“ aus dem Weg zu gehen, die in Wirklichkeit von Israel kontrolliert werden. Die Hamas scheint sich in Wirklichkeit damit zu begnügen, den Gazastreifen „zu verwalten“. [19]
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Wiederaufbau des Sicherheitsapparats unter der Regierung Fayyad Ausdruck einer neuen „Phase“ der Palästinenserbehörde ist. Die unter Arafat bestehende Ambiguität ist definitiv überwunden: Die palästinensischen Sicherheitsdienste sind heute echte Stellvertreter der israelischen Besatzung und werden als solche selbst von den Kolonialbehörden anerkannt. So schreibt US-General Keith Dayton, ein bedeutender Architekt der Zusammenführung der palästinensischen Sicherheitsdienste: „Ich weiß nicht, wer von Ihnen alles weiß, dass im Lauf der letzten eineinhalb Jahre die Palästinenser sogenannte Sicherheitsoffensiven im gesamten Westjordanland durchgeführt haben, die erstaunlich gut mit der israelischen Armee koordiniert waren, im ernsthaften und nachhaltigen Bemühen, Recht und Ordnung (…) sowie die Autorität der Palästinenserbehörde wiederherzustellen. Zuerst in Nablus, dann in Jenin, Hebron und Bethlehem konnten sie dank ihrer Aufopferung, Disziplin, Motivation und guten Ergebnisse die Aufmerksamkeit des israelischen Militär-Establishments auf sich ziehen.“ [20]
Angesichts all dieser Aspekte kann man sich Fragen zur Zukunft der Nationalbewegung stellen. Im nächsten Teil sollen mehr Hypothesen aufgestellt als prophetische Antworten auf die gegenwärtige Situation gegeben werden, die durch Instabilität und Ungewissheiten geprägt ist.
Die Fatah [22]
Das Oslo-Abkommen und die Gründung der PA stellten für die palästinensische Nationalbewegung einen einschneidenden Bruch dar, da sie die Palästina-Frage auf die PalästinenserInnen des Westjordanlands und Gazastreifens reduziert und sich die Fatah den Aufbau eines Staatsapparats ohne Staat und die – manchmal auch unfreiwillige – Kooperation mit Israel zur Aufgabe setzte. Damit konzentrierte sie sich mehr auf Erfolge im Rahmen des Verhandlungsprozesses, auf Kosten des täglichen Kampfs gegen die Besatzung und für die Rückkehr der Flüchtlinge.
Diese Dynamiken wurde am letzten Fatah-Kongress (August 2009) bestätigt, der eher enthüllend denn das Signal für einen neuen Aufbruch war. Fatah-Aktivisten, die aktiv am Befreiungskampf beteiligt waren, sind in der neuen Führung eine kleine Minderheit. Die Mehrheit des 2009 gewählten Zentralkomitees der Bewegung besteht aus reinen Emporkömmlingen der „Oslo-Jahre“ und des PA-Apparats, selbst wenn sie teilweise auf eine aktivistische Vergangenheit zurückblicken. Darin versammelt sind Minister, ehemalige Minister, ehemalige Arafat-Berater, Berater von Abu Mazen, ehemalige Verantwortliche der Sicherheitsdienste, „Unterhändler“, hohe Beamte etc., die ganze Palette des „politischen Personals von Oslo“.
Noch entscheidender ist, dass die starke Präsenz von Vertretern des Wirtschafts- und Sicherheitssektors dem Bild entspricht, das die Politik der PA vermittelt, seit diese vom Duo Abbas-Fayyad gelenkt wird.
Andere Faktoren bestätigen diese Tendenz: das weitgehende Verschwinden von Vertretern der PalästinenserInnen aus dem Exil, über die die PA keinerlei legislative Macht ausübt, aus dem Zentralkomitee (als einziger wurde Sultan Abu al-Aynayn, Fatah-Führer im Libanon, gewählt), genauso wie das der PalästinenserInnen aus dem Gazastreifen, die die PA im Juni 2007 „verloren“ hat; die viel beachtete Nichtwahl von Hussam Khadr, einem angesehenen Fatah-Mitglied, der für seine militanten Aktionen und seine Kritik an der PA bekannt ist; eine „Neuauszählung“ in letzter Minute, die dem Stellvertreter von Präsident Abbas, at-Tayyib Abdul Rahim, ermöglichte, 26 Stimmen zu „gewinnen“ und schließlich ins Zentralkomitee gewählt zu werden, obwohl er zuerst als Verlierer galt, etc.
Die von einer nationalen Befreiungsbewegung zum Hauptakteur des Aufbaus eines Staatsapparats unter Besatzung gewandelte Fatah kann mittlerweile als politische Organisation nicht einmal mehr für sich in Anspruch nehmen, eine kohärente Vertretung des palästinensischen Volks zu sein. Der Kongress in Bethlehem im August 2009 hat diesen Stand der Dinge bestätigt, selbst wenn es in der Fatah nach wie vor viele AktivistInnen und aufrechte, ernsthafte Kader gibt. Die Organisation ist eine Ansammlung von Lokalfürsten, mehr oder weniger mafiösen, klientelistischen Netzwerken unter der Fuchtel einer nicht gewählten Macht, die nicht zögert, Informationen zu zensieren, GegnerInnen zu verfolgen, einzusperren oder sogar zu ermorden oder im Zuge von gemeinsamen Operationen an Israel auszuliefern.
Die Linke der Oslo-Jahre
Mit dem Oslo-Abkommen ist es Israelis und Amerikanern gelungen, die PLO zugunsten der PA auszuhebeln. Damit ist die PLO, einst die Vertretung der PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten und in der Diaspora, zu einem Bezugspunkt ohne politische Rolle und Entscheidungsmacht geworden, da Letztere von Arafat und der kleinen Gruppe an Getreuen aus den Reihen der PLO oder von außerhalb, die die PA gebildet haben, an sich gerissen wurden.
Das politische Programm der PA wurde im Oslo-Abkommen festgelegt: mit Israel zu verhandeln (mit dem Versprechen an das palästinensische Volk, dass dies zu einem unabhängigen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt führen würde), die Sicherheit des Staates Israel gegen palästinensische Angriffe jeder Art zu gewährleisten und die Verantwortung für die Verwaltung des täglichen Lebens der PalästinenserInnen in den Autonomiegebieten zu übernehmen.
Die politischen Gruppierungen der palästinensischen Linken, die gegen den Oslo-Prozess waren, haben Oslo rasch als Tatsache betrachtet, „mit der man leben muss“. Sie gehörten der PLO an und rechtfertigten ihre Haltung mit dem Willen, sich nicht vom Prozess unter der Führung der PA abzuschneiden. Die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) und die Palästinensische Volkspartei (PPP, ehemalige Kommunistische Partei Palästinas) [23] fügten sich schnell in das von der PA orchestrierte politische Spiel ein. Noch heute sind Mitglieder der DPFL und der PPP in der Regierung Fayyad vertreten, während die PFLP die Mitarbeit ablehnte.
Die Schwäche der palästinensischen Linken bestätigt sich in allen Umfragen und bei Wahlen und entspricht den Beobachtungen, die man vor Ort machen kann: der Schwäche von organisierten Demonstrationsblöcken und einem politischen Auftritt [24] sowie der fehlenden Verbreitung aktivistischer Publikationen. So traurig und schwer es zu glauben ist: die Präsenz dieser Parteien beschränkt sich heute im Westjordanland im Wesentlichen auf die Verbreitung von Pressekommuniqués und ihre Websites.
Wie lässt sich ein solcher Zerfall von Organisationen erklären, die während der ersten Intifada doch einen realen Aufschwung erlebt hatten? Die Erwartungen des palästinensischen Volks haben sich durch Oslo nicht verändert. Zu den schon bestehenden Forderungen sind solche dazugekommen, die sich auf die Aufgaben der von Korruption und Inkompetenz gekennzeichneten PA in den Autonomiegebieten beziehen. Die Beendigung dieser Situation ist zentral geworden. Doch das kümmert die linken Strömungen kaum. Nur wenige Einzelstimmen haben sich erhoben, doch sie sind losgelöst von jeder kollektiven Organisation, und die PA konnte sie leicht kontern, wie etwa den Appell der 20 (gegen Korruption und die Kapitulationen der PA) Ende 1999, von dem mehrere Unterzeichner auf Befehl Arafats verhaftet wurden.
Selbst die politische Führung gibt zu, dass ein tiefer Graben zwischen dem palästinensischen Volk und den Organisationen der palästinensischen Linken entstanden ist. Die Parteiführungen haben faktisch nur in Reaktion auf Initiativen der PA und Arafats reagiert. Diese Entfremdung von den Sorgen der Bevölkerung lässt sich anhand der Praxis des Aufbaus und der bürokratischen Verwaltung der Massenbewegungen ermessen, die diese Organisationen mit der PA gemein haben.
Die sogenannten Massenbewegungen
Ein Beispiel sind die Gewerkschaften, deren wichtigste die Palestinian General Federation of Trade Unions (PGFTU) ist, eine Einheitsgewerkschaft, die nach Oslo paritätisch aus den vier nationalen politischen Strömungen Fatah, PFLP, DFPL und PPP gebildet wurde. Die Quoten wurden von der nationalen Ebene über die Berufsgruppen bis zu den Bezirksvertretungen durchgezogen. Die Generalsekretäre gehören auf allen Ebenen der Fatah an, die anderen Fraktionen müssen sich damit begnügen, in den Instanzen der designierten Leitungen mitzuwirken. Die Fatah dominiert, während der Einfluss der anderen vier Strömungen und namentlich der PPP, die auf eine Gewerkschaftstradition zurückblickt, im Zug dieser „Vereinigung“ an der Spitze beschnitten wurde.
Die PGFTU steht also völlig unter der Fuchtel der Fatah. Die anderen stehen durch ihre auf einen bürokratischen Kompromiss zurückgehende Präsenz für sie gerade. Es sei daran erinnert, dass die PA der bedeutendste Arbeitgeber im Westjordanland und Gazastreifen ist. Einen demokratischen Prozess innerhalb der Gewerkschaft gibt es nicht, ebenso wenig Wahlen oder ein Programm, das geeignet wäre, die Beteiligung der ArbeiterInnen zu stärken. Die Arbeit der Gewerkschaft beschränkt sich im Übrigen mehrheitlich darauf, individuelle Konflikte zwischen Chefs und Angestellten zu schlichten.
Ebenfalls bezeichnend ist die Situation in der Bewegung zur Verteidigung von Frauenrechten. Die Palestinian Women General Federation wurde nach Oslo begründet und ist das Ergebnis der Einbindung aller Frauenkomitees der verschiedenen Fraktionen. Diese sind nur sehr schwach unter den palästinensischen Frauen verankert, die mit Ungleichheiten in allen Gesellschaftsbereichen konfrontiert sind. Andere Frauenorganisationen wurden zu NGOs und damit zu Organisationen, die Dienstleistungen für die palästinensischen Gemeinschaft erbringen. Das erfolgte in Übereinstimmung mit Programmen, die von den ausländischen Geldgebern beschlossen wurden und die Organisationen zu Erbringern von Dienstleistungen und die Frauen zu passiven Nutznießerinnen machte, was den Graben zwischen der Masse der Frauen und den kooptierten Führungen der Bewegung vertiefte.
Dasselbe gilt für die StudentInnenbewegung, die deutlich geschwächt wurde. Während sie vor allem in den 80er-Jahren eine richtige Kaderschmiede war, die Einfluss auf die politische Linie der Parteien nahm, da sie im Kampf gegen die Besatzung eine bedeutende Rolle spielte, bildet sie heute nur noch die Kräfteverhältnisse der verschiedenen Fraktionen ab.
So sieht die Realität der „Massenorganisationen“ in Palästina aus, deren Schwäche zurückgeht auf ihre Abhängigkeit von Parteien als Einbindungsstrukturen auf der einen und von der PA und ausländischen Geldgebern auf der anderen Seite. Letztere vergeben Millionen Dollar an Subventionen, um eine passive Ansammlung von Nutznießern zu schaffen, die von den gewährten Vorteilen abhängig sind und nicht von einer Bewegung von AkteurInnen, die für ihre Rechte kämpfen.
Da es keine wirklichen Massenorganisationen gibt, haben sich die politischen Kräfte auf soziale Aktivitäten und die Unterstützung in Alltagsproblemen beschränkt, dafür aber das politische Terrain aufgegeben und einer korrupten Behörde die Aufgabe überlassen, den nationalen Kampf in die Sackgasse endloser Verhandlungen mit Israel zu führen.
Hier soll die Politik der linken Organisationen selbstverständlich nicht bewertet werden. Die meisten der vorangehenden Überlegungen sind ein Ergebnis von Diskussionen mit AktivistInnen und führenden Mitgliedern dieser Organisationen, die immer zahlreicher zu einer kritischen Bilanz der Oslo-Jahre kommen, selbst wenn diese Kritik noch keinen organisatorischen Ausdruck findet.
Zeichen des Wiederaufbaus?
Die Isolation des Gazastreifens und die Zerstückelung des Westjordanlands in mehrere Dutzend durch israelische Kontrollposten voneinander getrennte territoriale Einheiten beeinträchtigen jede wirtschaftliche, soziale und politische Tätigkeit erheblich. Das stellt all jene, die den Widerstand auf die eine oder andere Weise fortsetzen wollen, vor große Probleme, da nicht nur die Lage je nach Gebiet unterschiedlich ist, sondern es unter diesen Bedingungen auch immer schwieriger ist, ein „nationales“ politisches Projekt zu entwickeln. Ortswechsel, gemeinsame Sitzungen, gemeinsame Aktionen vor Ort, alles ist erschwert, was all jene deutlich behindert, die einen vereinten Widerstand im gesamten palästinensischen Gebiet zu organisieren versuchen.
Die israelische Repression hält an, Überfalle, Bombardierungen, außergerichtliche Exekutionen sind auf der Tagesordnung. Heute befinden sich rund 12 000 PalästinenserInnen in israelischen Gefängnissen, und trotz vereinzelter, medial beachteter Freilassungen steigt die Zahl stetig. Zum Vergleich: Auf Frankreich übertragen, wären dies, gemessen an der Einwohnerzahl, rund 200 000 politische Gefangene. Die wirtschaftliche Strangulierung führt dazu, dass fast die gesamte Bevölkerung in den Palästinensergebieten mehr mit ihrem täglichen Überleben beschäftigt ist als mit dem Befreiungskampf. Die Dauerarbeitslosigkeit und die Preissteigerungen (die Preise zahlreicher Güter des täglichen Bedarfs haben sich innerhalb eines Jahres fast verdoppelt) treffen die gesamte palästinensische Bevölkerung und haben zur Folge, dass die Alltagsprobleme und der nationale Befreiungskampf immer weiter auseinanderdriften und individualistische Ideologien und Verhaltensweisen zunehmen.
Diese Situation hat bereits erheblichen psychologischen Schaden angerichtet. Die PalästinenserInnen sind Gefangene ihres Alltags, ihrer „Autonomiegebiete“ und tun sich immer schwerer damit, räumliche und zeitliche Perspektiven zu entwickeln. Das hat gravierende Folgen, da nur noch in Kategorien der eigenen Stadt, des eigenen Dorfs, der eigenen Familie gedacht wird und mittel- oder langfristige Projekte gar nicht mehr denkbar sind. Das erschwert jenen die Aufgabe, die versuchen, einen kollektiven Befreiungsplan neu zu entwerfen, was notwendigerweise eine Vision beinhaltet, die von den Banalitäten des Alltags und jeder Form von Einigelung auf die lokale oder familiäre Realität losgelöst sein muss.
Die zweite Intifada ist eindeutig zu Ende. Auf militärischer, politischer und ideologischer Ebene mündete sie in eine schwere Niederlage. Viele Fragen sind offen und stellen, ausgehend von den Ereignissen von 1948 und allem, was sich seither in der Gesellschaft und bei zahlreichen AktivistInnen und politischen Kräften ereignet hat, die nationale Frage in ein neues Licht. Diese Hinterfragung kreist um fünf Fragenkomplexe, auch wenn die Diskussion darüber in den gesamten Palästinensergebieten nicht organisiert und klar formuliert, sondern eher diffus verläuft.
Was bedeutet heute die Forderung nach einem unabhängigen palästinensischen Staat an der Seite Israels selbst als Übergangsforderung? Das Westjordanland wurde von Israel wirtschaftlich, politisch und bevölkerungsmäßig integriert. Wie stichhaltig ist unter diesen Bedingungen die Forderung nach einem unabhängigen Staat, die für Israel nie etwas anderes bedeutet hat als die Schaffung von isolierten, von der Mauer umschlossenen Bantustans, die in keiner Weise lebensfähig sind?
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Volkswiderstand, der die gesamte palästinensische Gesellschaft, Gewerkschaften, Verbände und politischen Kräfte umfasst, und dem bewaffneten Widerstand?
Wie kann das gesamte palästinensische Volk wieder vereint werden? Das palästinensische Volk ist faktisch stark gespalten in die PalästinenserInnen in Israel (heute ca. eine Million), die PalästinenserInnen des Westjordanlands und Gazastreifens (nahezu vier Millionen), die PalästinenserInnen in Jerusalem (250 000) und die PalästinenserInnen im Exil (über sechs Millionen).
Welchen politischen Rahmen braucht die nationale Befreiungsbewegung? Die Spaltung der Bewegung schwächt den Kampf; der Aufbau eines gemeinsamen Rahmens jenseits der alten PLO, der statt Verwaltung der Autonomiegebiete von Israels Gnaden den Widerstand und Befreiungskampf ins Zentrum rückt, steht offen im Raum.
Welche Verbindungen sollen mit der internationalen Solidaritätsbewegung aufgebaut werden, damit diese einen politischen statt karitativen Charakter erhält, der etwas erreicht und nicht nur im Symbolischen verharrt? Und wie kann insbesondere die gesamte Solidaritätsbewegung für die am meisten konsensuelle Losung der palästinensischen Zivilgesellschaft gewonnen werden, den vollständigen wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen, akademischen und kulturellen Boykott Israels, der sich im Kampf gegen das Apartheidregime in Südafrika bewährt hat?
Im Juni 2009 haben mehrere linke AktivistInnen und Kader in Ramallah eine internationale Konferenz organisiert, die zum Ziel hatte, jenseits der traditionellen Spaltung der linken Organisationen die Grundlagen für eine neue nationalistische, fortschrittliche, demokratische palästinensische Linke zu schaffen. Die Initiative stieß auf ein beachtliches Echo, mehrere Hundert Menschen aus verschiedenen linken Strömungen und „nicht korrupten“ NGOs beteiligten sich an den Diskussionen, die geprägt waren von den Fragen, die ich soeben aufgezählt habe. Die Front (Tayyar), die daraus entstehen soll, gibt es mangels finanzieller Mittel, lokaler Verankerung und ausstehender ideologischer Klärungen noch nicht. Dennoch zeigt die Initiative, welches Potenzial in der aktuellen Situation vorhanden ist, und die Bereitschaft vieler aufrichtiger palästinensischer AktivistInnen, eine authentische Linke wiederaufzubauen, die die Lehren aus den vergangenen Niederlagen zieht.
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Das zionistische Projekt trägt in sich die Negation und damit die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft und Identität. Die Niederlage der zweiten Intifada, das Scheitern der PA, der politische Kurs der Hamas reduzieren den Spielraum all jener, die sich all dem nach wie vor widersetzen wollen, erheblich. Dennoch werden aus dem Umkreis von AktivistInnen und ehemaligen Mitgliedern der PFLP und der Fatah vielfältige Initiativen ergriffen, insbesondere in Flüchtlingslagern, wo jene leben, die nichts von einem „Waffenstillstand“ zu gewinnen haben, der auf ein Teilabkommen hinausläuft. Sie verfolgen ein doppeltes Ziel: Einerseits geht es darum, die zentralen Forderungen des palästinensischen Volks, namentlich das Rückkehrrecht, um jeden Preis beizubehalten. Dafür werden Ausstellungen, Treffen zwischen Jugendlichen und einst von den zionistischen Milizen gejagten älteren Aktivisten, Demonstrationen und Ähnliches organisiert, um das Erbe weiterzuvermitteln und diese Forderungen zu unterstreichen. Andererseits soll schlicht der Widerstand gegenüber dem zionistischen Soziozid [25] fortgeführt werden, indem in Frauengruppen, Landwirtschaftskooperativen, PA-unabhängigen Gewerkschaften, Komitees für die Familien von Gefangenen, Dorfkomitees, Kulturzentren in den Flüchtlingslagern etc. der reale Wert kollektiver Aktivitäten, der Geist des Widerstands in einer Zeit des Rückflutens bewahrt und wiederaufgebaut werden.
Oft geht es darum, jenseits von politischen Spaltungen den Zusammenbruch der PA und der Parteien auszugleichen, zu retten, was von der palästinensischen Gesellschaft zu retten ist, und damit schrittweise den Widerstandsgeist zu wecken, aber auch zukünftige Generationen auf den Kampf vorzubereiten.
Alle wissen, dass in einer Gesellschaft, in der über die Hälfte der Bevölkerung unter 15 Jahre alt ist, vage Zukunftsversprechen rasch von der Realität eingeholt werden können und weder die PA-Behörden noch die Hamas eine neue Generation daran hindern wird, sich gegen ihre israelischen, im gegebenen Fall aber auch palästinensischen Unterdrücker zu erheben.
Wann das der Fall sein wird, kann niemand genau vorhersagen. Aber die Bevölkerung wird nicht auf die Wiederbegründung der Nationalbewegung, ihres Programms und ihrer Strategie oder eines Abkommens zwischen palästinensischen Fraktionen warten, um erneut zu revoltieren. Von den genannten Faktoren hängt aber ab, ob die weiter oben beschriebenen Strategien erfolgreich sein werden, denn sie hängen zu einem großen Teil vom Eindruck und Ausgang dieser Erhebung ab.
Oktober 2010 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 1/2011 (Januar/Februar 2011). | Startseite | Impressum | Datenschutz