USA/Kurdistan

Trumps „Stich in den Rücken“ der kurdischen Nationalbewegung

Trumps Abzug aus Nordsyrien war keine pazifistische Maßnahme – ganz im Gegenteil.

Gilbert Achcar

In einer weiteren eklatanten Vorführung seines unberechenbaren Charakters, seiner politischen Verantwortungslosigkeit und menschlichen Rücksichtslosigkeit gab US-Präsident Donald J. Trump in der Nacht zum 6. Oktober nach einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan plötzlich bekannt, dass er den Rückzug der in Nordostsyrien stationierten US-Truppen (fast tausend) angeordnet habe. Diese Truppen waren dort gewesen, um die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), eine multiethnische Koalition, die von den kurdischen Kräften der Volksschutzeinheiten (auch bekannt als YPG) geführt wird, bei ihrem Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS, auch bekannt als ISIS) zu unterstützen.

 

Kampfpause in Rojava (2015), Quelle: BijiKurdistan

Die syrischen Kurd*innen und ihre Verbündeten haben diesem Kampf großen Tribut gezollt, der mehr als zehntausend Opfer gefordert hat. Sie waren maßgeblich an der Eindämmung und Rückdrängung des IS auf syrischem Territorium beteiligt. Sie sind zweifellos auch die fortschrittlichste, wenn nicht die einzige fortschrittliche aller auf syrischem Territorium tätigen Streitkräfte, insbesondere in Bezug auf den Status und die Rolle der Frauen. Dennoch wurden sie von der türkischen Regierung aufgrund ihrer engen Beziehung zur kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Hauptmacht auf türkisch dominiertem kurdischem Gebiet, durchweg als „Terroristen“ eingestuft.

Die türkische Regierung, von der bekannt ist, dass sie den Aufbau des IS in Syrien ignoriert hat (es wird sogar vermutet, dass sie diesen Aufbau erleichtert hat), betrachtet die kurdische Nationalbewegung als die größte Bedrohung. Sie ist 2016 in einen Teil Nordsyriens (Afrin) eingedrungen, um die YPG-Kontrolle über dieses Gebiet zu beenden, und besetzt es immer noch. Seitdem droht sie auch, in Nordostsyrien (Westkurdistan, alias Rojava) einzudringen, was nur durch die Anwesenheit von US-Truppen an Seiten der SDF verhindert wurde.


Nicht das erste Mal


Das Telefongespräch zwischen dem amerikanischen und dem türkischen Präsidenten am 6. Oktober ist nicht das erste, bei dem Erdogan Trump aufforderte, die US-Truppen abzuziehen und damit den Einmarsch türkischer Truppen in das übrige syrisch-kurdische Territorium zu ermöglichen, und auch Trumps Ankündigung, dem nachzukommen, ist nicht die erste. Das letzte Mal war vor einem Jahr und führte zum dramatischen Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Jim Mattis: Das spiegelte die Abneigung des US-Militärs, etwas auszuführen, was ganz offensichtlich einem "Stich in den Rücken" der Verbündeten gleichkommt (so die Worte des SDF-Sprechers), und die berechtigte Befürchtung des Pentagons wider, dass ein türkischer Einfall den IS wiederbeleben und ein Chaos schaffen könnte, das der Iran ausnutzen könnte, um seine Kontrolle über das riesige Territorium zu vervollständigen, das sich von seinem Territorium über den Irak bis zu den Küsten Syri-ens und des Libanon erstreckt.

Trump, der selbst von seinen Republikaner*innen angegriffen wurde, machte Ende letzten Jahres einen Rückzieher. Diesmal jedoch hielt er sein Versprechen gegenüber Erdogan und antwortete seinen Kritiker*innen, die ihn beschuldigten, wertvolle Verbündete im Kampf gegen den IS zu verraten, indem er versicherte, er werde in seiner sich selbst zugeschriebenen „großen und unerreichten Weisheit“ die türkische Wirtschaft, „auslöschen“, wenn die türkischen Streitkräfte bei ihrer Invasion in Nordostsyrien einige vage, undefinierte Grenzen überschreiten würden.

Man sollte sich über Donald Trumps Motivation nicht täuschen. Der US-Präsident ist kein Pazifist und nicht gegen militärische Abenteuer seines Landes im Ausland. Er ist ein überzeugter Anhänger des Mordkrieges im Jemen, der von der Koalition unter Leitung seines Mörderfreunds, des saudischen Kronprinzen, geführt wird. Und er erklärte seine große Bewunderung für die US-Militärbasis im Irak, die er im vergangenen Dezember besuchte, und erklärte, wie wichtig sie für die USA sei.


Krieg muss sich lohnen


Aus der Sicht eines Mannes, der während seiner vorherigen Präsidentschaftskampagne erklärt hatte, die USA sollten die Kontrolle über die irakischen Ölfelder übernehmen und sie zu ihrem Vorteil ausbeuten, ist die Begründung klar genug: Trump glaubt, dass das US-Militär nur in Gebieten eingesetzt werden sollte, in denen es ein offensichtliches wirtschaftliches Interesse für sein Land (und für seine eigenen Interessen, könnte man hinzufügen, wenn man sich erinnert, dass seine Präsidentschaft in der Vermischung von privatem Geschäft mit öffentlichen Angelegenheiten am weitesten in der Geschichte der USA gegangen ist). Der Irak, das saudische Königreich und andere Ölmonarchien am Golf sind nach Ansicht von Trump im Gegensatz zu armen Ländern wie Afghanistan und Syrien perfekte Orte für den militärischen Einsatz der USA.

Aus einer wirklich antiimperialistischen Perspektive, die vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgeht, sollten alle imperialistischen und räuberischen Truppen aus Syrien abgezogen werden, unabhängig davon, ob es israelische Truppen sind, die seit 1967 den syrischen Golan besetzen, oder die in jüngerer Zeit eingerückten Kräfte des Iran und seiner regionalen Vertreter, Russlands, der USA und der Türkei, um nur die Hauptakteure zu nennen. Ein einseitiger Rückzug der USA, gepaart mit einer Aufforderung an die Türkei einzugreifen und ihr freie Hand zu lassen, die kurdische Nationalbewegung zu zerschlagen, hat nichts Fortschrittliches oder Pazifistisches an sich: Das ist das genaue Gegenteil.

Die beiden progressiven Spitzenreiter*innen bei den US-Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr haben richtig verstanden, worum es geht, und am 7. Oktober in ähnlicher Weise auf Donald Trumps Ankündigung reagiert.

      
Mehr dazu
Leila al-Shami: Die Kurden als Spielball imperialer Interessen, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
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Sosyalist Demokrasi için Yeniyol: Der Krieg für Erdogans Überleben bedeutet für uns Armut und Tod!, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online)
Sekretariat der ISO: Erdogan-Regime erwürgt revolutionären Prozess in Nordsyrien, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online)
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Uraz Aydin: Selbstbestimmung in Rojava, die internationale Nr. 2/2017 (März/April 2017)
Internationales Komitee der IV. Internationale: Unterstützung für den Kampf des kurdischen Volkes für ein Leben in Freiheit und Würde, Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016)
 

Senator Bernie Sanders twitterte: „Ich habe lange geglaubt, dass die USA unsere Militäreinsätze im Nahen Osten verantwortungsvoll beenden müssen. Aber Trumps abrupte Ankündigung, sich aus Nordsyrien zurückzuziehen und dem Einfall der Türkei zuzustimmen, ist äußerst verantwortungslos. Dies wird wahrscheinlich zu mehr Leiden und Instabilität führen.“

Senatorin Elizabeth Warren twitterte: „Ich unterstütze es, unsere Truppen aus Syrien nach Hause zu bringen. Aber der rücksichtslose und ungeplante Rückzug von Präsident Trump untergräbt sowohl unsere Sicherheit als auch die unserer Partner. Wir brauchen eine Strategie, um diesen Konflikt zu beenden, und keinen Präsidenten, der durch einen einzigen Anruf beeinflusst werden kann.“

Die mörderische türkische Invasion in Nordostsyrien muss gestoppt werden. Die NATO-Verbündeten der türkischen Regierung teilen die Verantwortung für diesen Angriff. Sie müssen ihre militärische Unterstützung für Ankara einstellen, gegen die türkische Regierung Wirtschaftssanktionen verhängen, bis sie ihre Truppen aus Syrien abgezogen hat, und der kurdischen Bewegung die Waffen zur Verfügung stellen, die sie zur Bekämpfung der türkischen Invasion auf ihrem Territorium benötigt.

10. Oktober 2019
Dieser Artikel ist zuerst auf der Website der Labour Party von Kingston and Surbiton veröffentlicht worden.
Übers.: Björn Mertens
Gilbert Achcar ist im Libanon aufgewachsen und unterrichtet Entwicklungsforschung und internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London. Zu seinen Büchern gehören The Clash of Barbarisms (dt.: Neuer ISP Verlag, 2002), das 2006 in einer zweiten erweiterten Ausgabe erschien, ein Buch mit Gesprächen mit Noam Chomsky über den Nahen Osten, Perilous Power: The Middle East and U.S. Foreign Policy (2. Auflage 2008) und The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives (2010, dt.: Edition Nautilus, 2012). Er ist Mitglied der Labour Party in Kingston.



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz