Auf den Artikel von Jakob Schäfer „Rätedemokratie? Was sonst!“ [1] hat Paul B. Kleiser in der letzten Nummer (3/2019) mit einem Debattenbeitrag geantwortet. [2] Im Folgenden sollen mögliche Missverständnisse ausgeräumt und mit dem Beispiel Rojava die Machbarkeit des Räteprinzips verdeutlicht werden.
Jakob Schäfer
Auf die einzelnen Ausführungen des recht ausführlichen Artikels in der internationale 2/2019 geht Paul Kleiser leider nicht direkt ein und führt nicht aus, was (nach dem Umsturz der bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) unrealistisch oder gar demokratiehinderlich wäre. Über weite Strecken seines Artikels sind keine Differenzen zu meinen Aussagen zu erkennen, auch da nicht, wo er für die anzustrebende Gesellschaftsordnung die folgenden vier Prinzipien als unverzichtbar aufführt: a) Die neue Ordnung muss auf einem System des „checks and balances“ beruhen. b) „Eine kommende sozialistische Gesellschaft muss weit demokratischer sein als die bürgerliche Demokratie“. c) Es braucht eine „konstituierende Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts“. d) Es sollen aus der bürgerlichen Gesellschaftsordnung „übernommen“ werden: die allgemeine Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte, das Demokratieprinzip und die Rechtsstaatlichkeit.
Frauenversammlung bei Qamischli, 2014 Foto: Janet Biehl |
Hier sei nur daran erinnert, dass gerade diese Prinzipien in der bürgerlichen Gesellschaft in weiten Teilen nur auf dem Papier stehen und gerade deswegen nicht umfänglich und bedingungslos realisiert sind, weil sie regelmäßig mit den ökonomischen Interessen der Bourgeoisie kollidieren und die Masse der Bevölkerung ja gerade nicht (selbst)ermächtigt ist, der Repression sowie der Missachtung der Demokratie etwas entgegenzusetzen.
Die (wahrscheinlich ausräumbaren) Differenzen werden erst im letzten Viertel von Pauls Beitrag (und das nur in sehr knapper Form) angeschnitten. Paul führt hier drei Einwände gegen ein durchgehendes Räteprinzip an, die nicht wirklich einleuchten:
Erstens: Nach Pauls Ansicht kann eine Nationalversammlung keine Räteversammlung sein, weil die „Räte Organe der Interessenvertretung der jeweiligen Gruppe, die sie vertreten, sind.“ Wieso eigentlich? In dem Artikel in 2/2019 habe ich im Gegenteil sehr deutlich gemacht, dass es drei verschiedene Wahlkörperschaften von Räten geben kann (ob noch andere hinzukommen, müsste die Verfassunggebende Versammlung beschließen): Räte in der Produktion (bzw. im Bereich der Betriebe, Büros, Verwaltungen usw.); Räte der Konsument*innen und Räte auf territorialer Ebene (also gestuft vom Stadtteil über die Stadt, Region usw. bis zur nationalen Ebene). Die Nationalversammlung (oder wie immer der Name dann lauten wird) muss ganz selbstverständlich unterschiedslos von allen gewählt werden, wobei die Verfassunggebende Versammlung natürlich ausarbeiten wird, welchen „Minderheiten“ bestimmte Sitze garantiert sein sollen, wie die Quotierung(en) ausfallen soll(en) usw. Hier gibt Rojava uns ein gutes Beispiel (siehe unten).
Zur Erläuterung sei aus meinem Beitrag „Plädoyer für eine demokratisch geplante Wirtschaft“ zitiert, wo unter der Zwischenüberschrift „Arbeiterkontrolle und Arbeiterselbstverwaltung“ ausgeführt ist, dass es nicht dem Schicksal der Beschäftigten überlassen sein kann, mit der Schließung eines Werks fertig zu werden, und wo es danach heißt: „Und auf der anderen Seite kann es nicht im Belieben der einen oder anderen Belegschaft sein, bestimmte Produkte überhaupt nicht oder in einer gewissen Form weiter zu fertigen, die von der Gesamtgesellschaft so nicht gewünscht werden. D. h. der Souverän, die Gesamtbevölkerung der jeweiligen Region bzw. auch des nationalen oder supranationalen Rahmens, muss bei den grundsätzlichen Entscheidungen das letzte Wort haben.“ [3]
Zweitens: „Das Agieren [einer entsprechenden Körperschaft] muss auf einer vorher festgelegten gesetzlichen Grundlage erfolgen“ und das könne laut Paul eine Räteversammlung nicht. Wieso soll sie das nicht können? Ist es nicht gerade Aufgabe der Verfassunggebenden Versammlung genau das auszuarbeiten und dann – im Gegensatz etwa zur Praxis in der BRD – die Verfassung anschließend der Gesamtbevölkerung vorzulegen, und zwar samt der Möglichkeit, für Änderungen zu stimmen?
Drittens: Nach Pauls Ansicht ist die „jederzeitige Abberufung der Gewählten aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit abzulehnen (Gefahr des Populismus); für eine Revokation (z. B. nach der Hälfte der Legislatur wie ursprünglich in Venezuela unter Chávez oder nach festzulegenden Verfehlungen) muss es klare rechtsstaatliche Grundsätze geben.“ Wo soll hier ein Problem sein? Auf die rechtsstaatlichen Grundsätze eines solchen Vorgangs kommen wir weiter unten noch zu sprechen. An dieser Stelle nur so viel: Was ist von einem Vertretungssystem gemäß bürgerlichem Parlamentarismus zu halten, wo Populisten eine Wahl gewinnen und die Menschen dann jahrelang keine Möglichkeit haben, diese wieder abzuberufen?
Es geht um die Frage, ob wir ein repräsentatives, ein parlamentarisches System für anstrebenswert halten. Wir wissen nicht, welche Form sich durchsetzen wird und ob es – aus Gründen politischer Kräfteverhältnisse – zunächst zu einer Kombination von Rätedemokratie und parlamentarischem System kommen wird. Aber aus der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung wissen wir, dass die höchste Form der Demokratie die der Räte ist, natürlich auf einer rechtsstaatlichen Basis, natürlich gegründet auf dem allgemeinen und uneingeschränkten Wahlrecht aller hier lebenden Menschen usw. (Detaillierteres dazu in meinem Artikel in Heft 2/2019). Der Grundgedanke ist der, dass es im Kampf gegen Bürokratismus und Usurpation der Macht nur das Mittel der größtmöglichen Beteiligung aller am gesellschaftlichen Leben und an den Verwaltungs- und Entscheidungsprozessen geben kann, und zwar so dezentral wie nur irgend möglich. Genau das wurde und wird in Rojava seit 2011 in beeindruckender Weise entwickelt.
YPG und YPJ Quelle: Flickr |
„Auch der Parlamentarismus war eine Arena des Klassenkampfes für das Proletariat, solange der ruhige Alltag der bürgerlichen Gesellschaft dauerte: Es war die Tribüne, von der aus die Massen um die Fahne des Sozialismus gesammelt, für den Kampf geschult werden konnten. Heute stehen wir mitten in der proletarischen Revolution, und es gilt heute, an den Baum der kapitalistischen Ausbeutung selbst die Axt zu legen. Der bürgerliche Parlamentarismus hat, wie die bürgerliche Klassenherrschaft, deren vornehmstes Ziel er ist, sein Daseinsrecht verwirkt.“ [4]
Seit 2011 hat sich in Rojava, dem politisch am weitesten fortgeschrittenen Teil der Demokratischen Föderation Nordsyrien (DFNS), ein stark gefächertes und die Menschen maximal beteiligendes Rätesystem entwickelt. [5] Es basiert auf vier Ebenen und parallel dazu auf acht Sektoren, die auf allen Ebenen präsent sind, also angefangen auf der Ebene der Kommune über den Volksrat des Stadtteils und den Volksrat im Bezirk bis zum Volksrat des entsprechenden Kantons.
Zu dem Sektor Justiz (daneben gibt es die Sektoren Frauen, Wirtschaft, Verteidigung, Politik, Zivilgesellschaft, Freie Gesellschaft und Ideologie) schreiben die Autoren: „Die neue demokratische Rechtsprechung wird vom Justizsektor übernommen der hauptsächlich in Form von Friedens- und Konsenskomitees organisiert ist. […] Zunächst wurden [sie] in den untersten Rängen aufgebaut. Mit der Herausbildung von Kommunen wurden sie je nach Kapazität auch auf dieser untersten Ebene gebildet und seit der Befreiung im Sommer 2012 wurde schrittweise eine höhere Gerichtsbarkeit aufgebaut. Die Komitees sind bestrebt, Konflikte konsensorientiert zu lösen. Deshalb sind sie für den inneren gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt der Gesellschaft sehr wichtig. Der jeweilige Frauenrat hat in den Stadtteilen je ein Friedens- und ein Konsenskomitee gebildet, die bei besonders Frauen betreffenden Konflikten wie Übergriffen auf Frauen oder patriarchaler Gewalt die Entscheidungen übernehmen.“ [6]
Die wichtigste der vier Ebenen ist die Kommune, in der sich 10 bis 25 Familien zusammenfinden. Sie trifft sich in Vollversammlungen einmal im Monat, wobei jeder Haushalt mit mindestens einer Person vertreten sein soll. Die Vorsitzenden sind jeweils ein Mann und eine Frau, wobei die Frau nur von den Frauen gewählt wird. Die Vorsitzenden können jeden Monat vom Plenum nach vorheriger Ankündigung neu gewählt werden.
Regionalverwaltung von Cizîrê, 2015 Foto: Janet Biehl |
Aus den Reihen der Kommune wird auch eine Koordination (bis zu 15 Personen) gewählt, die wöchentlich an einem bestimmten Tag zusammentrifft. Die Versammlung ist für alle anderen offen.
Die zweite Ebene, der Stadtteilrat, besteht aus 20 bis 70 Kommunen und funktioniert nach ähnlichen Prinzipien. So ist es auch im Bezirksrat und auf der kantonalen Ebene.
Daneben wurden ab 2013 Demokratische Selbstverwaltungsstrukturen (DSV) aufgebaut, in denen sich ausnahmslos alle Bevölkerungsteile wiederfinden sollen. Dies trug wesentlich dazu bei, dass auch die nicht-kurdischen Bevölkerungsteile allmählich ihre Skepsis (auch Gegnerschaft) wenigstens ansatzweise ablegten und allmählich für die Selbstorganisation gewonnen wurden bzw. werden.
„Denn in allen Sektoren, welche mehr oder weniger identisch mit den DSV-Komitees wurden, wurden Räte geschaffen, die von nun an die grundlegenden Entscheidungen treffen sollten. Genauer gesagt kamen die bestehenden TEV-DEM [7]-Räte auf Kantonalsebene mit den DSV-Komitees zusammen und wurden durch weitere Untersektoren so ergänzt, dass alle Sektoren in der Gesellschaft eingebunden wurden. Die monatlich tagenden «Sektorenräte» (wie zum Beispiel zu Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Justiz) wählten aus ihren Reihen ein sich wöchentlich treffendes Komitee als Exekutive. Die Ausführung der Beschlüsse umfasst alle Kreise, die ihre Delegierten in den Rat der Sektoren senden. Solche Räte wurden mit der Zeit auch auf Bezirksebene mit der gleichen Herangehensweise geschaffen. Die Zusammenführung hat sich nach kurzer Zeit als effektiv herausgestellt, weil alle gesellschaftlichen Akteure im jeweiligen Sektor mittels der monatlichen Versammlungen in die Entscheidungen eingebunden wurden.“ [8]
Tatsächlich nimmt ein Großteil der Bevölkerung an der Verwaltung und an den Entscheidungsfindungen teil. Bei Rechtsstreitigkeiten wird immer auf eine konsensuale Lösung hingearbeitet. Vorangetrieben wurde diese basisdemokratische, feministische und multiethnische Orientierung und der Aufbau der entsprechenden Strukturen vor allem von der „Bewegung für eine demokratische Gesellschaft“ (TEV-DEM).
Aber auch innerhalb der kurdischen Bevölkerung gab es (und gibt es heute noch zum Teil) eine spürbare Ablehnung durch die Kräfte, die sich an der Parteiensammlung ENKS [9]orientieren. Mit diesen ultimativ auftretenden Kräften musste nach der Befreiung weiterer Gebiete im Norden und Nordosten (vor allem 2015 und 2016) ein Kompromiss in der Repräsentation auf den oberen Ebenen eingegangen werden, so dass hier gewisse parlamentarische Elemente enthalten sind.
„Die DFNS ist an der Basis der Gesellschaft mit den Kommunen und Kooperativen eine Struktur zwischen Basis- und Rätedemokratie. Die über ihnen stehenden Räte sind eine Kombination aus Rätedemokratie und Parlamentarismus. Je höher die Ebene, desto mehr Repräsentation herrscht vor. Dies ist damit zu begründen, dass in Rojava ungefähr die Hälfte und in anderen Teilen Nordsyriens die Mehrheit der Bevölkerung noch nicht von direkter Demokratie überzeugt ist (siehe Diskussion um die DSV [in dem Buch auf den Seiten 134 ff.]). Wichtig ist es, die Idee direkter Demokratie solchen Kreisen mit der Zeit mittels dieses neuen Systems nahezubringen. Genau das tut die TEV-DEM, wofür sie in den Kommunen hart arbeitet. Das ist auch unser Eindruck, den wir bei unseren Untersuchungen in Rojava und Nordsyrien bekommen haben. Die Revolutionär*innen führen einen täglichen Kampf gegen Entfremdung und Korrumpierbarkeit.“ [10]
Die Basis der umfänglich ausgefächerten und auf breite Beteiligung ausgelegten Entscheidungsstrukturen ist der 2014 entworfene Gesellschaftsvertrag. [11]Auf dieser Grundlage kamen am 16. und 17. März 2016 151 Delegierte zusammen und verabschiedeten eine auf Arabisch verfasste Ausrufung des Föderativen Systems Rojava/ Nordsyrien, was allen Mächten der Region wie auch den USA höchst unwillkommen war (nur Russland begrüßte die Erklärung).
Am 29.12.2016 verabschiedeten dann 165 Delegierte den Gesellschaftsvertrag [12]. Sie haben damit – nach vorheriger umfassender Diskussion in der Bevölkerung – eine geschriebene Verfassung geschaffen, die das Reglement für das Funktionieren der Räte darstellt, unabhängig davon, ob die von den rückschrittlichen Kräften erzwungene Einfügung parlamentarischer Elemente von Dauer sein wird.
Um die besondere Leistung der rätebasierten Demokratie in Rojava wirklich würdigen zu können, müssen wir uns drei Dinge vor Augen halten:
Erstens handelt es sich um eine Region, in der traditionell patriarchale Züge und Clan-Verbindungen eine viel größere Rolle spielen als bei uns. Besonders die feministische Umgestaltung ist ohne diese basisdemokratische Funktionsweise (bzw. Rätestruktur) völlig undenkbar.
Zweitens befindet sich die gesamte Region der DFNS (also der Demokratischen Föderation Nordsyrien, was deutlich mehr ist als Rojava) immer noch im Krieg und leidet ganz extrem unter dem Embargo. Unter solchen Bedingungen eine so weitreichende Demokratisierung durchgesetzt zu haben, nötigt höchsten Respekt ab.
Drittens können wir uns in Europa bei einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf ganz andere technische Mittel stützen. Es wird beim heutigen Stand der Technik in den hochindustrialisierten Ländern ein Leichtes sein, zu wichtigen Fragen die Debatten in den entsprechenden Räten jeweils direkt (oder aufgezeichnet) zu verfolgen und anschließend auch in Volksabstimmungen (per Internet) zu entscheiden, welcher Antrag Beschluss werden soll. So könnte bei wichtigen Fragen die ganze Bevölkerung sogar über Varianten abstimmen (etwa eines Plans für die wirtschaftliche Entwicklung oder für diese oder jene ökologische Maßnahme). Von diesen Möglichkeiten konnten die Revolutionärinnen und Revolutionäre nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht mal träumen.
Wenn also maximal dezentralisiert ist und die Bevölkerung überall real beteiligt ist, wenn Räte ständig kontrolliert werden und wenn Rechtsstaatlichkeit herrscht: Wo soll es da noch Bedarf für ein Parlament, also für nicht abrufbare Abgeordnete geben? Es widerspräche doch gerade dem antibürokratischen Ziel, alles zu vermeiden, was zu einer abgehobenen und nicht rechenschaftspflichtigen Schicht von Entscheidungsträgern führt.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz