Die Autorin liefert eine pointierte und weitsichtige Analyse der Situation im Nordosten Syriens nach der Offensive der türkischen Armee und ihrer Milizen.
Leila al-Shami
Die jüngste türkische Offensive gegen Nordostsyrien und der Abzug der US-Truppen aus der Region lösen eine weitere humanitäre Katastrophe von epischem Ausmaß aus. In den letzten Tagen sind über 130 000 Syrer*innen voller Verzweiflung geflohen, um ihr Leben zur retten und sich in Sicherheit zu bringen. Dutzende von Zivilist*innen sind durch türkische Bomben getötet und durch die mit der Türkei verbündeten Milizen ermordet worden. In dieser chaotischen Situation sind IS-Gefangene aus ihren Lagern ausgebrochen und befinden sich jetzt in Freiheit. Viele von ihnen stammen aus dem Ausland, darunter sind auch Kinder, deren Heimatstaaten sich geweigert haben, die Verantwortung für ihre Staatsangehörigen zu übernehmen.
YPG/YPJ-Kämpfer*innen (2015), Quelle: BijiKurdistan |
Für die türkische Invasion gab es von Trump (und wahrscheinlich auch von Russland) grünes Licht und sie hat dazu geführt, dass die USA ihre Verbündeten, die von den kurdischen Milizen dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), mit denen sie bei der Bekämpfung des islamischen Staates kooperiert hatten, im Stich gelassen haben. Es war nicht das erste Mal, dass die USA ihre Bündnisse in Syrien aufgekündigt haben, und diejenigen, die unter den Folgen dieses Verrats zu leiden haben, werden dies wahrscheinlich nicht so leicht vergessen.
Die Türkei verfolgt mit ihrer Operation zwei Ziele. Einerseits will sie so die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien zerschlagen, die großteils seit 2012 unter der Kontrolle der kurdischen PYD steht, die wiederum mit der PKK verbunden ist, die dem türkischen Staat schon lange als innerer Feind gilt. Andererseits will sie eine Pufferzone einrichten und dort die syrischen Flüchtlinge „repatriieren“, die in der Türkei auf zunehmende Feindseligkeit und Fremdenfeindlichkeit stoßen. Da viele der Flüchtlinge Araber sind und diese in ein Gebiet zurückgebracht würden, in dem viele Minderheiten – kurdische und andere – leben, würde ein solcher Schritt wahrscheinlich zu einem weiteren demografischen Wandel führen, der bereits heute ganz wesentlich zu der syrischen Tragödie beiträgt. Zumal die syrischen Oppositionsgruppen, die mit der Türkei verbündet sind, für eine türkische Agenda kämpfen, die keine Ähnlichkeit mit der syrischen Revolution für Freiheit und Würde hat, die vor acht Jahren begonnen hat.
Die Bewohner*innen der Region haben gute Gründe, die türkische Besatzung zu fürchten. Die mehrheitlich kurdische Stadt Afrin, die im vergangenen Jahr von der Türkei und deren Bündnispartner besetzt worden ist, liefert ein erschreckendes Beispiel. Weite Teile der Zivilbevölkerung wurden aus ihren Häusern vertrieben und von dort ferngehalten, das so „verlassene“ Eigentum wurde oftmals geplündert und es kam zu breit angelegten Verhaftungen, Vergewaltigungen und Morden.
Da die syrischen Kurden befürchten müssen, dass die türkischen Streitkräfte zu ethnischen Säuberungen übergehen, und sie keine Verbündeten haben, die zu ihrer Verteidigung bereit sind, bleibt der PYD wenig anderes übrig, als eine Übergabe der Region unter die Kontrolle des syrischen Regimes auszuhandeln und somit ein Experiment kurdischer Selbstverwaltung zu beenden. Diese Autonomie hat der dortigen Bevölkerung zu erheblichen Errungenschaften verholfen und viele Rechte verschafft, die das arabische Regime lange verweigert hat.
Letztlich war diese Entwicklung nur eine Frage der Zeit. Als das Assad-Regime der PYD die Macht überließ, spielten vermutlich drei Faktoren eine Rolle: Erstens, dass diese Machtübergabe die Kurden daran hindern würde, weiter gegen das Regime zu kämpfen und das Regime so seine militärischen Ressourcen anderweitig ausspielen könnte; zweitens, dass es die syrische Opposition gegen Assad entlang sektiererischer Divergenzen spalten und somit schwächen würde; drittens, dass die Türkei intervenieren würde, wenn die PYD zu mächtig würde, um diese an einer weiteren Expansion zu hindern, so dass letztlich wieder das Assad-Regime die Kontrolle übernehmen könnte.
Berichten zufolge beinhaltet das zwischen dem Regime und dem von der PYD dominierten SDF vermittelte Geschäft eine Garantie für volle kurdische Rechte und Autonomie. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass das Regime jemals die kurdische Unabhängigkeit akzeptieren wird, wie auch die öffentlichen Verlautbarungen immer wieder deutlich gemacht haben. Bereits zuvor waren die anderweitig erteilten Versprechungen des Regimes in sogenannten „Versöhnungsabkommen“ nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben wurden. Regimegegner*innen, ob Araber oder Kurden, laufen nun Gefahr, verhaftet und eingekerkert oder gar zu Tode gefoltert zu werden. Auch die SDF-Milizen können sich nicht sicher fühlen. Vor wenigen Tagen erst erklärte der stellvertretende syrische Außenminister Faisal Maqdad, dass sie „ihr Land verraten und damit Verbrechen begangen haben“.
Während sich viele Kurden, die von den USA im Stich gelassen wurden, unter Assad sicherer fühlen können als unter den türkischen Invasoren, hat die arabische Zivilbevölkerung teilweise in den von der SDF kontrollierten Gebieten wie Deir al-Zour und Raqqa eine Rückeroberung durch das Regime und vor allem die iranischen Milizen zu fürchten, während sie sich unter türkischem Schutz sicherer fühlen können. Die Syrer befinden sich in einer verzweifelten Lage, so sehr ist ihr Überleben von fremden Kräften abhängig. Ausländische Journalist*innen sind aus Syrien geflohen, weil sie vom Regime bedroht werden, so dass dessen Gräueltaten nunmehr vor der Weltöffentlichkeit verborgen bleiben.
Die Entscheidungen, die momentan getroffen werden, sind die Machenschaften ausländischer Mächte, und die syrischen Zivilist*innen zahlen den Preis dafür. Die gegenwärtigen Machtkämpfe zwischen den Staaten befördern ethnische Spaltungen, die zu noch mehr Sektierertum führen, unter dem Syrien in nächster Zeit zu leiden haben wird. Assads Weigerung, der Rücktrittsforderung der syrischen Bevölkerung nachzukommen, hat zu diesem Blutbad geführt. Die gleiche Schuld trifft die internationale Gemeinschaft, die wiederholt dabei versagt hat, die Syrische Bevölkerung vor ihren Schlächtern zu schützen, und ebenso die arabischen wie auch die kurdischen Oppositionsführer, die ihre eigenen Interessen über die Einheit all derer stellten, die das autoritäre Regime zum Teufel wünschten. Das Regime hat alle demokratischen Organisationsansätze und Selbstverwaltungsstrukturen im ganzen Land nach und nach zerstört. Dies scheint die internationale Gemeinschaft nicht daran zu hindern, die Beziehungen zu einem Regime zu normalisieren, das sich nur durch breiteste Massaker an der Macht gehalten hat. Was heute geschieht, ist nicht nur für die Kurd*innen, sondern für alle freien Syrer*innen eine Katastrophe.
Die Situation in Syrien hat einmal mehr den moralischen Bankrott von Teilen der Linken deutlich gemacht. Viele, die jetzt gegen den Angriff der Türkei auf Nordostsyrien protestieren, blieben stumm gegenüber den anhaltenden Bombardements der russischen und syrischen Streitkräfte auf Idlib, wo drei Millionen Zivilisten den täglichen Terror erleben. Sie haben nicht einmal wahrnehmen wollen, dass die Syrer*innen seit Jahren durch Bomben, chemische Waffen und perfektionierte Folter massakriert werden. Einige von ihnen, die nun eine Flugverbotszone zum Schutz der kurdischen Zivilbevölkerung vor Luftangriffen fordern, haben zuvor die Syrer als Kriegshetzer und Agenten des Imperialismus beschimpft, als diese bei anderer Gelegenheit Schutzmaßnahmen forderten. Wieder einmal scheint die Solidarität nicht von der Empörung über Kriegsverbrechen abhängig zu sein, sondern davon, wer der Täter und wer das Opfer ist. Das Leben der Syrer*innen zählt nicht, wenn es um die großen Debatten und ideologischen Grabenkämpfe geht.
Die syrische Tragödie ist ein Schandfleck auf dem reinen Gewissen der Menschheit.
14. Oktober 2019 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz