Pedro Fuentes
Nach Trumps Niederlage hat Bolsonaro Brasilien zu einem Flaggschiff für die globale autoritäre Rechte gemacht. Diese ist durch die Niederlage ihres wichtigsten Führers und bei den Wahlen in mehreren europäischen Ländern geschwächt, aber sie bleibt eine gegenwärtige und zukünftige Bedrohung inmitten der sich derzeit entfaltenden Krise der Weltherrschaft.
Aus diesem Grund richten viele, insbesondere demokratisch gesinnte Menschen auf der Welt ihre Augen nun auf Brasilien. Die Proteste gegen Bolsonaro gehen weiter und erlebten am 2. Oktober einen vorläufigen Höhepunkt. Die Chancen sind erheblich gestiegen, dass Bolsonaro aus dem Amt gewählt und durch Lula, der inzwischen frei von gerichtlichen Anschuldigungen ist, ersetzt wird.
Bolsonaro kann und muss aus dem Amt gejagt werden – sei es durch Massenmobilisierungen für eine Amtsenthebung oder durch die Wahl einer künftigen Regierung Lula. Lula liegt derzeit in allen Wahlumfragen vorne und würde mit großem Vorsprung vor Bolsonaro gewinnen.
In breiten demokratischen und linken Kreisen stößt die Aussicht, dass Lula wieder an die Macht kommen könnte, verständlicherweise auf Erwartungen und Sympathie. Die weiter links stehende Avantgarde, die aus den Kämpfen der letzten Zeit hervorgegangen ist, und die antikapitalistischen Kreise richten ihre Erwartungen auch an die „Partei für Sozialismus und Freiheit“ (PSOL). Diese Erwartungen sind miteinander verbunden, auch wenn sie im Fall der PSOL spezifischer sind, da sie zu Recht als eine linkere Alternative angesehen wird, die, obwohl sie kleiner ist als die Arbeiterpartei (PT), im Kampf gegen Bolsonaro ebenfalls Einfluss auf die nationale Politik hat.
Die Tatsache, dass sich beide Parteien in der Opposition befinden, führt dazu, dass weite Kreise die Rolle, die die eine und die andere Partei in der nationalen Politik gespielt haben und in Zukunft spielen werden, in einen Topf werfen. Wir erwähnen das, weil eine Übereinstimmung im unmittelbaren Ziel nicht die qualitativen Unterschiede beseitigt, die zwischen diesen beiden Parteien bestehen und die in den anderthalb Jahrzehnten seit der Gründung der PSOL deutlich geworden sind, als Luciana Genro, Baba und Heloisa Helena [im Dezember 2013] aus der PT ausgeschlossen wurden, weil sie nicht für die Reform der Renten der öffentlichen Bediensteten gestimmt hatten. (Die Größe der PSOL kann an der Zahl ihrer Mitglieder abgelesen werden, die 200 000 erreicht, wobei es sich eher um Sympathisant*innen handelt.) Sie ist stärker gewachsen als alle anderen Parteien und kann auf einen Block von 9 Abgeordneten [im Bundesparlament] und auf etwa 20 000 aktive Mitglieder zählen.
Der Ausschluss der Radikalen war eine Maßnahme, die im Einklang mit der Politik stand, die die PT während ihrer 15-jährigen Regierungszeit verfolgte. Einige Monate vor der Wahl, die ihm 2002 zum Sieg verhalf, veröffentlichte er [Lula] einen „Brief an das brasilianische Volk“, der in Wirklichkeit ein Brief an die Bankiers war, in dem er versprach, alle Vereinbarungen und Auflagen des IWF zu erfüllen. Und das hat er auch getan. Es war eine Regierung, die von Anfang an hohe Vertreter der Bourgeoisie in ihre Ministerriege aufnahm. Ein großer Sojaproduzent (Roberto Rodrigues) wurde Landwirtschaftsminister, ein ehemaliges Mitglied des internationalen Vorstands der BankBoston (Henrique Meirelles) wurde Präsident der Zentralbank, ein Großindustrieller (Luiz Fernando Furlan) wurde Minister für Entwicklung, Industrie und Außenhandel, und José de Alencar, ein Industrieller aus Minas Gerais war Vizepräsident. In dieser Zeit häufte das Finanzkapital riesige Gewinne an und die Baukonzerne verwandelten sich in brasilianische multinationale Konzerne, die ihre Arme nach Lateinamerika und Afrika ausstreckten. Ein einziger Name sagt alles: Odebrecht, der Baukonzern, das den Bau von Großprojekten in Lateinamerika und einigen afrikanischen Ländern beherrschte und für seine Korruptionspraktiken beim Gewinnen von Ausschreibungen bekannt ist.
Politisch hat die PT sich mit zwei alten bürgerlichen Parteien verbündet, die seit dem Sturz der Diktatur an allen Regierungen beteiligt waren: mit der MDB (Brasilianische Demokratische Bewegung) von Dilma Rousseffs Vizepräsidenten Michel Temer, der später für die Leitung des parlamentarischen Putsches gegen sie bekannt wurde, und mit der [konservativen] Fortschrittspartei (PP), mit denen sich die PT Posten und Pfründe geteilt hat. Über die die von dem Richter Sergio Moro inszenierten Manipulationen, um Lula über das „Lava Jato“ [1] zu entrechten, hinaus hat es Korruption in einem derartigen Ausmaß gegeben, dass alle von jeher mit Lula verbündeten Gouverneure heute vor Gericht stehen oder im Gefängnis sitzen.
Die bis 2011/12 anhaltenden günstigen Umstände für die Exportländer aufgrund der steigenden Rohstoffpreise ermöglichten es den PT-Regierungen, den ärmsten in der Gesellschaft Zugeständnisse zu machen, indem sie ein Nothilfeprogramm mit der Bezeichnung „Bolsa Família“ (Familienbeihilfeprogramm) auflegten, das bedürftigen Familien rund 50 Dollar pro Monat gewährte. Außerdem ermöglichten sie mehr jungen Menschen den Zugang zur Universität. Es waren lindernde Maßnahmen, die mit Beginn der Krise in der Region ein Ende fanden, als sich die Regierung von Dilma Rousseff gezwungen sah, eine wirtschaftliche Anpassungspolitik einzuleiten. Damit begann die Regierung, in Teilen der Massenbewegung an Ansehen zu verlieren.
Die Unfähigkeit, grundlegende Strukturmaßnahmen zu ergreifen, führte zu Desillusionierung, Skepsis und Ablehnung der Methoden einer politischen Kaste, die sich in der Macht mit all ihren Vergünstigungen eingerichtet hat. Dies waren die objektiven Grundlagen, die die Wende [weg von der PT] in der Massenbewegung erklären und den Boden bereiteten für die Suche nach einem Retter, der sich als Systemgegner präsentierte. An diesem Punkt trat Bolsonaro auf den Plan. Verstehen lässt sich das nur, wenn man die Desillusionierung über die Degeneration der PT und deren bürgerliche Regierungsausrichtung in Rechnung stellt. In Brasilien ist das geschehen, was sich in vielen Ländern der Welt in mehr oder weniger ausgeprägter Form ereignet hat: Die extreme Rechte ist an der Macht, nachdem fortschrittliche Regierungen, in die die Arbeiter*innen und das Volk ihre Erwartungen gesetzt hatten, Schiffbruch erlitten haben.
Was Bolsonaros Vorfaschismus ausmacht, ist zur Genüge bekannt und muss hier nicht wiederholt werden. Jeder neue Tag, bringt einen neuen Vorgang ans Licht, der die Brasilianer*innen und die übrige Welt verblüfft. Seit seiner Machtübernahme will er ein autoritäres, diktatorisches Regime errichten. Einige seiner hartnäckigsten Anhänger*innen sprechen von „einer Militärregierung unter Vorsitz von Bolsonaro“. Für ihn ist die Armee „seine“ Armee. Bolsonaro ist zwar bei einigen Vorhaben vorangekommen, so z. B. bei der Lockerung der Anforderungen für den Erwerb von („Sport“-)Waffen, aber einen qualitativen Sprung hin zu einem diktatorischen Regime konnte er nicht bewerkstelligen.
Die Regierung ist reaktionär und will über die Auflösung der beiden anderen Gewalten (Justiz und Parlament) einen Regimewechsel herbeiführen. [...] Nach folgenlosen Prahlereien mit einem Staatsstreich auf zwei Großveranstaltungen am 7. September (in Brasilia und in São Paulo), auf denen er den Obersten Gerichtshof (STF) scharf angriff, musste Bolsonaro am nächsten Tag einen Rückzieher machen. Es kommt doch manchmal vor, dass Parlament und Justiz ihr eigenes Leben wahren. Will er ein Amtsenthebungsverfahren verhindern, ist er im Parlament auf die Stimmen des Spektrums angewiesen, das in Brasilien „Centrão“ genannt wird, also von rechten politischen Parteien, insbesondere der Fortschrittspartei (PP), die früher eine wesentliche Stütze für die PT-Regierungen war. Diese Abgeordneten unterstützen ihn nicht nur, weil sie rechts sind, sondern auch und vor allem, weil sie wirtschaftliche Vergünstigungen und Millionen für Projekte in ihren Städten erhalten; eine Diktatur, die ihren eigenen Privilegien ein Ende setzen würde, sehen sie nicht gerne. Anders sähe es aus, wenn es eine revolutionäre Situation im Land gäbe, aber davon sind wir weit entfernt.
Die Regierung ist in den Augen des Volkes geschwächt. Umfragen zufolge wird sie noch von 25 % der Bevölkerung unterstützt. Dieser Abwärtstrend verfestigt sich, da die Regierung nichts unternimmt, während die Preise steigen und die Löhne stagnieren. Die Wirtschaftskrise ist spürbar und die soziale Krise ist tief, und in dem Jahr bis zu den Wahlen ist keine Besserung in Sicht. Diese allgemeine passive Ablehnung hat sich jedoch noch nicht in ein energischeres Auftreten der Massenbewegung verwandelt. Die einheitlichen Aktionen der linken Parteien und der Gewerkschaften sind beachtlich, aber es gibt keinen Aufstand der Massen wie in Chile. Das Volk scheint darauf zu warten, dass es ihn an den Urnen schlagen kann, und die Bourgeoisie ist nicht bereit, die Karte der Amtsenthebung zu spielen, auch wenn Teile von ihr sehr unzufrieden sind.
Auch Lula ist nicht auf ein Impeachment aus, sondern zieht es vor, die Regierung sich verschleißen zu lassen, weil er überzeugt ist, dass die Wahlen ihn wieder an die Macht bringen werden. Unberechenbarkeit ist jedoch eines der Markenzeichen von Bolsonaro und dies prägt die Situation. Ein erneuter Vorstoß in Richtung Diktatur könnte dazu führen, dass das „Fora Bolsonaro“ (Bolsonaro raus) direkt in die Tat umgesetzt wird. Wie Roberto Robaina in seinen Aufzeichnungen nach der Kundgebung vom 2. Oktober schreibt: „Der Aktionstag am 2. Oktober läuft auf eine Sackgasse hinaus, auch wenn es ein Sieg war, dass nach Wochen ohne eine einheitliche nationale Aktion wieder der Schrei ,Fora Bolsonaro‘ auf den Straßen zu hören war. Dieser Tag könnte die letzte wirkliche Massenmobilisierung gewesen sein, um Bolsonaro durch den Druck der Straße weg zu kriegen, und zugleich die erste Wahlmobilisierung. Oder es könnte ein Neustart sein, ein Wiederanlauf seitens der Straße, um sich Bolsonaros zu entledigen.“ [2] Das ist die Ungewissheit, von der wir sprechen; mit zunehmender Wahrscheinlichkeit haben wir es mit der ersten Option zu tun, es gibt keine Anzeichen für den Ausbruch einer Massenbewegung. Das ist objektiv eine Sackgasse, mit Druck in Richtung einer Lösung über die Wahlen, weil die Massen sich nicht durchsetzen und Lula auf solch eine Lösung setzt. Wir können aber auch hinzufügen, dass nicht nur Lula „auf die Wahlen wartet“, sondern auch die CUT, die ihr angeschlossenen Gewerkschaften und die Strukturen der PT, die die einstige Verbindung zu der Massenbewegung verloren haben.
Dies ist der politische Rahmen, in dem die PSOL ihren 7. Kongress abgehalten hat.
Vor diesem politisch instabilen Hintergrund vertrat die MES die Position, die Initiative zu ergreifen, um Bolsonaro aus dem Amt zu jagen. Die Abgeordneten der MES standen 2019 an der Spitze des ersten Amtsenthebungsverfahrens, das von nahmhaften Intellektuellen und einer Million Unterschriften unterstützt wurde. Das wurde leider vom Rest der PSOL und von der PT nicht unterstützt. Ein Jahr später wurde eine umfassendere Initiative der Linken nach einem Amtsenthebungsverfahren auf den Weg gebracht; der Teil der PSOL, der die Mehrheit in der Führung stellt, hat wertvolle Zeit verstreichen lassen, um die Partei als Alternative zu präsentieren. Dieser Aktion der MES ist es notabene zu verdanken, dass die PSOL damals als Vorhut und nicht später als Anhängsel der Oppositionsparteien, die Teil des Regimes sind, in Erscheinung getreten ist.
Die MES vertritt die Auffassung, dass neben dieser möglichst breiten Aktionseinheit unter der Losung „Bolsonaro raus“ in Propaganda und Agitation ein antikapitalistisches Programm notwendig ist, d. h. dass man die sozialistische Strategie auch nicht einen Moment lang aufgeben darf. Es geht nicht darum, in der Massenagitation mit dem gesamten Programm zu agieren, sondern mit Übergangslosungen, die von der Massenbewegung angesichts der aktuellen Krise als notwendig empfunden werden. Wir müssen einen Katalog von Losungen aufstellen, die den gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechen und die nur durch eine Infragestellung des kapitalistischen Systems in bestimmten Bereichen gelöst werden können. Es geht zum Beispiel darum, einen Preisstopp zu fordern, aber wir können uns nicht nur darauf beschränken. Wir müssen Forderungen breit verankern, dass die Krise von den Reichen bezahlt werden muss, also die großen Vermögen besteuert, die Finanzspekulationen gestoppt und die Banken nationalisiert und der Kontrolle durch die Nutzer*innen unterstellt werden müssen, damit die Mittel für den Bau von Sozialwohnungen verwendet werden können. Den Banken ist die Macht zu entreißen, damit sie keine riesigen Gewinne mehr machen und so das Geld in den Bau von Sozialwohnungen fließt. Es muss ein Audit der öffentlichen Schulden geben, und deren Rückzahlungen müssen ausgesetzt werden.
Wenn man an einer Demonstration mit Reformist*innen und Bürgerlichen teilnimmt, ohne dort Losungen zu vertreten, die unseren Charakter als Klassenpartei aufzeigen, werden am Ende unsere Ideen verwässert. Und da die Partei der Antikapitalist*innen (in diesem Fall die PSOL) eine Partei ist, die im Verhältnis zur PT logischerweise eine geringere politische und soziale Reichweite hat, bedeutet der derzeitige Kurs der Leitungsmehrheit, dass die PSOL am Ende nur als Schwester oder Juniorpartnerin der PT betrachtet werden wird. Damit geht der Charakter der Partei komplett verloren, denn dann ist es nur noch ein Schritt zu der Auffassung, dass das Original doch besser ist als der billige Abklatsch.
Politisch folgerichtig ist die MES zusammen mit dem Linksblock auf dem Kongress für eine unabhängige PSOL mit einer eigenen Kandidatur im ersten Wahlgang eingetreten.
Der Kongress fand am 25. und 26. September statt. Inzwischen sind die Bilanzen der verschiedenen Strömungen erschienen. Dieser Text basiert auf dem am 26.9. verfassten Beitrag von Roberto Robaina, Leitungsmitglied der MES, mit der Überschrift „PSOL: Eine notwendige Partei im Aufbau“ [3]. Wir haben diesen Text sowohl für die Avantgarde und die Aktivist*innen in Brasilien als auch für die gesamte antikapitalistische Linke, die sich für die Ergebnisse des Kongresses und den künftigen Kurs interessiert, näher verdeutlicht.
Der Kongress wurde in digitaler Form (als Videokonferenz) abgehalten, mit 402 Delegierten aus dem ganzen Land, die fast 51 000 Mitglieder vertraten, die wiederum auf örtlicher Ebene abgestimmt haben. Auf dem vorigen Kongress, der [im Dezember 2017] abgehalten wurde, als das Land noch nicht von Bolsonaro regiert wurde, waren es noch 27 000 Mitglieder, die auf örtlichen Vollversammlungen die verschiedenen Positionen diskutierten. Vor diesem Kongress gab es nur virtuelle Plenarversammlungen, an denen sich nur 5000 Mitglieder beteiligt haben. Das allein zeigt schon, dass es falsch war, den Kongress unter diesen Bedingungen durchzuführen, und dass es richtig gewesen wäre, ihn zu verschieben, wie es der Linksblock und andere Strömungen gefordert haben. Trotz dieser sehr niedrigen Beteiligung an den Debatten haben sich landesweit 51 000 Mitglieder an den physisch stattfindenden Wahlen beteiligt.
Diese Zahlen zeigen, dass die Partei erheblich wächst und dass ihr Kongress viel repräsentativer und demokratischer hätte sein können, wenn er unter sanitären Bedingungen abgehalten worden wäre, wo die persönliche Teilnahme an lebendigen Plenarsitzungen möglich ist, und nicht die bloße Abgabe eines Stimmzettels; eine solche passive Abstimmung passt zu den Praktiken der bürgerlichen Parteien und der PT. Aber dieses überstürzte Vorgehen unter diesen prekären Bedingungen war eine Folge der Politik der Leitungsmehrheit, die, wie wir später sehen werden, um jeden Preis das Kräfteverhältnis ändern und eine neue Zweidrittelmehrheit (oder von 70 %) in der Parteiführung etablieren wollte.
Eine Bilanz muss unabhängig von den verschiedenen Positionen streng nach den Fakten erstellt werden. Dies war bei der von der Leitungsmehrheit vorgelegten Bilanz nicht der Fall. Auf der offiziellen Website der PSOL finden wir nur die mit Mehrheit angenommenen Resolutionen, während es die Pflicht der Leitung gewesen wäre, (gemäß der Praxis der sozialistischen Demokratie und des Marxismus) über die Mehrheits- und Minderheitsvoten zu informieren. Um ein vollständiges Bild von den Abstimmungsergebnissen zu gewinnen, müssen wir die Berichte der verschiedenen Strömungen heranziehen, von denen einige, wie wir sehen werden, mangelnde Objektivität oder Halbwahrheiten aufweisen, um ihre eigenen Positionen zu rechtfertigen.
In erster Linie spiegelte der Kongress eine lebendige Partei wider, in der eine heftige Kontroverse besteht, die noch nicht vollständig entschieden ist. Auf dem Kongress standen sich zwei Blöcke gegenüber. Ein Mehrheitsblock, der bei der wichtigsten Abstimmung (Unterstützung von Lula in der ersten Runde) 56 % der Stimmen erhielt, gegenüber 44 % für den antikapitalistischen Block, der sich dafür einsetzte, dass die PSOL in der ersten Runde mit „eigenem Gesicht“ auftreten muss, und der für die Vorkandidatur des Abgeordneten Glauber Braga eintrat, damit in der Öffentlichkeit ein antikapitalistisches Programm aktiv vertreten wird.
Erwähnenswert ist, dass diejenigen, die für die Unterstützung von Lula durch eine linke Front eingetreten sind, keine programmatischen Bedingungen für diese Unterstützung benannt haben. In ihrer Resolution heißt es: „Wir wollen eine linke Regierung, die sich für die sozialen Rechte, die Umwelt, die nationale Souveränität einsetzt …“. Und es ist die Rede von einem „Ring von Allianzen und der Synthese“, von allgemeinen Formulierungen wie „soziale Gerechtigkeit“, die von jeder Partei der bürgerlichen Mitte wie z. B. der PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens), der getreuen Vertreterin der Bourgeoisie von São Paulo, der stärksten im Lande, akzeptiert werden würden. Kein Wort zu Staatsverschuldung, Löhnen und Gehältern, Finanzkapital, Besteuerung der großen Vermögen … Dabei gab es Strömungen, die vor dem Kongress die Bildung einer von Lula geführten Front von der Aufstellung eines antikapitalistischen Programms abhängig machten, wie die Genoss*innen von Resistência mehrfach geschrieben haben.
Die Mehrheit ist auf dem Kongress mit „Realpolitik“ dahergekommen. Dabei wussten sie natürlich, dass es unmöglich und eine Täuschung ist, dies auch offen so zu benennen. Denn bekanntlich tritt Lula in keiner Weise für ein Programm auch nur minimaler Brüche ein. Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass „die Besteuerung der großen Vermögen falsch ist, weil sie in Steuerparadiese fließen würden“, als ob nicht laut Crédit Suisse ein Drittel von ihnen schon dort wäre.
Es ist richtig, für eine Politik der Einheitsfront systematisch einzutreten, wann immer es dafür Möglichkeiten gibt; eine gewisse Bereitschaft oder „Haltung im Sinne der Einheitsfront“, wie Trotzki es in seinen Schriften über Deutschland ausgedrückt hat. Andernfalls wird die Massenbewegung in die Irre geführt und es werden verwirrende Signale gesendet, die letztlich die Opportunist*innen stärken. Das ist so, als würde man von der Bananenstaude Orangen erwarten.
Es ist allgemein bekannt, dass Lula keine linke Front will. Er will eine sehr breite Front, die auch Teile der Rechten einschließt. Er hat bereits Schritte in diese Richtung unternommen, und zwar im Nordosten, wo er mit den Caudillos der MDB und der PP paktiert hat; dabei ist letztere die wesentliche Basis, auf die sich Bolsonaro stützt. Lula ist auf der Suche nach einem bürgerlichen Vizepräsidenten und sondiert daher das Terrain in Richtung von Luiza Trajano, Inhaberin einer der größten Firmen für den Vertrieb von Haushaltsgeräten und für den Online-Handel in Brasilien.
Der linke Block hat ausdrücklich versichert, dass er in der zweiten Runde den Kandidaten unterstützen wird, der gegen Bolsonaro antritt, und wenn das ‒ worauf alles hindeutet ‒ Lula ist, wird er sich mit aller Kraft dafür engagieren. Und wir haben zudem argumentiert, dass wir dann, wenn die Gefahr bestünde, dass der Völkermörder Bolsonaro in der ersten Runde gewinnen würde, die Kandidatur von Lula ‒ allerdings unter Vertretung unserer Standpunkte ‒ unterstützen würden.
Die Position des Blocks stand im Einklang mit dem Auftreten als PSOL mit klarer politischer Identität, um somit antikapitalistische Losungen und ein antikapitalistisches Programm gegen die Folgen der Krise propagieren zu können. Darüber hinaus muss die PSOL, auch wenn dies für uns nicht den gleichen Stellenwert hat, mit ihrem unabhängigen Antritt zur Wahl ihre Kandidat*innen für die nationalen und einzelstaatlichen Parlamente unterstützen. Sie muss die Sperrklausel von landesweit 2 % der Stimmen überschreiten, um als Partei Mittel aus dem Parteienfonds zu erhalten, und in elf Staaten mindestens 1,5 % der Stimmen erhalten. Wenn sie in der ersten Runde in einer Wahlfront kandidiert, wird diese Aufgabe schwieriger.[…]
Obwohl in dieser Resolution die Abstimmung über eine Präsidentschaftskandidatur auf eine Wahlkonferenz, die im April 2022 stattfinden soll, ‒ „eine nationale Konferenz mit den Mitgliedern der Nationalen Leitung, um endgültige Entscheidungen zu treffen“ ‒ verschoben ist, steht diese Formulierung im Widerspruch zur Gesamtresolution. Sie lässt nämlich nur deswegen ein kleines Fenster offen, damit, wie wir später sehen werden, der Block aus zwei Strömungen, die zusammen die Mehrheit auf dem Kongress bildeten, weiter zusammenhält. In Wirklichkeit ist die Unterstützung für Lula in der ersten Runde bereits angelaufen. Auch wenn einzelne Sektoren sich auf diese kommende Konferenz berufen, um so auf eine angeblich offene Diskussion verweisen zu können, bedeutet die Resolution letztendlich eine Festlegung. Lula ist bereits Kandidat, das ist die unbestreitbare objektive Realität, und die PSOL unterstützt ihn, wie der Vorsitzende der PSOL in seinen ganzseitigen Erklärungen in den beiden wichtigsten Zeitungen des Landes, in Folha de São Paulo und in O Globo, gesagt hat. Darin erklärte er unmissverständlich, die PSOL habe sich für die Kandidatur Lulas im ersten Wahlgang ausgesprochen. [4]
Die Stimmabgabe kann für die Marxist*innen bloß ein wichtiges taktisches Problem sein, solange die Prinzipien nicht in Frage gestellt werden. Die Beteiligung an einer Regierung der „konzertierten Aktion“ ist jedoch nicht dasselbe. Hier haben wir es mit einem prinzipiellen Problem zu tun, dem Bruch mit der Klassenunabhängigkeit. Zwischen einem taktischen Votum für das kleinere Übel und dem Eintritt in eine gemeinsame Regierung mit der Bourgeoisie liegt ein erheblicher und qualitativer Unterschied. Eine gemeinsame Regierung mit bürgerlichen Sektoren hat zur Degeneration des Marxismus geführt, was mit der französischen Sozialdemokratie angefangen und sich später auf alle sozialdemokratischen Parteien ausgeweitet hat. Etwas Ähnliches ist mit der Entartung der III. Internationale unter Stalin geschehen: die Beteiligung an sog. Volksfront-Regierungen mit der Bourgeoisie in einem großen Teil der Länder Europas.
Auf dem Kongress wurde die feste Absicht bekundet, bereits in der ersten Runde für Lula zu stimmen und zugleich die Tür für einen Beitritt zu seiner Regierung offen gelassen. Der Mehrheitsblock, der bereits für Lulas Unterstützung in der ersten Runde gestimmt hatte, weigerte sich nämlich, einer Resolution gegen die Beteiligung an einer künftigen Lula-Regierung zuzustimmen, obwohl darin ohne Zweifel die Bourgeoisie vertreten sein wird, wie bereits in den vorherigen Regierungen.
Die 56 %, die für die Unterstützung von Lula in der ersten Runde eingetreten waren und gestimmt hatten, legten einen allgemeinen Antrag vor, in dem es heißt: „Wir bekräftigen die Position, uns an keiner Regierung zu beteiligen, in denen rechte Parteien vertreten sind, oder die die Arbeiter*innenklasse attackieren und eine neoliberal-konservative Agenda und/oder eine autoritäre Politik vertreten.“ Eine Minderheit in diesem Fall von 43 % (ein Delegierter hat in diesem Fall nicht mit der Minderheit gestimmt) drückte die Dinge unzweideutig aus: „Keine Beteiligung an einer Regierung Lula.“ Die Resolution, die der Mehrheitsblock verabschiedet hat, ist von einer abstrakten Allgemeinheit, die eine Beteiligung an einer Lula-Regierung eben nicht ausschließt. Man bräuchte nur sagen, dass die Regierung Lula keine Regierung der Rechten sein wird, und das wird es dann gewesen sein. Natürlich wird eine Regierung Lula keine offen rechte Regierung sein, es wird eine Regierung der Mitte sein, um einen Begriff aus der Zeit der französischen Revolution zu verwenden, aber vom sozialen Standpunkt aus wird es eine Regierung mit der Bourgeoisie und für die Bourgeoisie sein, ob nun sehr weit rechts oder nicht ganz so rechts. Wir haben bereits gesagt, dass Lula und seine erste Regierung „sozialliberal“ waren, und es spricht nichts dafür, dass sich daran etwas ändern wird. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Die Tür zur Beteiligung ist ein Stück weit offen, wie die Mehrheit des Blocks, der auf dem Kongress die Mehrheit hatte, das will.
Aber warum hat die Mehrheit für etwas so abstrakt Allgemeines gestimmt? Diese Formulierung hat es dem gesamten Block ermöglicht, sich bei allen Abstimmungen einheitlich zu verhalten. Der Mehrheitsblock setzt sich aus zwei verschiedenen Gruppierungen zusammen. Auf der einen Seite gibt es den Block PSOL-Popular mit den Tendenzen „Primavera Socialista“ von Ivan Valente und dem wiedergewählten Vorsitzenden Juliano Medeiros und „Revolução Solidária“, die Strömung von Guillermo Boulos, dem führenden Kopf der MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto, Bewegung der obdachlosen Arbeiter).
Primavera ist eine Strömung, die zwar ihren Ursprung im Marxismus hat, aber seit ihrer Zugehörigkeit zur PT für ein „volksdemokratisches“ und nicht für ein antikapitalistisches Programm eintritt. Bis zum „Mensalão-Skandal“ von 2005 (einem System von monatlichen Zahlungen, die die PT-Regierung den Abgeordneten der Mitte und der rechten Mitte gewährte, damit sie deren Stimme in der Abgeordnetenkammer bekommt) war „Força Socialista“ (wie sich die Strömung Primavera damals nannte) Teil der PT-Regierung und hatte hohe Positionen im Bildungsministerium inne. Jetzt leiten Genoss*innen von Primavera das Bürgermeisteramt von Belém, ohne eine Politik zu betreiben, die sich von der des Gouverneurs unterscheidet, der der Partei MDB von Michael Temer angehört.
Revolução Solidária vertritt ein Programm für solidarische gemeinschaftliche Aktionen: „Solidarität oder Tod, die Solidarität muss die Gesellschaft grundlegend neu ausrichten etc.“ Für eine soziale Bewegung wie die MTST, die zur Mobilisierung für die Obdachlosen oder schlecht Behausten aufruft, mag das ausreichen, aber für eine politische Strömung innerhalb der PSOL ist dies noch blasser als das ursprüngliche Programm der PT. Primavera stellte 26 % der Delegierten, die Tendenz von Boulos etwa 18 %.
Die andere Gruppierung, die Teil des Mehrheitsblocks ist, nennt sich PSOL Semente und besteht aus zwei Strömungen, die zur IV. Internationale gehören (Insurgência und Subverta), sowie Resistência, eine Abspaltung von der PSTU und zugleich die Organisation mit den meisten Delegierten von diesen drei Tendenzen; zusammen erhielt Semente etwa 12 % (hinzu kamen einige Stimmen von viel kleineren Gruppierungen). Semente war bei sämtlichen Abstimmungen das Zünglein an der Waage. Aber bei keiner Abstimmung auf dem Kongress handelten sie unabhängig, auch nicht im Exekutivkomitee.
In unserem Block „Für eine unabhängige PSOL“ ist die MES (Movimento Esquerda Socialista, eine sympathisierende Organisation der IV. Internationale, die 21 % der Delegierten stellte) die größte Kraft. Außerdem gehörten diesem Block an: APS (Ação Popular Socialista, 5 %), Comuna (ebenfalls Mitglied der IV. Internationale, weitere knapp 5 %) und andere Strömungen, die gemeinsam bei der politischen Abstimmung 44 % und bei der Leitungswahl 43 % auf sich vereinigten.
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Aus dem Verlauf des Kongresses ergeben sich wichtige Elemente.
Erstens handelt es sich um eine lebendige Partei, in der es keine konsolidierte, strukturierte und homogene Mehrheit gibt, die die Parteistrukturen leicht beherrschen würde. Die 44 % bedeuteten, dass die MES-Genossin Mariana Riscali weiterhin das Amt der Schatzmeisterin der Partei innehat, den zweitwichtigsten Posten in der Führung der PSOL.
Eine zweite Schlussfolgerung ist, dass es eine Kraft gibt, die nicht an einer sozialistischen Strategie festhält, sondern an der Ausweitung der demokratischen Räume und der Beteiligung an den Institutionen (Primavera und Revolução Solidária), und die weniger als die Hälfte der Partei ausmacht.
Andererseits geht aus der Analyse hervor, dass die Organisationen, die sich selbst als trotzkistisch verstehen, gespalten sind. Die vier Organisationen der Vierten Internationale in Brasilien, die große Bedeutung innerhalb der Weltorganisation haben, vertraten in der entscheidenden Regierungsfrage unterschiedliche Positionen. Subverta und Insurgência sowie Resistência bekennen sich alle weiter zum revolutionären Marxismus. Wir glauben aufrichtig, dass die Politik von Semente ein Kompromiss mit dem Sektor war, der bereits beschlossen hat, in die künftige Regierung einzutreten (Primavera und Revolução Solidária), um die internen Spannungen zu überwinden, innerhalb des Mehrheitsblocks zu verbleiben und eine Spaltung zu vermeiden, indem sie weiter im Leitungsapparat der PSOL verbleibt.
Wir sagen, dass wir es mit einer lebendigen Partei zu tun haben, weil wir glauben, dass das letzte Wort zu dem entscheidenden Problem der Beteiligung an einer zukünftigen Regierung noch nicht gesprochen ist. Und weil wir die große Erwartung, ja fast die Gewissheit haben, dass Semente den Verlockungen einer Regierungsbeteiligung nicht erliegen wird. Dass sich nicht wiederholen wird, was mit Democracia Socialista geschah, der Organisation der Vierten Internationale in Brasilien, die 2003 Ministerposten in Lulas erster Regierung übernahm. Damals gab es programmatische Vorbehalte, so dass ein Sektor [von DS] diese Politik zusammen mit der Leitung der Vierten Internationale ablehnte und sich an dem Aufbau der PSOL beteiligte. Wir hoffen, dass das Banner der politischen Unabhängigkeit erhalten bleibt und dass die PSOL daher neue Entwicklungen und neue Zeiten erleben kann, so dass ihre Identität erhalten bleibt und sie als antikapitalistische Partei weiterbesteht, um weiterhin als Bezugspunkt für den Aufbau von unabhängigen Alternativen und die Weiterentwicklung der bereits bestehenden agieren zu können.
Bei den letzten Absätzen mag es so erscheinen, als handele sich hier um einen Text, der nur für Mitglieder der Vierten Internationale bestimmt ist. Das ist nicht unsere Absicht. Die Avantgarde in Brasilien muss wissen, welche Rolle die einzelnen Organisationen gespielt haben und weiterhin spielen, aber die PSOL besteht nicht nur aus ihnen; sie ist eine breite antikapitalistische Bewegung, und wir setzen darauf, dass das auch weiter so sein wird. Wir brauchen so eine Bewegung und sie sollte in möglichst vielen Ländern aufgebaut werden.
Pedro Fuentes stammt ursprünglich aus Argentinien und war dort in der PST (Partido Socialista de los Trabajadores) aktiv, bis er 1976 nach Brasilien ins Exil gehen musste. Er wurde zu einem führenden Mitglied der 1999 gegründeten MES (Movimento Esquerda Socialista, Bewegung der Sozialistischen Linken), die zunächst eine Strömung innerhalb der Arbeiterpartei (PT), dann von Anfang an Bestandteil der 2004 gegründeten Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) war. Pedro Fuentes war viele Jahre lang Sekretär für internationale Beziehungen der PSOL; er setzte sich für die (Wieder-)Integration der MES in die Vierte Internationale ein, die auf dem 17. Weltkongress (2018) als sympathisierende Organisation anerkannt wurde. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz