Türkei

Die AKP, die Kurden und die Belagerung von Kobanê

Der kurdische Widerstand gegen den IS und die Entstehung unabhängiger Kurdengebiete an der Südgrenze der Türkei sind nicht nur eine Herausforderung für die Kurdenpolitik der AKP, sondern sie zwingen die Türkei auch auf außenpolitische Wege, die ihr gar nicht ins Konzept passen.

Uraz Aydın

Das Ziel einer „Normalisierung“ der Beziehungen der Türkei zu ihren Nachbarländern war eigenartigerweise von einer „neo-osmanischen“ Motivation begleitet, denn die Türkei möchte ihre politisch-kulturelle und wirtschaftliche Vorrangstellung über die Länder des Nahen Ostens wiedergewinnen. Doch die Krise, die heute auch hinsichtlich des Widerstandes gegen die Angriffe auf Kobanê auftaucht, zeigt, dass diese Ziele bei Weitem nicht erreicht wurden.


Die Türkei und die Syrien-Frage


Aber zu Beginn der Revolutionen in den arabischen Ländern wurde die Türkei von Recep Tayyip Erdoğan in den imperialistischen Ländern des Westens als auf einem Weg gesehen, den auch die in heftigen Umbrüchen befindlichen muslimischen Gesellschaften gehen könnten. Seine brüderlichen Beziehungen zu den Moslembrüdern schienen diese Sicht des Aufstieges in der Region zu bestätigen.

Mit dem Volksaufstand in Syrien begann jedoch jene „strategische Tiefe“ des Davutoğlu (Titel eines seiner Bücher) in den Untiefen einer strategischen Sackgasse stecken zu bleiben. Zunächst versuchte Erdoğan, die Rolle eines Vermittlers zwischen den Aufständischen und seinem „Freund“ Baschar al-Assad zu spielen, um Verhandlungen zu erreichen, um damit seine Position als „großer Bruder“ in der Region zu festigen. Weil aber Damaskus sich weigerte, hat die türkische Politik eine andere Richtung eingeschlagen. Weil Ankara unfähig war, die in der syrischen Gesellschaft wirkenden Dynamiken und das regionale und internationale Kräfteverhältnis zu verstehen, hat es auf einen schnellen Sturz von al-Assad gesetzt. Diese Illusion hat ihn dazu geführt, sich auf der Seite der Golfstaaten und der USA in die Schlacht zu werfen.

Dies geschah zunächst dadurch, dass die türkische Regierung die Opposition zu manipulieren versuchte und auf den syrischen Nationalrat einwirkte, um beim Aufbau eines neuen Regimes nach einem raschen Sturz von al-Assad ein Wörtchen mitreden zu können. Nach der Militarisierung der Bewegung angesichts der brutalen Angriffe des Regimes und nachdem Obama grünes Licht gegeben hatte, hat Ankara seine ganze Außenpolitik auf die ideologische, politische und vor allem strategische (Waffenlieferungen) Unterstützung der syrischen Opposition verlegt (zunächst auf die Freie Armee, nach deren Schwächung auf die sogenannten „gemäßigten“ islamischen Gruppen. Weil die AKP [1] von der Idee besessen war, das Regime der Baath-Partei zu Fall zu bringen, wurde sie – gemäß einem türkischen Sprichwort – „königlicher als der König“. Nach dem Einsatz von Chemiewaffen 2013, der dem syrischen Regime zugerechnet wird, hat die türkische Regierung die Unterstützung durch die USA erbeten und sie von der Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens in Syrien zu überzeugen versucht (was schließlich durch das Abkommen zwischen Putin und Obama verhindert worden ist).

Die Diplomatie des aktiven Eingreifens in die Syrienfrage und eine Außenpolitik, die nicht mit der der wichtigsten Verbündeten übereinstimmt, haben dazu geführt, dass die Türkei auf internationaler Ebene isoliert wurde. Doch die Verbissenheit, mit der die Regierung Erdoğan ihren Wunsch, die wichtigste Regionalmacht im Nahen Osten zu werden, verfolgt, hat beträchtliche und auf mittlere Sicht gefährliche Auswirkungen auf die Innenpolitik gehabt.


Auf dem Weg zu einem autoritären und diskriminierenden religiösen Regime


Die AKP kam auf dem Hintergrund einer Wirtschaftkrise (ab 1999) und einer politischen Krise (die wichtigsten bürgerlichen Parteien waren diskreditiert) an die Regierung. Dadurch entstand eine Phase einer relativen Demokratisierung des Regimes (die durch das Ziel der Integration in die EU motiviert war), die von einer machtvollen neoliberalen Offensive begleitet war. Aber im Gefolge der Zähmung des Militärs, das in der Politik ein großes Gewicht hatte, und der Konsolidierung der Kontrolle der Partei über die wichtigsten staatlichen Organe (Justizapparat, Präsidentschaft, Streitkräfte, Polizeiapparat usw.) verflüchtigte sich die liberal-demokratische Phase und machte dem Aufbau eines immer autoritäreren und religiös-konservativen Regimes Platz.

Die Wende erfolgte mit dem Referendum vom 12. September 2010 (dem Jahrestag des Staatsstreichs von 1980) und betraf eine Reihe von Verfassungsartikeln der Verfassung von 1982, was als Demokratisierung des Systems verkauft wurde. Da die AKP von ihrer Hegemonie in der Gesellschaft überzeugt war – immerhin hatte sie beim Referendum 58 % Ja-Stimmen erhalten –, hat sie Zug um Zug eine konservativ-autoritäre Wende vorgenommen. In den Reden des früheren Ministerpräsidenten (und jetzigen Staatspräsidenten) Erdoğan und mittels juristischer Maßnahmen wurde der sunnitische Charakter des Regimes immer stärker herausgestellt: Es gab Versuche, Abtreibung und Geburt durch Kaiserschnitt zu verbieten, die Familie wurde geheiligt („mindestens drei Kinder“), Kurse über den Koran und das Leben des Propheten wurden in die Gymnasialbildung aufgenommen; es gab Einschränkungen beim Alkoholverkauf, das Tragen des Schleiers wurde zunächst für Studentinnen, sodann für Staatsbeamtinnen und schließlich für Schülerinnen, also Minderjährige erlaubt; es gab einen unglaublichen Aufschwung des religiösen Unterrichts und eine Zunahme der „Imam-Gymnasien“ von 2010 bis 2014 um 73 Prozent.

Die nicht-muslimischen, nicht-religiösen und nicht-sunnitischen Teile der Gesellschaft sind angesichts der Zunahme religiöser Bezüge im System beunruhigt, aber die fast 12 Millionen Aleviten (bei einer Bevölkerung von 76 Mio.) scheinen von der zunehmenden Konfessionalisierung des Regimes am meisten betroffen zu sein. Allerdings wurden in der Regierungszeit der AKP viele „alevitische Arbeitskreise“ organisiert, um über die Forderungen jener religiösen Minderheit zu diskutieren, vor allem ihre Anerkennung auf der Ebene des Staates, und über die Finanzierung ihrer „cemevi“ [2] genannten Gebetsorte, sowie die Bezahlung der Löhne der „Dede“. [3] Aber weder wurde in dieser Hinsicht eine konkrete Maßnahme beschlossen noch wurde die systematische Stigmatisierung der Aleviten durch Erdoğan, die von den konservativen Medien aufgegriffen und den Intellektuellen der AKP weitergeführt wurde, eingestellt. In diesem Zusammenhang muss man ins Gedächtnis rufen, dass die große Mehrheit der in der Revolte im Gezi-Park ermordeten Männer und Frauen Aleviten waren, was auf das Niveau der Gewalt hindeutet, die die Polizei in den Stadtteilen der Aleviten angewandt hat. In seinen Versammlungen scheut sich Erdoğan auch nicht, den Führer der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kiliçdaroğlu, von Zehntausenden von Leuten auspfeifen zu lassen, weil er Alevit ist. Die diskursive Praxis der AKP nimmt auch leichtfertig, aber auf gefährliche Weise die Syrienfrage auf und bringt sie mit den Aleviten in Verbindung, um die sunnitische Basis zu konsolidieren. So wird die CHP, die Partei des (pro-westlichen und laizistischen) Republikgründers Atatürk, die heute von einem Aleviten geführt wird und in ihrer Geschichte von den Aleviten unterstützt wurde, als türkische Baath hingestellt, angeblich eine Partei von „Putschisten“ mit einem alevitischen Diktator an der Spitze. Und die Weigerung der CHP, der wichtigsten Oppositionspartei im Parlament, die Syrienpolitik der Regierung zu unterstützen, wird mit der angeblichen Ähnlichkeit zwischen den beiden Parteien aufgrund der Konfession erklärt (womit die historischen und theologischen Unterschiede zwischen den beiden Glaubensrichtungen weggewischt werden). Doch wir sollten betonen, dass es eine gewisse Sympathie zwischen einigen Strömungen der türkischen Linken und vor allem in den republikanisch-laizistischen Bewegungen gegenüber Assad gab, der als Anti-Imperialist und Verteidiger eines säkularen Regimes gegen die Feldzüge der Dschihadisten, die vom Westen unterstützt wurden, angesehen wurde. Die gleiche politische Schematisierung erklärt auch das fast vollständige Fehlen von Unterstützung für die syrische Revolution, oder die fehlende Solidarität mit den syrischen Flüchtlingen (von denen es in der Türkei über 1,7 Mio. gibt, von denen „nur“ 225 000 in den Aufnahmelagern leben, die im Übrigen in Grenznähe und nahe bei den Städten mit starker alevitischer Bevölkerung errichtet wurden). Es handelt sich also um eine Dynamik einer religiös-kulturellen Polarisierung, die von der AKP-Regierung vom Zaun gebrochen wurde, womit sie die Drachenzähne eines konfessionellen Bruchs gesät hat, den man nur schwer wird heilen können.


Die syrischen Kurden, ein Problem für die Türkei


Einer der wichtigsten Gründe für das Engagement des Erdoğan-Regimes für den Kampf zum Sturz von al-Assad war sicherlich die große kurdische Bevölkerungsgruppe entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Entstehen einer kurdischen Regionalverwaltung im Irak nach der imperialistischen Intervention von 2003 stellte für den türkischen Staat wahrscheinlich ein ganz starkes Trauma dar. Es war offensichtlich die Angst, nach dem Regimewechsel in Syrien könnte sich ein ähnliches Szenario wiederholen, was die türkische Regierung dazu gebracht hat, ab dem Beginn der Erhebung in die syrische Krise einzugreifen und zu versuchen, die Opposition zu kontrollieren (gegenüber den anderen „Syrienfreunden“), und zwar zunächst mittels der Moslembrüder, dann durch die Unterstützung anderer islamistischer Strömungen. Doch die Lage wurde immer kritischer, weil sich die syrischen Truppen im Juli 2012 aus einem Teil des kurdischen Landes zurückzogen. Daraufhin gelang es der Partei der demokratischen Union (PYD), die Kontrolle in jener Grenzregion zur Türkei zu übernehmen und dort eine Autonomie zu proklamieren.

Die PYD ging aus der Tendenz zur Dezentralisierung der PKK seit 2003 hervor, erkennt jedoch weiterhin die ideologische und politische Führerschaft von Öcalan an, der 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und seitdem im Gefängnis sitzt. Die Verwaltung der drei Kantone Dschezireh, Afrin und Kobanê im Gefolge der „Rojava-Revolution“ (West-Kurdistan) stellt einen Versuch dar, die Strategie der „demokratischen Autonomie“ von Öcalan in die Tat umzusetzen, die die alte Verbindung der PKK zum „Marxismus-Leninismus“ ersetzen soll. Bei der Lektüre der Charta von Rojava, die im Januar 2013 verkündet wurde, kann man über den demokratischen, laizistischen und multikulturalistischen Diskurs mit einer Sensibilität für ökologische Fragen nur überrascht sein. Auch ist beeindruckend, dass mitten im syrischen Chaos die Frauenrechte und die Rechte der ethnischen und nationalen Minderheiten herausgehoben werden. Wenn diese Aussagen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern durchaus konkrete Folgen haben, obwohl die Region von großer Instabilität gekennzeichnet ist, so muss man doch zugeben, dass der politische Pluralismus jener Selbstverwaltungserfahrung mittels Räten und Vollversammlungen nicht stark ausgeprägt ist. Obwohl die PYD in der Vergangenheit nicht über eine starke Verankerung in Rojava verfügte, konnte sie ihre Hegemonie nach der Rückkehr aus dem Exil im irakischen Kurdistan 2011 vor allem aufgrund ihrer militärischen Stärke durchsetzen (mittels der YPG, den „Einheiten des Volksschutzes“). Das hat sie auch nicht gehindert, die YPG heranzuziehen, um diverse lokale Strömungen des kurdischen Nationalismus auszuschließen und politisch fertig zu machen, die seit Herbst 2011 im ENKS (Nationalrat der Kurden in Syrien) unter der Hegemonie der (irakischen) Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) vereinigt waren, die von Mesut Barzani geführt wird und die historische Rivalin der PKK darstellt. Vermittels der PDK und der autonomen Regionalverwaltung des irakischen Kurdistans, mit dem die Türkei solide Wirtschaftsbeziehungen unterhält, hat die Türkei versucht, in Syrien einzugreifen und die PYD an den Rand zu drängen. Auch wenn die PDK bisweilen die Manöver aus Ankara unterstützt hat, so ist es der Türkei weder durch die Unterstützung der ENKS noch durch die versuchte Blockade von Rojava durch die Schließung der Grenze zum irakischen Kurdistan gelungen, die Ausbreitung der Selbstverwaltungserfahrung unter Führung der PYD zu verhindern.

Doch hat die AKP, als sie sehen musste, dass sie mittels Druck auf die PDK Rojava nicht zu zerstören vermochte, nicht gezögert, die Karte der Dschihadisten zu spielen (die problemlos die Grenze überschreiten durften und gesundheitliche, finanzielle und logistische Unterstützung bekamen), um die Rebellion der Kurden niederzuschlagen. Die internationale öffentliche Meinung wurde Zeuge, dass sich die Türkei erst spät der internationalen Koalition anschloss und nur ganz zögerlich den Widerstand gegen die Belagerung von Kobanê unterstützte.

Jedoch scheinen die Spannungen zwischen der PYD und der ENKS (und damit der PDK) abgenommen zu haben, weil es zu gemeinsamen Kämpfen im Sindschar-Gebirge und in Mossul gegen den „Islamischen Staat“ gekommen ist; dann wurde auch das Abkommen von Dohuk geschlossen, in dessen Folge die PYD die Macht mit der ENKS in Rojava teilt und die Peschmergas sich am Kampf um Kobanê beteiligen. Von der KCK [4] wird dies als „nationale Einheit“ in Westkurdistan dargestellt. Es kann aber auch bedeuten, dass die USA eine indirekte Kontrolle durch ihren Einfluss auf Barzani ausüben.


Die AKP und der Friedensprozess


Die Krise, in der sich Ankara angesichts der Ereignisse von Kobanê befindet, tauchte zu dem Zeitpunkt auf, als der türkische Staat bereits seit fast zwei Jahren mit Öcalan in Verhandlungen war. Mittels des türkischen Geheimdienstes hatte die AKP mit Vertretern der PKK in Oslo ab 2009 Verhandlungen begonnen, musste aber wegen der nationalistischen Erregungen ihrer Wählerbasis den Rückwärtsgang einlegen. Doch angesichts der Übernahme der Kontrolle und der Ausrufung der Autonomie in Rojava (und eines gescheiterten Versuchs der PKK, einen „revolutionären Volkskrieg“ zu führen, um nach syrischem Vorbild in Hakkari eine befreite Zone zu errichten, was mehrere Tausend kurdischer Kämpfer und Kämpferinnen das Leben kostete), hat sich die Regierung entschlossen, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, und diesmal direkt mit Öcalan, der auf der Insel Imralı in Haft sitzt. Diese Initiative der AKP ging weniger auf deren demokratische Überzeugungen zurück, vielmehr stellte die durch die Kurdenfrage erzeugte Instabilität ein Hindernis für die regionalen Interessen des türkischen Kapitalismus und die neo-osmanischen Ausrichtungen von Ankara dar.

So hat Öcalan anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes am 21. März 2013 vor einer riesigen Menschenmenge in Diyarbakir durch einen Abgeordneten der Kurdenpartei einen Brief verlesen lassen, in dem er zu einem Friedenprozess aufrief, dessen erste Etappen ein Waffenstillstand und der Rückzug der bewaffneten Einheiten hinter die türkische Grenze ins Kandil-Gebirge im irakischen Kurdistan, wo sich die Basen der PKK befinden, sein sollten. Dem sollten weitere Etappen folgen. Auch wenn dieser „Friedensprozess“, oder – in offiziellen Begriffen – „Prozess der Lösung“ von verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, vor allem aber der kurdischen Bevölkerung (die Opfer eines dreißigjährigen Krieges war) freudig begrüßt wurde, so war die Enttäuschung nach zweijährigem Abwarten umso größer. Denn abgesehen von einigen Fortschritten hinsichtlich des Unterrichts in kurdischer Sprache und der Freilassung eines Teils der nicht bewaffneten KämpferInnen der kurdischen Bewegung, die in den Jahren 2009/10 verhaftet worden waren, wurde keine der Forderungen der Kurden (etwa Unterricht an den Grundschulen und Gymnasien in Kurdisch, Rückkehr der KämpferInnen ins Zivilleben, die Akzeptierung der kurdischen Identität in einer neuen, demokratischen und pluralistischen Verfassung oder die Verbesserung der Lebensbedingungen, ja die Freilassung von Öcalan) erfüllt.

Es ist klar, dass während des gesamten Verhandlungsprozesses sich die AKP in einem Dilemma befunden hat. Sie wollte jenes stachlige Problem lösen, das verhindert, dass man ihr Regime in der Region als ein wirkliches Modell ansieht; dabei durfte sie aber ihre genauso nationalistische wie religiöse Wählerschaft nicht verschrecken. Andererseits musste Erdoğan seine Wählerschaft ausbauen, um 2014 zum Präsidenten gewählt werden zu können (was ihm gelungen ist); dazu brauchte er möglichst viele Stimmen von Kurden (die mehrheitlich religiös sind), durfte aber seine bisherigen WählerInnen nicht verlieren. Schließlich entschied sich die AKP, beides zu tun, was bedeutet hat, dass sie fast keinerlei konkrete Maßnahmen getroffen hat. Diese Leere versuchte sie mit einem manchmal demokratischen, manchmal nationalistischen Diskurs zuzudecken. So hoffte sie, Zeit zu gewinnen und die nötige Unterstützung von Kurden und Kurdinnen zu behalten, bis sie ihr Regime durchgesetzt hätte, wobei sie versuchte, die kurdische zivile und bewaffnete Bewegung zu entradikalisieren. Die kurdischen Massen, die eine zumindest teilweise Erfüllung ihrer Forderungen erwarteten, mussten sich mit Öcalans Botschaften begnügen, die regelmäßig von Abgeordneten der Demokratischen Partei des Volkes (HDP, eine linksreformistische Partei, die mit der kurdischen Bewegung verbunden ist), übermittelt wurden; in diesen Botschaften wurde verkündet, der Prozess würde weitergehen und demnächst in eine entscheidende Etappe eintreten.


Kobanê und die Dilemmata der kurdischen Bewegung


In dieser Atmosphäre der desillusionierten Erwartungen und der Ungeduld der KämpferInnen brach die Krise von Kobanê aus. In der kurdischen Bevölkerung kam es zu einem massiven Ausbruch von Wut. Ein Grund lag in der Weigerung der AKP, den Verteidigern der Stadt Kobanê, die von den Truppen des „Islamischen Staates“ belagert wird, zu Hilfe zu kommen und einen Korridor über türkisches Gebiet zu eröffnen, durch den Waffenlieferungen und Freiwillige passieren könnten (was die Türkei wegen des Drucks der USA schließlich doch zugestehen musste). Dazu kam der Diskurs der Regierung, die versuchte, die PYD/PKK als „terroristische Organisation“ auf eine Stufe mit dem „Islamischen Staat“ zu stellen. Viele Menschen empörten sich aus der Überzeugung heraus, dass die Türkei dem „Islamischen Staat“ logistische Unterstützung leiste. Im Gefolge des Aufrufes der HDP, den Widerstand in Kobanê zu unterstützen, besetzten am 6. Oktober 2014 sowohl in den kurdischen Gebieten wie auch im Westen des Landes zehntausende Kurden und Kurdinnen die Straßen. Die brutale Repression der Sicherheitskräfte führte zu einer heftigen Gegenreaktion der empörten Massen: Sie griffen zu Feuerwaffen, plünderten Supermärkte, setzen Verwaltungsgebäude und Schulen in Brand und ermordeten Zivilisten, die im Verdacht standen, den „Islamischen Staat“ zu unterstützen. Im Westen des Landes griffen (unter wohlwollender Beobachtung der Regierung und der Sicherheitskräfte) Horden von türkischen Nationalisten und Islamisten in die Kämpfe ein, um den Kurden eins auszuwischen. Dies führte zu Gewaltorgien und Versuchen richtiggehender Pogrome in den von Kurden bewohnten Stadtvierteln. Außerdem kam es in Diyarbakir (der größten kurdischen Stadt) zu bewaffneten Konflikten zwischen kurdischen (pro-PKK) Demonstranten und ihren historischen Gegnern, der Hezbollah (ihr neuer Name ist Hüda-Par [5]) mit Todesopfern auf beiden Seiten. Angesichts dieser Wende der Ereignisse haben Öcalan und die HDP ihre AnhängerInnen zur Ruhe und zur Gewaltlosigkeit aufgerufen – ohne große Erfolge. Denn trotz seiner unbestrittenen Führerschaft gelang es Öcalan nicht, die Masse der jungen Kurden und Kurdinnen zu kontrollieren.

Diese Ereignisse, die im Verlauf der Unterstützung des Widerstandes von Kobanê auftraten, brachten zahlreiche Spannungen zu Tage, wie sie sich in den verschiedenen Strukturen der kurdischen Bewegung entwickelt hatten. Die wichtigste Spannung ergab sich aus den Positionen von Öcalan, der von seiner Gefängniszelle aus Verhandlungen führt, und der Leitung des bewaffneten Arms in den Bergen von Südkurdistan (Irak). Die Führer der PKK erklärten bei jeder Gelegenheit ihre Verbundenheit mit Öcalan, doch gleichzeitig sagten sie, der Friedensprozess sei für sie praktisch schon lange zu Ende. Cemil Bayık, der Führer des bewaffneten Arms und Vizepräsident des Exekutivrates der KCK, erklärte schon im April 2014: „Die Regierung der AKP ist eine Kriegsregierung. Die kurdische Bevölkerung muss sich organisieren, um sich gegen mögliche Angriffe zu schützen. Es wäre unvorsichtig, von der Regierung eine Lösung der Kurdenfrage zu erwarten“. Im Gefolge der Ereignisse von Kobanê erklärte Bezê Hozat, eine Vizepräsidentin der KCK, Öcalan und die Bewegung der Kurden hätten alle für den Frieden wichtigen Schritte unternommen und wenn die AKP auf ihrem Weg fortführe (nämlich in ihrer Absicht, die PKK zu liquidieren), wird sie sich in einem „heftigen Krieg befinden“ und in einem „Chaos, das hundert Jahre dauern“ wird. [6] Das Mitglied des Exekutivrates der KCK, Murat Karayılan, meinte, dass die Angriffe des türkischen Staates auf die Kurden eine „Kriegserklärung“ darstellten und der Verhandlungsprozess keinen Sinn mehr mache; er sei beendet. „Doch wir warten auf das letzte Wort unseres Führers Apo (Öcalan)", fügte er hinzu. [7] Man kann leicht verstehen, dass sich diese Botschaften mehr an Öcalan als an die AKP richten. Die Führung der KCK versucht so, Druck auf ihn auszuüben, gleichzeitig aber der kurdischen Basis zu versichern, dass sie „noch im Spiel“ ist.

Die Position der HDP ist noch schwieriger. Mittels des Friedensprozesses hatte die kurdische Bewegung versucht, eine Änderung der Perspektive herbeizuführen, indem sie aus der HDP durch Integration der anderen Strukturen und Vereinigungen der Linken nicht nur eine Partei der kurdischen Sache, sondern eine „Partei der Türkei“ machen wollte. Daher war sie gezwungen, sich die Revolte vom Juni 2013, die große Mobilisierung im Westen wegen des Gezi-Parks, bei der die Beteiligung der Kurden und Kurdinnen (aus verständlichen Gründen, weil ihr historischer Führer gerade Verhandlungen mit dem Staat führte) durchaus „begrenzt“ war, auf ihre Fahnen zu schreiben.

Trotzdem ist es dem Kandidaten der HDP, Selahattin Demirtaş aus Mangel an Alternativen, aber auch aufgrund der persönlichen Qualitäten und seiner Ehrlichkeit, sowie seinem „radikaldemokratischen“ Diskurs gelungen, bei den Präsidentschaftswahlen im August 2014 fast 10 Prozent zu erreichen, wiewohl die Partei bei den Kommunalwahlen im März 2014 (abgesehen von den Gebieten in Kurdistan) einen Rückschlag erlebte. Somit übertraf er die üblichen 6 bis 7 Prozent, denn er gewann die Stimmen eines Teils der demokratischen und laizistischen Türken und Türkinnen. Doch im Gefolge der Unruhen im Oktober 2014 und wegen des Anstiegs nationalistischer Gefühle bei den Türken scheint es kaum möglich zu sein, dass die HDP bei den für Juni 2015 vorgesehenen Parlamentswahlen dieses Quorum halten können wird.

Als wichtigste legale Struktur der kurdischen Bewegung (mit 27 Abgeordneten im Parlament) ist die HDP allen Aggressionen der politischen Klasse und vor allem der AKP ausgesetzt. Außerdem ist der legale Rahmen, in dem sie arbeiten muss, nur schwer mit dem Radikalismus der jungen Kurden und Kurdinnen vereinbar, der sowohl ihre Basis wie die der KCK abgeben. Dies umso mehr als diese Jugend, die sich in der YDG-H (Bewegung der revolutionär-patriotischen Jugend) immer stärker an die Positionen des „Berges“ anlehnt und ihren Widerstand auf der Straße fortführt und Stadtteile zu „befreien“ sucht.

      
Mehr dazu
Sekretariat der ISO: Erdogan-Regime erwürgt revolutionären Prozess in Nordsyrien, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online). Auch bei intersoz.org.
Jakob Schäfer: Von der Rätedemokratie in Rojava lernen, die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019).
Uraz Aydin: Selbstbestimmung in Rojava, die internationale Nr. 2/2017 (März/April 2017).
Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale: Unterstützung für den Kampf des kurdischen Volkes für ein Leben in Freiheit und Würde, Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016). Auch bei intersoz.org.
Interview mit Nick Brauns: Rojava – eine Region in Selbstverwaltung, Inprekorr Nr. 1/2014 (Januar/Februar 2014).
Masis Kürkçügil: Die Kurden, Kurdistan und die Türkei, Inprekorr Nr. 5/2013 (September/Oktober 2013).
Fuat Orçun: „Apo“ und die Kurden, Inprekorr Nr. 330 (April 1999).
C. Aydin: Die nationale Befreiungsbewegung Kurdistans und die PKK, Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994).
Fritz Hermann: „Partiya Karkeren Kurdistan“ (PKK). Zu ihrer Entwicklung und Bedeutung heute, Inprekorr Nr. 252 (Oktober 1992).
Fuat Orçun: Das Frühlingssyndrom, Inprekorr Nr. 248/249 (Juni/Juli 1992).
 

Daher kann es sich die HDP weder leisten, den Umschlag der Unruhen in sinnlose Gewalt zu kritisieren, noch kann sie die Verantwortung für ihre Unfähigkeit übernehmen, die Konsequenzen ihres Aufrufs, auf die Straße zu gehen, zu übernehmen. Sie kann es sich auch nicht leisten anzuerkennen, dass sie nicht in der Lage ist, ihre eigene Basis zu kontrollieren – was sie in eine schwierige Lage gegenüber der Regierung bringt. Die einzige geäußerte Kritik kam vom Abgeordneten aus Diyarbakir, von Altan Tan (der aus der islamischen Bewegung stammt), der erklärt hatte, die HDP hätte den Zerstörungen der Unruhen (Brände und Plünderungen) Einhalt gebieten können, und der die Anhänger der PKK kritisierte, sie hätten die Mitglieder der Hüda-Par zuerst angegriffen, was ihm heftige Schelte von Seiten der KCK eintrug. Laut Mustafa Karasu, einem Mitglied ihres Exekutivrates, interessiere sich Tan nur für die zerbrochenen Scheiben, während die kurdischen Patrioten von der Polizei, den Faschisten, der Hezbollah und dem „Islamischen Staat“ ermordet würden. Darauf Tan: „Die Plünderung und Inbrandsetzung von Hunderten von Geschäften, Supermärkten, Juweliergeschäften und Banken, das Anzünden von Straßen und Autos, die Ermordung eines Dreizehnjährigen und seiner Freunde in einem Haus, in das sie geflohen waren, die Tatsache, dass er danach vom Balkon geworfen wurde, dass sein Kopf mit einem Stein eingeschlagen war und dass ein Auto über seinen Leichnam fuhr, dass bewaffnete Aktionen in der Nacht nach dem Tag gegen verschiedene Polizeistellen unternommen wurden, als der Brief von Öcalan im Parlament verlesen wurde, in dem er zu einem sofortigen Ende dieser Handlungen aufrief – all dies kann ich nicht als „ein paar eingeschlagene Fensterscheiben“ ansehen. (…) Der Unterdrückte darf sich nicht wie ein Unterdrücker aufführen!“ [8]

Abgesehen von dieser ungewöhnlichen Kritik aus den eigenen Reihen hat die HDP im Zwiespalt zwischen ihrer Treue zu Öcalan und ihrer Verantwortung vor ihrer Basis es vorgezogen, die Ereignisse zu einem Komplott zu erklären. Laut Sirri Sureyya Onder, ein früherer Filmemacher, Abgeordneter von Istanbul und wichtigster „Bote“ von Öcalan, hätten einerseits Agenten der verschiedenen ausländischen Nachrichtendienste vor Ort die Ereignisse gesteuert und andererseits sei eine Mechanik „des Staatsstreichs“ ins Werk gesetzt worden. Natürlich gab es keinerlei Angaben über die Urheber jener „Mechanik“. Besê Hozat hat vor Kurzem erklärt, wenn die AKP nichts für die Fortsetzung des Friedensprozesses tue, drohten neue Verschwörungen und ein Staatsstreich. [9]

Wir möchten betonen, dass die Rhetorik mit dem Staatsstreich (zu der auch Öcalan gerne greift, um Hindernisse bei den Verhandlungen wegzuräumen) das wichtigste Alibi der AKP darstellt, jeden Angriff auf ihre Herrschaft zu kriminalisieren. So werden die Revolte im Gezi-Park, die Anti-Korruptions-Operationen vom Dezember 2013, die auf die Minister der AKP und Erdoğan Nahestehende abzielten, die Revolte von Kobanê oder sogar die Zwischenfälle mit jungen Leuten oder ein Ausfall der Metro unter dem Meer in Istanbul als „Putschversuche“ dargestellt, um die Regierung zu schwächen oder zu stürzen. Hinter alledem stünden natürlich (anonyme) ausländische Mächte, wobei der frühere Verbündete und jetzige Gegner, die Bruderschaft von Fethullah Gülen (in die USA geflohen, d.Ü.) ihren Beitrag leiste. Der Interpretationsansatz, alles Mögliche auf Verschwörungen zurückführen zu wollen, scheint nunmehr auch die kurdische Bewegung erfasst zu haben.

Während also der heroische Widerstand gegen die Barbarei des „Islamischen Staates“ in Kobanê, der durch Luftschläge der internationalen Verbündeten und Kämpfern der Freien Syrischen Armee (von der Türkei durchgesetzt) und von Peshmergas (von Barzani durchgesetzt) unterstützt wird, weitergeht, macht sich der türkische Staat daran, seinen Sicherheits- und Repressionsapparat auszubauen, um neuen massiven Mobilisierungen entgegenzuwirken. Aus der Sicht der Kurden ist die Fortsetzung des Waffenstillstandes und des Verhandlungsprozesses stark mit der Lage in Kobanê verbunden. Für die revolutionäre Linke ist es trotz ihrer Schwäche dringlich, all ihre Kraft in den Kampf der Kurden einzubringen, welche Kritik sie auch immer an ihrer Führung hat. Ihr fällt die Aufgabe zu, eine breite, demokratische, pluralistische und mit der kurdischen Sache solidarische Bewegung aufzubauen, die allein die Maschinerie der AKP stoppen kann, die für alle Völker der Türkei eine düstere Zukunft bereithält.

Uraz Aydin ist Forschungsbeauftragter an der Universität Marmara und Mitglied (früher in der Leitung) der Universitätsabteilung von Egitim-Sen (Gewerkschaft der in der Erziehung und Wissenschaft Arbeitenden). Er schreibt regelmäßig für die Zeitschrift Sosyalist Demokrasi Için Yeniyol (Neuer Weg zur sozialistischen Demokratie), dem Organ der türkischen Sektion der IV. Internationale.

Übersetzung: Paul B. Kleiser



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 1/2015 (Januar/Februar 2015). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] AKP – die konservative und neoliberale Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (auch AK-Partei, also „weiße“ Partei genannt) wurde im August 2001 von verschiedenen Politikern der Rechten, darunter dem reformerischen Flügel der (islamistischen) „Tugendpartei“ auf Initiative von Recep Tayyip Erdoğan (von März 2003 bis August 2014 Ministerpräsident; seit 10. August 2014 Präsident der Republik Türkei. Bei den letzten Wahlen im Juni 2011 erhielt die AKP 49,83 % der abgegebenen Stimmen und verfügt dadurch über 326 (von 550) Sitze im türkischen Parlament.

[2] Die Religionsgruppe geht nicht in die Moschee, sondern den „cemevi“, was Haus oder Versammlungsraum bedeutet; dort sitzen Männer und Frauen nebeneinander und sind vor dem Schöpfer gleich.

[3] Die „Dede“ (Männer) und „Ana“ (Frauen) sind die alevitischen spirituellen FührerInnen, die als Abkömmlinge des Propheten angesehen werden.

[4] Die KCK (Koma Civakên Kurdistan, Union der Gemeinden Kurdistans) stellt eine breite Gruppierung dar, die alle Gruppierungen umfasst, die sich der Öcalan-Bewegung zurechnen.

[5] Eine üble radikal-islamistische Kurdenorganisation, die in den 1990er Jahren vom türkischen Staat gegen die PKK unterstützt wurde.

[6] Bezé Hozat, „AKP ve süreç“, Özgür Gündem, 22.10.2014.

[7] „Son Söz Önder Apo’da“, http://www.ozgur-gundem.com, 22.09.2014.

[8] http://www.aljazeera.com.tr/haber/tan-karasu-tartismasi

[9] http://www.kurdistan24.org/2014/10/ulusal-kongtre-birihtiyac-bese-hozat/#.VFIzL_msUXs