Gauche Anticapitaliste / Stroming voor een Antikapitalistisch Project (Belgien)
Und wenn die Covid-19-Pandemie trotz des großen Qualms der Appelle zur heiligen Allianz dabei wäre, als eine Offenbarung des Klassenkampfs zu wirken? Sie bringt jedenfalls die herrschende Klasse in eine delikate Position: weder völlig außer Tritt gebracht (indem sie schlecht und recht die Lehren aus der chinesischen Epidemie zieht und große Sorge hat, dass sich die italienische Katastrophe wiederholt), noch völlig Herrin der Lage (Zögern angesichts der Zwänge der Marktwirtschaft). Sie muss, zu radikalen Maßnahmen greifen, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren, aber indem sie das tut, zeigt sie, dass die ganze bisherige Politik, die im Namen eines sogenannten ökonomischen Realismus geführt worden ist – das „Man muss den Gürtel enger schnallen“, das „There is No Alternative“ (TINA, Es gibt keine Alternative) – nur ungereimte Albernheit war, um das Wachstum zu retten.
Seht, was man entdeckt angesichts der gesundheitspolitischen Herausforderung: den Flugverkehr drastisch reduzieren, um die Klimaziele zu erreichen? Es wäre möglich gewesen! Die unsozialen Spardiktate der europäischen „Haushaltsdisziplin“ suspendieren? Es ist geschehen! Eine Milliarde Euro mobilisieren, um die Krankenhäuser zu unterstützen? Das ist machbar … nun, lediglich in Form eines Vorschusses auf ihre zukünftigen Budgets. [1] Die unnötigen und schädlichen Produktionen stoppen und sich auf die unbedingt notwendigen Bereiche konzentrieren? Damit wird angefangen – zu wenig, zu spät, und manchmal, weil die Stimme der Beschäftigten sich Gehör verschafft, wenn sie sich weigern, der kapitalistischen Wirtschaft und ihren Bossen als Kanonenfutter zu dienen. Und die Requisitionen (von privaten Kliniken, von Vorräten an medizinischem Material), die unerträglichen Eingriffe in das sakrosankte Privateigentum? Auch das kommt nun mancherorts vor. Und warum so spät, warum mit so viel Zurückhaltung, warum die Schwüre bei den Göttern, das seien außergewöhnliche Ausnahmen? Weil damit eben in das Herz des Systems der Reproduktion des Kapitals getroffen wird.
In Belgien wurden am 12. März die ersten halbherzigen Maßnahmen zur Begrenzung der sozialen Kontakte verkündet, sie betrafen den Bereich der Dienstleistungen (Schließung von Cafés, Kneipen, Restaurants), der Kultur (Theater, Kinos, Konzerte) und teilweise den Einzelhandel (Schließung der Geschäfte an den Wochenenden). Von Anfang an war klar, dass das nicht ausreicht. Warum die Geschäfte am Wochenende schließen und nicht an den Werktagen? Warum die Restaurants schließen und gleichzeitig die Leute weiterhin zwingen, arbeiten zu gehen und dafür die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen? Irrationale Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes, die aber völlig rational sind vom Standpunkt der kapitalistischen Ökonomie aus. Ziel: Den Spagat schaffen, versuchen, die Pandemie einzudämmen, ohne die Profite der Unternehmen zu schmälern! Die zynischste Version dieser ökonomischen Rationalität ist die der „Herdenimmunität“, einer modernen Version der natürlichen Auslese, wie sie im Heimatland von Darwin, im Vereinigten Königreich unter Boris Johnson und in den Niederlanden vom Premierminister Mark Rutte vertreten wird. Sie nimmt die Opferung einer großen Zahl von Menschen (unter den am meisten Gefährdeten) auf sich, um die Auswirkungen auf die Ökonomie zu minimieren.
Am 17. März verkündet die Regierung Wilmès [2] im zweiten Anlauf neue, strengere Maßnahmen (Schließung der Geschäfte und Läden außer den Lebensmittelgeschäften, Apotheken, Buchläden, Tankstellen... und Friseure). Homeoffice wird überall da zur Pflicht, wo es machbar ist. Aber das ist nicht für alle der Fall, bei weitem nicht! In Frankreich schätzt das Arbeitsministerium, dass nur wenig mehr als vier auf zehn Beschäftigte zuhause arbeiten können. [3] Bei den Tätigkeiten, sie sich nicht für Homeoffice eignen, muss „der Beschäftigte sich wie gewöhnlich zur Arbeit begeben“ und „die vom Arbeitgeber bestimmten Regeln der sozialen Distanz einhalten“. [4]
Das sind also stärkere Maßnahmen, die aber immer noch davor zurückschrecken, das Herz der kapitalistischen Produktion zu treffen. Währenddessen hat in Flandern die Spannung zwischen den Beschäftigten und den Geschäftsleitungen bei [der Brauerei] Hoegaarden/InBev und Tupperware fühlbar zugenommen. Der [Gewerkschaftsdachverband] ABVV/FGTB hat deutlich die sofortige Schließung von allen nicht notwendigen Bereichen angemahnt (zum Beispiel in der chemischen Industrie, wo man die Produktion von Medikamenten und die von Plastik und allen Weiterverarbeitungen des Erdöls auf dieselbe Stufe stellte!), womit sie in gewisser Weise die zweideutigen Erklärungen von Robert Verteneuil [seit 2017 Präsident der FGTB] relativiert hat, der die Beschäftigten zur „Solidarität“ aufgerufen hatte, um die Wirtschaft des Landes zu retten!
Aus welcher Ecke auch immer sie kommen, man muss allen diesen patriotisierenden Erklärungen und Appellen zur heiligen Allianz von Bevölkerung, Kapitaleigentümer*innen und Beschäftigten, aller Klassen ohne Unterschied also, gegen den gemeinsamen Feind Covid-19 den Hals umdrehen. Die rohe Realität ist doch die: Ohne menschliche Arbeit, sei es Handarbeit oder intellektuelle Arbeit, gibt es keine Profite! Damit wird die Grundlage des kapitalistischen Systems offengelegt: Die Ausbeutung der Arbeitskraft macht den Mehrwert möglich. Darum die Notwendigkeit, so viele Leute wie möglich weiter arbeiten zu lassen, auch wenn damit die Beschäftigten Covid-19 ausgesetzt sind.
„Niemand ist hier aus freiem Willen, wir sind gezwungen zu arbeiten. Die Beschäftigten fühlen sich so behandelt, als hätten sie keinen Wert.“ Das sagt ein Wachmann auf einer großen Baustelle im Kanton Vaud (Waadt) in der Schweiz. [5] In Italien hat der Premierminister Giuseppe Conte erst vergangenes Wochenende die Beendigung aller nicht notwendigen Produktionen verkündet und dabei anerkannt: „Wir haben keine Alternative.“ [6] 5000 Menschen mussten sterben, bis diese Entscheidung endlich gefallen war! Und dabei scheint die Lobby des Unternehmerverbands Confindustria noch die Verwässerung dieser Maßnahme erreicht zu haben. [7]
Doch die Offenbarung geht darüber hinaus. Erstens erlaubt es die Corona-Krise, die Sphären der Produktion und der Reproduktion ganz klar zu unterscheiden. [8] Die erstgenannte betrifft die verschiedenen und unterschiedlichen Produktionen, die erlauben, Mehrwert zu erzielen; die zweite betrifft die Tätigkeiten der Fürsorge (innerhalb wie außerhalb der Familie), die die Reproduktion der Arbeitskraft ermöglichen: Gesundheit, Bildung, Pflege, Ernährung usw. (auch wenn die Privatisierungen im Gesundheitsbereich, bei der Bildung und der Betreuung Pflegebedürftiger, beim Großhandel und beim Agrobusiness die Möglichkeit geschaffen haben, auch dort saftige Profite zu erzielen).
Wegen der Pandemie müssen wir die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduzieren und uns deshalb auf die vitalen Bereiche konzentrieren, die der reproduktiven Arbeit. Das unterstreicht die Wichtigkeit der Arbeit der Frauen und der Menschen, die Opfer rassistischer Diskriminierung sind, in diesen Bereichen: Kassiererinnen im Supermarkt, Krankenschwestern, Beschäftigte der häuslichen Pflege, Putzkräfte… mehrheitlich weibliche und/oder rassistisch diskriminierte, unterbezahlte, in Teilzeit arbeitende und übel prekarisierte Arbeitskräfte, die im Kampf gegen den Virus an der vorderster Front stehen und diese vitalen Arbeitsbereiche aufrechterhalten. Außerdem bedeutet die weitgehende Beschränkung auf den häuslichen Bereich, dass die Frauen eine umso größere Last in Hinblick auf die Hausarbeit und die Kinderbetreuung tragen müssen.
Gesperrte Grenze zwischen Belgien und Frankreich, Foto: Jamain |
Aber das zeigt „indirekt“ die Wichtigkeit dieser Bereiche, die Notwendigkeit, sie zu refinanzieren, und den herausgehobenen Rang, den sie in einer ökosozialistischen Gesellschaft einnehmen sollten, die mit jeder Form von Unterdrückung aufräumen will.
Zweitens rückt die Art und Weise, wie die Papierlosen und die Flüchtenden an den Grenzen behandelt werden, die Unmenschlichkeit der Herrschenden in grelles Licht. Die Zustände in den Flüchtlingslagern sind schon normalerweise unmenschlich, in der Zeit von Covid-19 sind sie es noch mehr. Auf Lesbos sind 22 000 Personen in einem Flüchtlingslager zusammengepfercht, das für 3000 vorgesehen ist, unter krank machenden Lebensbedingungen und hygienischen Verhältnissen. [9]
Wie soll man sich unter solchen Bedingungen regelmäßig die Hände waschen können? Man wagt sich nicht vorzustellen, was passiert, wenn sich das Virus in den Lagern ausbreitet…
Bei uns leben die Papierlosen in geschlossenen Zentren eingesperrten Menschen auch unter beklagenswerten Bedingungen. Ein Kollektiv von 77 Anwält*innen erklärt übrigens, dass ihre Inhaftierung illegal geworden ist. [10] Mehrere Menschen in Vottem [in der Provinz Lüttich] haben einen Hungerstreik begonnen, um ihre Freilassung durchzusetzen. Die Reaktion des zuständigen Ausländeramts bestand darin, 300 Personen zu entlassen … in die freie Wildbahn und mit der Auflage, das Territorium binnen 30 Tagen zu verlassen.
Die Covid-19-Pandemie erfordert radikale, rasche und weit ausgreifende Maßnahmen. Was die herrschende Klasse bislang angesichts der Klimakrise versäumt hat, wird ihr nun von der raschen Ausbreitung des Virus aufgedrängt. Aber täuschen wir uns nicht, die beschlossenen Maßnahmen zielen nicht darauf ab, die Gesellschaft zu verändern, mit der neoliberalen Politik Schluss zu machen oder auch nur ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit zu garantieren; ihr Ziel ist es, angesichts der Pandemie und der beginnenden Wirtschaftskrise das System zu retten. Mit dem Staat intervenieren, um die Unternehmen zu retten, die Aktionär*innen, die ganze Dynamik der Kapitalakkumulation. Kurz, um die Haut der Bourgeoisie zu retten.
Einleitend haben wir gesagt, dass sich die herrschende Klasse in einer seltsamen Lage befindet (zum Teil diskreditiert wegen ihrer kriminellen Tatenlosigkeit… und dank der verspätet getroffenen Maßregeln zum Teil wieder rehabilitiert). Ihre Repräsentant*innen beginnen dabei, die Gelegenheit zu nutzen, die die gegenwärtige Periode ihnen bieten könnte: die Rechtfertigung eines autoritären und weiteren sozialen Rückschritt organisierenden Neoliberalismus.
Man sieht übrigens die ersten Erscheinungsformen davon: Aussetzung des Streikrechts in Portugal [11], Infragestellung des Rechts auf Arbeit im Namen der dringenden Gesundheitsmaßnahmen in Frankreich [12], Nutzung der Mobilfunk-Daten in Belgien (ohne jede demokratische Kontrolle), damit die Fortbewegungen im Rahmen des Kampfs gegen das Virus nachvollzogen werden können. [13] Man sieht recht gut, wohin das alles führen kann.
Es wird gesagt: „Es hat ein vor dem Coronavirus und ein Nachher geben.“ Aber ist das so sicher? Auf dem Höhepunkt der Krise von 2008, die ein herausragender Anlass für die Infragestellung des Finanzkapitalismus war, ist dasselbe gesagt worden… Was bleibt heute, angesichts einer vorherzusehenden neuen umfassenden Krise, für die Covid-19 der auslösende Funke war, davon übrig? Schon heute gibt es Stimmen unter den Herrschenden, die eine Rückkehr zur „Normalität“ anmahnen, ihrer Normalität, der des entfesselten Produktivismus und der weiteren Zerstörung unseres Planeten, ihres „business as usual“. Aber wir werden weiterhin laut und hörbar rufen: Nein! Sie werden uns niemals dazu bringen hinzunehmen, dass das Anormale – die Ausbeutung der Menschen und die systematische Zerstörung der Erde – normal genannt wird!
Zunächst einmal ist es wenig wahrscheinlich, dass es auf kurze Sicht eine Rückkehr „zu ihrer Normalität“ geben wird. Erstens weil es unter dem Gesichtspunkt der Gesundheitsvorsorge „ein langes Zusammenleben mit Covid-19 in Betracht gezogen werden muss“, wie der Epidemiologe Marius Gilbert (Forscher an der ULB [der französischsprachigen Freien Universität Brüssel]) sagt. [14] Zweitens, weil diese Krise droht, politisch wie ökonomisch gesehen tiefe Spuren zu hinterlassen, in Hinblick auf die Legitimität der herrschenden Klasse, die Gesellschaft zu führen, und zugleich auf die ökonomischen Folgen für breite Teile der Bevölkerung und der Beschäftigten, auch unter dem Gesichtspunkt der Formen und Mittel der Mobilisierung.
„Jetzt heilen wir, danach haben wir ein Hühnchen zu rupfen“, hat das Komitee „La santé en lutte“ (Die Gesundheit im Kampf) vor kurzem geschrieben. [15] Das ist der Angriffspunkt, von dem aus wir uns auf die Auflösung dieser Krise vorbereiten müssen: Heute stehen wir unter Ausgangssperre, sobald wie möglich werden wir massiv auf die Straße gehen, um diejenigen für die Krise bezahlen zu lassen, die es verdienen! Die Bourgeoisie wird versuchen zu erreichen, und sie tut dies bereits, dass die abhängig Beschäftigten für die ökonomische Krise bezahlen, die sich aus der Krise der Gesundheitsversorgung entwickelt. Und die wenigen Maßnahmen zum Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter gehen zu Lasten der Sozialversicherungskassen, die ihrerseits mehr und mehr unter Beschuss genommen werden.
Wir müssen diesen Moment der Erschütterung nutzen, um etwas anderes durchzusetzen als die Rückkehr zu ihrer Normalität – in der ein Viertel der Menschheit nicht einmal Zugang zu sauberem Wasser hat, um sich die Hände zu waschen [16] –, nämlich einen Schritt vorwärts zu einer anderen Gesellschaft, in der das Leben und die Gesundheit der Bürger*innen nicht mehr zweitrangig sind (und erst nach dem Wachstum und den Profiten der Unternehmen und Aktionär*innen kommen), sondern im Gegenteil der Dreh- und Angelpunkt einer Welt, die zugleich die Bedürfnisse aller und die Grenzen des Planeten respektiert.
Heute gilt mehr denn je: Unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite!
Aus dem Französischen übersetzt von Manuel Kellner |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz