João Machado und Gilson Amaro
Unter der rechtsextremen, reaktionären und völkermörderischen Regierung von Jair Bolsonaro haben die sozialen Verwerfungen und politischen Spannungen in Brasilien ein dramatisches Ausmaß erreicht, das durch die Pandemie noch verschärft wurde. Über den Ernst der Lage sind sich die unterschiedlichen Tendenzen der brasilianischen Linken grundsätzlich einig. Aber obwohl die politische Analyse praktisch von allen geteilt wird, unterscheiden sich die daraus gezogenen Schlussfolgerungen beträchtlich – sowohl in Bezug auf die Interpretation der Geschichte als auch auf die taktische und strategische Positionierung, was die aktuelle Lage und mögliche Wege in die Zukunft betrifft.
Nachdem die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Lula im Prozess um die Triplex-Wohnung in Guarujá durch das Gericht in Curitiba aufgehoben und der ehemalige Richter Sergio Moro für befangen erklärt wurde, ist Lula an den Schauplatz (wahl)politischer Auseinandersetzungen zurückgekehrt, was die ohnehin komplexen politischen Konstellationen um einen weiteren Aspekt bereichert hat. Diese Tatsache ist ein entscheidendes Kriterium für jene Genoss*innen in der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), die der These einer von Lula und der Arbeiterpartei (PT) angeführten Linksfront bei der Präsidentschaftswahl anhängen und die sich in der Praxis ausdrücklich für diese idealisierte, um nicht zu sagen sebastianische [1] „Linksfront“ einsetzen.
Für eine ertragreiche politische Auseinandersetzung ist es erforderlich, sich klar auszudrücken. Es liegt schließlich auf der Hand, dass eine „linke Front mit Lula an der Spitze“ keine Überlebenschance hätte. Selbst wenn die PSOL unter Verzicht auf eine eigene Kandidatur ein solches Bündnis mit Lula bzw. mit der PT unter Berücksichtigung der real existierenden Kräfte und ohne sich Illusionen zu machen einginge, würde das auf eine inhaltliche, politische und organisatorische Zustimmung der PSOL zu einem Projekt hinauslaufen, das alles andere als links oder antikapitalistisch wäre, sondern allein der Aufrechterhaltung des Status quo diente.
Seit ihrem Eintritt in die Bundesregierung im Jahr 2002 beruhen die Eckpfeiler der Politik von Lula und der PT auf drei wesentlichen Merkmalen:
dem Streben nach einem Pakt mit dem Großkapital, um sich als dessen Vertreter zu positionieren,
dem Aufbau von Bündnissen mit Teilen der brasilianischen Rechten und der fälschlich so bezeichneten „politischen Mitte“ (um rechnerisch gesehen eine ausreichende Mehrheit für Regierungsvorhaben sicherzustellen), sowie
der Einbindung der Organisationen der Arbeiterklasse und der fortschrittlichen Elemente der Bevölkerung zur Verteidigung einer Logik der Klassenversöhnung.
Diese Linie wurde von der PT-Führung sowohl in öffentlichen Äußerungen als auch bei politischen Versammlungen stets beibehalten und sie kennzeichnet auch die PT-Regierungen in einzelnen Bundesstaaten.
Wir haben diesen Text verfasst, um zur Debatte in unserer Partei beizutragen, mit dem Ziel, die Diskussion zu vertiefen und die Polemik rund um die taktischen und strategischen Fragen der PSOL vor dem Hintergrund der aktuellen Lage auf den Boden der Realität zurückzuholen, denn insbesondere die 2022 bevorstehenden Wahlen, aber auch die Erfahrungen aus den sozialen Bewegungen könnten die PSOL veranlassen, sich mit den Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung zu arrangieren.
Zum Verständnis der Folgen des Nachgebens der PT gegenüber der neoliberalen Logik (was letztendlich zur Entstehung der PSOL geführt hat) muss man den Neoliberalismus als globale Antwort des Kapitals auf die Mitte der 1970er Jahre einsetzende Systemkrise des Kapitalismus begreifen. Im Grunde geht es darum, das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit durch eine Steigerung der Profitrate zu verändern – und zwar durch den Abbau von zuvor erreichten Sozial- und Arbeitsrechten, durch eine Veränderung der Rolle des Staates und durch die verstärkte Ausbeutung der Umwelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Kapitalismus unter der führenden Rolle des US-Imperialismus seine globale Vorherrschaft behauptet. Er sah sich jedoch einer Welle an nationalen Befreiungskämpfen, Kämpfen zur Verteidigung sozialer Errungenschaften sowie Kämpfen mit einer klaren sozialistischen Stoßrichtung gegenübergestellt – auch aufgrund der Stärke der Sowjetunion, die einige Jahrzehnte lang ein Gegengewicht zu den USA bilden konnte. Der Schwung der Revolution von 1917 war zwar durch den Aufstieg der Bürokratie und den Niedergang des Sowjetstaates gebremst worden, doch pflegte die UdSSR ein widersprüchliches Verhältnis zu diversen Volkserhebungen. (In der UdSSR und in den von ihr beherrschten Ländern wurden Aufstände unterdrückt, in anderen Staaten hingegen gelegentlich unterstützt, wobei die sowjetische Führung stets darauf bedacht war, sie unter ihrer Kontrolle zu halten.) Was das sowjetische Modell betrifft, so ist die Analyse von István Mészáros erhellend. Er betont: „Es ist nicht der Bürokrat, der das perverse System eines Kapitalismus sowjetischer Prägung hervorgebracht hat, auch wenn er in seine katastrophalen Machenschaften verstrickt ist. Vielmehr handelt es sich um eine Art ererbtes und neu aufgestelltes postkapitalistisches Kapital, das in der Figur des Bürokraten personifiziert wird, der somit als postkapitalistisches Äquivalent des ehemaligen kapitalistischen Systems in Erscheinung tritt.“ [2]
Die Außenpolitik der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg war in ihren Grundzügen konservativ. Sie akzeptierte die Aufteilung der Welt in Einflusssphären (und letztlich in zwei Blöcke) auf Grundlage der Vereinbarungen zwischen den siegreichen Großmächten (UdSSR, USA und Vereinigtes Königreich). Sie befürwortete die Eindämmung revolutionärer Kämpfe in Ländern, die angeblich dem kapitalistischen Lager angehörten (etwa in Frankreich, Italien und Griechenland), und ließ den Sieg der kommunistischen Parteien in Jugoslawien und China nur widerwillig zu.
Obwohl die UdSSR bestrebt war, revolutionäre Prozesse zu verhindern, konnte sie damals nicht umhin, diese im Fall ihres Siegs zu unterstützen. Die bloße Existenz der UdSSR als Gegengewicht zum kapitalistischen Lager begünstigte solche Prozesse, sodass die kapitalistischen Staaten die „kommunistische Gefahr“ fürchteten und sich gezwungen sahen, Zugeständnisse an ihre Bevölkerung zu machen. Das hat dazu geführt, dass in den kapitalistischen Ländern etwa drei Jahrzehnte lang eine keynesianische und sozialdemokratische Politik verfolgt wurde. Dieses Arrangement hat der Weltwirtschaft das stärkste Wachstum ihrer Geschichte beschert und gleichzeitig Spielräume für „entwicklungspolitische“ Experimente in den abhängigen Ländern eröffnet.
Mit dem Einsetzen der strukturellen Krise des Kapitals, die sich ab den 1970er Jahren in der kapitalistischen Weltwirtschaft abzeichnete, war es damit vorbei. Die großen sozialen Kämpfe der Nachkriegszeit waren abgeflaut (auch wenn es an der kapitalistischen Peripherie nach wie vor zu revolutionären Prozessen kam), die Wirtschaft in den Zentren des Kapitalismus erstarkte in den Jahrzehnten des Aufschwungs und die UdSSR brach unter der Last ihrer Widersprüche und den Grenzen eines Gesellschaftsmodells zusammen, dem es nicht gelungen war, mit dem kapitalistischen Weltwirtschaftssystem und seinem sozio-metabolischen (d. h.: „den Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur betreffenden“) Prozess zu brechen. [3]
Unter der Herrschaft der Bürokratie stagnierte die Wirtschaft des „Sowjetblocks“ und geriet angesichts der kapitalistischen Konkurrenz ins Hintertreffen. Diese Umstände ermöglichten das Aufkommen des Neoliberalismus, einer wesentlich aggressiveren Politik des Kapitals zur Aufrechterhaltung des Systems.
Die neoliberale Politik wurde in den 1970er Jahren von der chilenischen Diktatur vorweggenommen und in der Folge im Vereinigten Königreich unter Margaret Thatcher (ab 1979) und in den USA unter Ronald Reagan (ab 1981) in die Praxis umgesetzt. In den folgenden Jahren wurde der Neoliberalismus in den Staaten des kapitalistischen Zentrums und etwas später auch in den abhängigen Ländern zur herrschenden Doktrin. Heftige Klassenkämpfe sowohl zur Verteidigung erkämpfter Errungenschaften als auch darüberhinausgehende revolutionäre Bewegungen blieben letztlich erfolglos.
In Brasilien hielt die neoliberale Politik in den letzten Jahren der Regierung Sarney Ende der 1980er Jahre Einzug und wurde von den Regierungen Collor, Itamar und Cardoso perfektioniert. Obwohl die PT bis zu ihrer Machtübernahme diese Politik konsequent abgelehnt hatte, verpflichtete sich Lula bereits vor seiner Wahl 2002, nicht „einseitig“ damit zu brechen. Das war die eigentliche Botschaft seines „Briefs an das brasilianische Volk“ („Carta ao Povo Brasileiro”). [4]
Auch nach seiner Wahl versicherte Lula, er werde die wesentlichen Elemente der neoliberalen Politik seiner Vorgänger beibehalten. Neben einer Reihe von neoliberalen Strukturanpassungen ernannte er den Banker Henrique Meirelles (der 2002 als Abgeordneter der PSDB gewählt worden war) zum Präsidenten der Zentralbank, behielt das währungspolitische Instrument der Inflationssteuerung bei (was damals als die „Kunst“ schlechthin einer konservativen Finanzpolitik galt) und kündigte eine Erhöhung des „primären Haushaltsüberschusses“ an.
In diesem neoliberalen Fahrplan, der den „Märkten“ „Garantien“ bietet, ist die „Reform der sozialen Sicherheit“ für den öffentlichen Dienst („reforma da Previdência”) hervorzuheben, die Anfang 2003 angekündigt und noch im selben Jahr beschlossen wurde. Auch wenn sie im Vergleich zu der später von der Regierung Bolsonaro verabschiedeten Reform weniger drakonisch ausgefallen ist, steht sie doch mit ihrem „Geist“ der Rücknahme von Rechten in der gleichen Tradition und stellt ihrerseits einen eklatanten historischen Rückschritt dar.
Im Kampf um die Zustimmung zur Reform von 2003 stießen die Regierung Lula und ihr „PT-Mehrheitslager“ auf erbitterten Widerstand selbst innerhalb der Partei. Daher versuchte man, die Loyalität zur Regierung zu erzwingen – sei es durch Einbindung in die Regierungsverantwortung oder durch Druck. Zu diesem Zweck drohte Lula den Unbotmäßigen mit dem Parteiausschluss – was schließlich auch geschah. Damit lieferte er den endgültigen Beweis für die Bereitschaft der PT, sich der neoliberalen Ordnung zu unterwerfen.
Der Ausschluss der so genannten Radikalen aus der PT am 14. Dezember 2003 war also nicht bloß eine zufällige Entscheidung der PT-Führung oder eine einmalige Maßnahme, sondern von zentraler Bedeutung für den künftigen Aufbau der PSOL. Mit diesem Schritt hatte die PT den Übergang von der Ablehnung der kapitalistischen Ordnung, die sie in ihren Anfangsjahren kennzeichnete, zu ihrer glühenden Verteidigung mit allen Mitteln, die dann zu ihrem Markenzeichen wurde, endgültig vollzogen.
Zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen der PT wurden, wie wir sehen werden, im Rahmen der Marktlogik getroffen und sind Ausdruck einer Neoliberalisierung der Sozialpolitik, besonders unter der Regierung Lula. Die Maxime lautete stets: „Alles für das Großkapital und die Oligarchen, aber nur Brosamen für die brasilianische Bevölkerung in Form von selektiven und eng umrissenen sozialen Maßnahmen.“
Die PT-Regierungen konnten also nicht umhin, eine Politik zu verfolgen, die auch die Interessen der Bevölkerung berücksichtigte. Es ging darum, die Auswirkungen des von der PT praktizierten Neoliberalismus abzuschwächen, um weitere Rückschläge bei Wahlen zu verhindern und die PT an der Macht zu halten. So wurden Maßnahmen zum Abbau extremer Ungleichheit – wie das Programm „Bolsa Família“ (Familienbeihilfe) und die teilweise Wiedereinführung des Mindestlohns – und zur Erfüllung sozialer Forderungen, etwa im Bildungs- und Wohnbereich, beschlossen. Es ging dabei jenseits von wahltaktischen Überlegungen darum, alle Möglichkeiten innerhalb der Grenzen der Marktlogik auszuschöpfen, ohne die neoliberale Ordnung anzutasten oder die herrschenden Klassen zu vergrämen. Zusammenfassend lässt sich diese Haltung der PT als eine Politik des „kleineren Übels“ charakterisieren.
Zug um Zug mit der Umsetzung der merkantilistischen Politik des „kleineren Übels“ wurde die neoliberale Ordnung gestärkt: Sogar die „Einkommenstransferprogramme für die herrschenden Klassen“ wurden übernommen. So wurde etwa der Tilgung der Staatsschulden, einschließlich der Erhöhung des „primären Haushaltsüberschusses“, Priorität eingeräumt, was Lula bereits zu Beginn seiner Regierung angekündigt hatte. Einige Verfechter der PT-Regierungen behaupten, dass diese die „Entwicklung“ des Landes vorantreiben wollten. Diese Beschreibung ist unzutreffend: Ein wesentliches Merkmal des „Developmentalismus“ [5] war nämlich stets das Bestreben, die Industrialisierung zu forcieren, während die PT-Regierungen dem in Brasilien seit Ende der 1980er Jahre vorherrschenden Trend zur Deindustrialisierung und zur Förderung des primären Sektors („reprimarização da economia”), also der Landwirtschaft, treu geblieben sind.
Abgesehen von den wirtschafts- und sozialpolitischen Aspekten der PT-Regierungen wurden zahlreiche rückschrittliche Umweltmaßnahmen ergriffen, etwa die Errichtung großer Staudämme, die Umleitung des Rio São Francisco, die Mega-Bergbauprojekte, der Vormarsch gentechnisch veränderter Organismen (GVO) und die exponentielle Zunahme des Einsatzes von Pestiziden. Zwar ist das alles nicht mit der verheerenden Umweltpolitik unter der Regierung Bolsonaro vergleichbar, aber das Umweltverbrechen der Unternehmen Samarco, Vale und BHP in Mariana (Minas Gerais) – durch einen gebrochenen Staudamm wurde der Bezirk Bento Rodrigues unter giftigem Schlamm begraben und der Fluss Doce verseucht, sodass ganze Ortschaften kein Trinkwasser mehr hatten –, ereignete sich unter einer PT-Regierung. [6]
Die von den PT-Regierungen betriebene Öffnung der Hochschulbildung hat den Zugang zu höherer Bildung für zuvor ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen erleichtert, was sich an der stärkeren Beteiligung schwarzer Männer und Frauen ablesen lässt. Diese Zunahme ist jedoch zum Teil auf die finanzielle Unterstützung für private Bildungseinrichtungen zurückzuführen, die zur Entstehung und Verbreitung der Imperien so genannter „privater Bildungsbarone“ beigetragen hat. Obwohl die Bildungsoffensive einer der Gründe für den Hass ist, den rassistische Elemente der brasilianischen Gesellschaft gegen die PT hegen, ist es nicht zu einer Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ordnung gekommen, sondern vielmehr zu einer Neoliberalisierung der Sozialpolitik.
Es ist Lula selbst, der die Annäherung der PT-Regierungen an die neoliberale Ordnung am treffendsten auf den Punkt gebracht hat. In einem Interview mit Emir Sader und Pablo Gentili mit dem Titel „O necessário, o possível e o impossível“ („Das Notwendige, das Mögliche und das Unmögliche“) [7] sagte er über seine Regierung: „Sie [die Opposition] haben in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Geld gesehen wie unter meiner Regierung. Auch nicht die Fernsehsender, die fast alle pleite waren, oder die Zeitungen, die bei meinem Amtsantritt fast alle bankrott waren. Die Unternehmen und Banken haben noch nie so viel eingenommen, aber die Arbeiter auch nicht.“ Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, fügte er hinzu: „Nun kann der Arbeiter natürlich nur dann gut verdienen, wenn es dem Unternehmen gut geht. Ich kenne in der Geschichte der Menschheit kein einziges Beispiel, wo es dem Unternehmen schlecht geht und die Arbeiter nicht in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden.“ Das ist natürlich kein linker und schon gar kein sozialistischer Standpunkt.
Vor diesem Hintergrund ist der Aufstieg der PSOL nichts weniger als eine historisch notwendige Antwort auf das bedingungslose Festhalten der PT am Neoliberalismus. Dem Ausschluss der Radikalen aus der PT im Dezember 2003 folgte zunächst der Aufbau der Partei, danach am 6. Juni 2004 die offizielle Gründung und am 15. September 2005 die amtliche Registrierung als Partei. Die Korruptionsskandale, das Ende der internen Demokratie in der PT und ihre völlige Abkehr vom Sozialismus bewogen andere linke Strömungen innerhalb der PT, sich der PSOL noch im selben Jahr sowie in den folgenden Jahren anzuschließen.
Die Sozialversicherungsreform von 2003 steht nicht nur exemplarisch für die Unterordnung unter den Neoliberalismus, sondern auch für die Fortführung der widerwärtigsten „Regierungspraktiken“ durch die PT-Regierung. So wurden der Abbau der sozialen Sicherheit und die Rücknahme der Arbeitnehmerrechte durch den Stimmenkauf von Parlamentariern ermöglicht – ein Skandal, der als Mensalão bekannt wurde.
Der nachgewiesene Kauf von Abgeordnetenstimmen veranlasste die PSOL im Jahr 2012 nicht nur zu groß angelegten sozialen Mobilisierungen, sondern auch zur Einreichung einer direkten Verfassungsklage (Ação Direta de Inconstitucionalidade, ADI 4889). Diese stützte sich auf die Tatsache, dass der Gesetzgebungsprozess, im Zuge dessen die Abschaffung der Sozialversicherungsrechte der arbeitenden Bevölkerung beschlossen wurde, nachweislich durch Stimmenkauf beeinträchtigt worden war. ADI beantragte daraufhin die Rücknahme der Reform. Die Klage war zwar juristisch nicht erfolgreich, aber von erheblicher politischer Bedeutung für die Rolle der PSOL bei ihren Auseinandersetzungen mit den Regierungen unter dem Diktat des Kapitals.
Die PSOL hat sich somit unter den PT-Regierungen als radikale Opposition der Linken etabliert. Der Ausschluss der Genoss*innen, die an der Spitze der Stiftung PSOL standen, und die Praxis des Stimmenkaufs, um die Zustimmung zu neoliberalen Projekten zu erhalten, sind zwar historische Fakten, aber sie betreffen nicht nur die Vergangenheit. An der Sozialreform, gegen die wir uns entschieden zur Wehr gesetzt haben, lassen sich nämlich zwei durchgängige strategische Linien der PT ablesen: die Umsetzung der Pläne des Großkapitals, wenn auch nicht immer in dem von ihm gewünschten Umfang, und das Eingehen von Bündnissen mit Teilen der Rechten, um derartige Projekte zu verwirklichen.
Gegen die Kräfte der PT-Regierung wurden erbitterte Kämpfe geführt – und zwar nicht nur auf parlamentarischer Ebene, sondern in den Basisorganisationen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, also im Rahmen der Organisationen der Arbeiterbewegung. Der konsequente Aufbau einer radikal linken Opposition gegen die Unterwerfung des PT-Lagers unter das Kapital und gegen die Strategien der Neuen Republik musste zwangsläufig zu Zusammenstößen führen.
Im Lauf der Ereignisse wurde klar, dass die damalige PT-Regierung einen ideologischen Rückzug und eine weitgehende Annäherung an die herrschende Ordnung vollzogen hatte. Sie war bestrebt, die Partei und ihre Regierung der arbeitenden Bevölkerung als das Maximum des „realistisch Möglichen“ anzupreisen und alle, die sich dieser Logik widersetzten, als Feinde, Sektierer und als „fünfte Kolonne“ der Rechten zu denunzieren. Das ist zwar eine absurde Behauptung, sie erhält jedoch durch die umfassende Bürokratisierung der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen eine gewisse Berechtigung.
Es muss ausdrücklich betont werden, dass unter den PT-Regierungen Gewaltanwendung und Brutalität als Mittel der politischen und sozialen Kontrolle die Regel waren und in den von der PT regierten Teilstaaten weiterhin auf der Tagesordnung stehen. So wurden unsere militanten Straßenaktionen des Öfteren von den Kräften, die unter dem Kommando der PT die neoliberale Ordnung verteidigen, niedergeschlagen – bloß, weil wir die linke Opposition anführten.
Wir hatten immer wieder mit der als gewalttätig beschriebenen Koalition zwischen den „Tukanen“ [8] und der PT zu tun. Zu erwähnen wären etwa die Unterdrückung der Proteste vom Juni 2013 [9], die brutale Repression gegen die Bewegung „Não vai ter copa“ („Es wird keinen Pokal geben“) im Jahr 2014 [10] und die Kriminalisierung sozialer Bewegungen mit der Verabschiedung des Antiterrorgesetzes im Jahr 2016, noch unter der Regierung Dilma. Das sind nur einige Beispiele für die Unterdrückung durch das neoliberale Konsortium, dem die PT heute angehört.
Solange die PT an der Regierung war, wurde sie von der PSOL entschieden bekämpft, aber nachdem sie aus dem Präsidentenamt geworfen wurde, hat sich ihre Rolle auf Bundesebene geändert. In der Opposition hat sie sich gewissermaßen der PSOL angenähert.
Im Gegensatz zur PT zeichneten sich die nachfolgenden Regierungen durch eine unmissverständlich gegen die Bevölkerung gerichtete Politik aus. Sie strebten anders als die PT nicht einmal vordergründig eine Versöhnung zwischen Kapital und Arbeit an. Der Ruf der Bourgeoisie nach einem weit härteren Kurs zum Abbau von Rechten war immer lauter geworden, und die PT-Regierungen waren offensichtlich nicht in der Lage, diese Forderungen zu erfüllen. Genau aus diesem Grund unterstützte die große Mehrheit der herrschenden Klasse die Amtsenthebung von Dilma Rousseff. Mit der so genannten „Brücke in die Zukunft“ der PMDB leitete Präsident Temer [11] eine weltweit beispiellose Verfassungsänderung ein: Erklärtes Ziel war unter anderem die gesetzliche Verankerung einer „Ausgabenobergrenze“, um unter Missachtung der Lebensbedingungen der Bevölkerung die Interessen des Finanzkapitals zu bedienen. Die aktuelle Regierung Bolsonaro strebt ihrerseits danach, diese Ziele mit einem eindeutig faschistischen politischen Programm zu verknüpfen.
Die Analyse der Ursachen und Ursprünge des Staatsstreichs von 2016 erfolgt häufig aus der Perspektive der PT und auf eine Art, die der Realität nicht entspricht. Einige der fortschrittlichen Strömungen haben diese Analyse unhinterfragt übernommen, indem sie die lückenhafte und im Grunde falsche Erzählung aufgreifen, dass wir vor einem „konservativen Aufschwung“ stehen. Dabei handelt es sich um eine oberflächliche Interpretation, welche die politischen Rahmenbedingungen der Offensive des Kapitals gegen die Arbeit ausblendet und verabsäumt, sich mit den Widersprüchen, dem rückschrittlichen Charakter und den Grenzen des PT-Projekts auseinanderzusetzen. Anstatt zu erklären, warum die herrschende Klasse Brasiliens der PT-Regierung den Rücken gekehrt hatte (sie hatte allmählich begriffen, dass der von der PT praktizierte neoliberale Kurs aufgrund der sich verschärfenden Krise aus ihrer Sicht unzureichend war), schrieben die Anhänger*innen des „Progressismus“ den PT-Regierungen eine „uneingeschränkt positive“ Rolle bei der Verteidigung der Rechte der Bevölkerung zu, was einer Verschleierung der Realität gleichkommt.
So wird etwa außer Acht gelassen, dass einer der Hauptgründe für den Verlust der Unterstützung, den Rousseff unmittelbar nach den Wahlen von 2014 hinnehmen musste, ihr „Zugpferd“ in Sachen Wirtschaft war. Noch vor ihrem Amtsantritt für ihre zweite Amtszeit hatte sie neben einschneidenden Haushaltskürzungen angekündigt, Joaquim Levy, einen entschieden konservativen Ökonomen, zum Finanzminister zu machen.
Natürlich hat die Tatsache, dass Lava Jato (Operation Autowäsche) [12] eine groß angelegte Kampagne gegen die PT-Regierungen in die Wege leitete, zum Popularitätsverlust der Regierung beigetragen, aber Dilmas „Wahlbetrug“ (sie tat kurz nach ihrer Wahl genau das, von dem sie behauptet hatte, das käme für sie nie in Frage, „selbst wenn die Kuh hustet“) war nicht weniger relevant für den Aufstand von Teilen der Bevölkerung, die zuvor noch die PT unterstützt hatten.
Die Amtsenthebung Dilmas war also nicht nur die Folge einer Verschwörung der Bourgeoisie mit politisch rechts stehenden Teilen der Justiz und der Staatsanwaltschaft, mit den Mainstream-Medien und dem Kongress (wobei viele Abgeordnete Dilma bis zum Jahr 2014 unterstützt hatten). Natürlich gab es diese Verschwörung, und sie wurde dadurch begünstigt, dass sich die PT-Regierungen in ihrer Art der Machtausübung, der Wahlfinanzierung und des Stimmenkaufs nicht allzu sehr von den traditionellen Praktiken der brasilianischen Bourgeoisie unterschieden.
Eine wesentliche Rolle spielte jedoch die sich verschärfende Krise, die zum einen das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik war, die auf der Illusion beruht, dass alle Klassen in einer kapitalistischen Wirtschaft – und das in einer abhängigen kapitalistischen Wirtschaft! – als Sieger hervorgehen können, und die zum anderen durch das Nachgeben gegenüber dem Druck der Bourgeoisie, rigide Haushaltskürzungen in einer sich bereits in der Rezession befindlichen Wirtschaft vorzunehmen, ausgelöst wurde. Aber einen noch größeren Einfluss hatte vermutlich die von den PT-Regierungen von Anfang an verfolgte Demobilisierung der Arbeiter- und Basisbewegungen, die aufgrund der Enttäuschung über Dilmas Kehrtwende nach den Wahlen 2014 noch zugenommen hatte. Die Verschwörung der Bourgeoisie gegen die PT fiel somit auf fruchtbaren Boden und stieß auf wenig Widerstand seitens der PT und der Basisbewegungen.
Da sich die PSOL und die PT nach dem Staatsstreich von 2016 gemeinsam in der Opposition wiederfanden, war eine gewisse Annäherung zwischen den beiden Parteien unvermeidlich. Es galt, konkrete Kämpfe gegen Temer/Bolsonaro zu führen, und so musste die PT, die als Oppositionspartei auf Bundesebene von ihren ehemaligen Verbündeten geschnitten wurde, einen Richtungswechsel vollziehen. Diese Neuorientierung der PT bedeutet jedoch weder einen Bruch mit der Unterordnung der Partei unter das neoliberale Diktat noch eine Abkehr von der politischen Praxis, die Arbeiterklasse mit ihrem Kurs der Klassenversöhnung ideologisch zu schwächen. Vielmehr treten die Widersprüche der PT, die einerseits neue, noch härtere „Reformen“ ablehnt, aber andererseits nach wie vor Bündnisse mit denselben bürgerlichen und „volksfeindlichen“ Gruppierungen anstrebt, offen zutage.
Im Gegensatz dazu sprach sich die PSOL gegen die Amtsenthebung von Dilma Rousseff aus, da sie damit nicht nur einen Staatsstreich, sondern auch eine Verschärfung der antisozialen Politik kommen sah. Im Jahr 2018 unterstützte die PSOL im zweiten Wahlgang Haddad, den Kandidaten der PT, und mobilisierte für ihn, um sicherzustellen, dass die Stimmen nicht an Bolsonaro gingen. Ohne Zweifel müssen wir mit allen Parteien und gesellschaftlichen Strömungen, die sich zur Bekämpfung der neoliberalen bzw. rechtsextremen Politik bekennen, Aktionseinheiten eingehen. Dazu gehört auch das gemeinsame Vorgehen mit der PT und mit anderen Kräften, die sich gegen die Zerschlagung der staatlichen Strukturen zur Wehr setzen. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit jenen Parteien unumgänglich, die zwar die neoliberale Politik auf Bundesebene bekämpfen, aber in den Bundesstaaten, wo sie regieren, genau dieselbe Politik verfolgen, namentlich die PT, die PCdoB [13] und die PSB [14], die in ihren Staaten „Reformen“ in die Wege leiten, die Bolsonaros bundesweiter „Rentenreform“ um nichts nachstehen.
Die widersprüchlichen Positionen der PT, die zwar Bolsonaros Politik auf Bundesebene bekämpft, aber in den von ihr regierten Bundesstaaten und Gemeinden derselben ultraliberalen Logik folgt, zeigen klar, dass die Opposition der PT gegen Bolsonaro keine grundsätzliche ist, sondern nur bestimmte Aspekte seiner Politik betrifft. Was die Grundpfeiler des neoliberalen Diktats angeht, unterscheiden sich die PT und die Parteien der Bourgeoisie nicht wesentlich voneinander, sondern nur in Nuancen hinsichtlich Intensität und Tempo sowie Art und Weise der Umsetzung. Da die PT an der Versöhnung der Interessen der Bevölkerung mit der kapitalistischen Herrschaft festhält, ist es nach ihrer Ansicht nach wie vor möglich, die von der Bourgeoisie geforderte antisoziale Politik abzumildern und Spielräume für das „kleinere Übel“ zu eröffnen.
Natürlich darf sich die PSOL durch die bloße Tatsache, dass die PT auf Bundesebene in die Opposition geschickt wurde, nicht dazu verleiten lassen, ihre Analyse des Charakters der PT-Regierungen und der PT als Partei (sowie ihrer Verbündeten) zu revidieren. Dies gilt umso mehr, als die PT alle Maßnahmen, die sie während ihrer Regierungszeit getroffen hat, uneingeschränkt verteidigt. Allerdings betreiben Teile der PSOL eine Art Geschichtsrevisionismus, indem sie auf dieselben Argumente zurückgreifen, die von der PSOL zu Recht bekämpft wurden, als sie die linke Opposition gegen die Regierungen von Lula und Dilma angeführt hatte.
Einige Strömungen in unseren Reihen bemühen sich, die Geschichte umzuschreiben und die kritische Bewertung der PT-Regierungen abzuschwächen, die von der PSOL seit ihrer Gründung vorgenommen wurde. Ob aus Unwissenheit oder mit Absicht bemühen sie sich um eine getrennte Betrachtung des „Erbes der PT“ und der daraus folgenden Verschärfung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise in Brasilien. Ein solcher Versuch, die PT von der Verantwortung frei zu sprechen, widerspricht nicht nur in eklatanter Weise den Tatsachen, sondern hat auch schwerwiegende praktische Konsequenzen.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der brasilianischen Geschichte, insbesondere mit der jüngsten Epoche, einschließlich der PT-Regierungsperioden, ist für das Verständnis des Aufstiegs von Bolsonaro unerlässlich, denn sie liefert uns wesentliche Argumente für den Aufbau einer echten Alternative: der Vorbereitung einer Offensive der Arbeiterklasse gegen die Kräfte des Kapitals.
Der Ernst der Lage nach dem Wahlsieg von Bolsonaro – der nicht nur reaktionäre Vorhaben mit nazifaschistischem Einschlag verfolgt, sondern auch ausdrückliche Staatsstreichabsichten hegt – hat Teile der PSOL dazu bewogen, die Dringlichkeit der Einheit im antifaschistischen und demokratischen Kampf und gegen Bolsonaros Völkermord mit der Verteidigung des Status quo zu verwechseln und sich Wahlprojekten einer vermeintlich linken Front oder gar eines breit gefächerten „demokratischen“ oder „progressiven“ Lagers anzuschließen.
Einige Positionen innerhalb der PSOL erklären sich aus einer diffusen Wahrnehmung der politischen Lage bzw. aus einer Fehlinterpretation der Ursachen für den Aufstieg der extremen Rechten (nicht nur in Brasilien, sondern weltweit). Dieser ereignete sich schließlich nicht unabhängig von den Folgewirkungen des Neoliberalismus und der strukturellen Krise des Kapitals. Andere Positionen zeugen von einem falschen Verständnis der Tradition der Einheitsfronttaktik, die in den 1920er und 1930er Jahren von den konsequentesten Teilen der Kommunistischen Internationale verfolgt wurde.
Eine Erfolg versprechende Einheitsfronttaktik zielt zweifellos darauf ab, die Bedingungen für die Auseinandersetzung mit einem gemeinsamen Feind (wie dem Bolsonarismus und dem Neoliberalismus) zu verbessern. Dazu gehört aber auch – und sei es nur, um diesen Kampf effizienter zu organisieren – eine politische Grundsatzdebatte zwischen den revolutionären Kräften einerseits und den reformistischen und klassenversöhnenden Teilen der Bewegung andererseits. Eine politische Richtungsdebatte ist immer auch eine Gewissensfrage: Es ist unumgänglich, die Wahrheit zu sagen, Kritik zu formulieren, wann immer es angebracht ist, und danach zu streben, das politische Bewusstsein der Massen zu fördern, anstatt Illusionen zu nähren oder zuzulassen, dass die Erfahrungen der Vergangenheit in Vergessenheit geraten.
Leider zeichnen sich weite Teile der brasilianischen Linken durch einen oberflächlichen, um nicht zu sagen ahistorischen Zugang aus. Beim Neoliberalismus handelt es sich eben nicht bloß um eine „wirtschaftliche Angelegenheit“, sondern um einen sozialen Paradigmenwechsel globalen Ausmaßes mit weitreichenden politischen und ideologischen Folgen. Das hat bereits Margaret Thatcher, die Vertreterin des britischen Neoliberalismus, mit ihrem berühmten Ausspruch zum Ausdruck gebracht: „Die Wirtschaft ist der Weg, aber das Ziel ist es, das Herz und die Seele zu verändern.“ [15]
Der Neoliberalismus ist seinem Wesen nach antidemokratisch. Sein Ziel ist die Schwächung der Arbeiterklasse und ihrer Kämpfe. Somit ist der Aufschwung der extremen Rechten in ihrer aktuellen Spielart zweifellos das Ergebnis der herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Um der faschistischen Bedrohung zu begegnen, ist es daher unumgänglich, dem Neoliberalismus die Stirn zu bieten, anstatt sich mit denjenigen Kräften zu arrangieren, die ihn vertreten.
Um weitere politische Irrtümer zu vermeiden, wäre also zwischen einer Aktionseinheit gegen Bolsonaro und andere Faschisten (eine Einheit, die man rund um konkrete Themen wie Amtsenthebung, Impfstoffe, Ressourcen für Gesundheit und Bildung sogar mit liberalen „demokratischen“ Kräften eingehen kann) und einem programmatischen Bündnis zur Durchsetzung gemeinsamer Regierungsvorhaben mit neoliberalen Kräften (mit denen die PT derzeit verbündet und denen sie von ihrem Charakter her zuzurechnen ist) zu unterscheiden.
Es wäre der Sache dienlicher, wenn einzelne Strömungen der Partei aufhörten, über ein Zusammengehen mit der PT in einer vermeintlich „linken Front“ zu phantasieren (ein Argument, das jeglicher sachlichen und historischen Grundlage entbehrt), und sich stattdessen fragten, wie ein Programm zur Überwindung der Krise und der politischen und sozialen Voraussetzungen, die den Aufstieg der extremen Rechten in Brasilien ermöglicht haben, aussehen könnte – also ein Programm, mit dem wir eine glaubwürdige Antwort auf die Krise hätten.
Ein schwerer Fehler wäre es hingegen, würde sich die PSOL dem Lager des Status quo anschließen, was historisch gesehen die Krise verschärfen und der Stärkung der extremen Rechten in einem möglichen Post-Bolsonaro-Szenario Vorschub leisten würde. Gefragt ist vielmehr ein Programm, das unmissverständlich mit dem Neoliberalismus bricht, um im Zuge von sozialen Mobilisierungen radikale Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft einzuleiten. Das hat nicht zuletzt die Debatte rund um die Kandidatur von Glauber Braga gezeigt, der 2016 im ersten Wahlgang für das Amt des Präsidenten der Republik von der PSOL aufgestellt wurde.
Allerdings stellen mehrere Tendenzen innerhalb der PSOL die Notwendigkeit einer eigenen Kandidatur für den ersten Wahlgang der für 2022 geplanten Präsidentschaftswahl in Frage. Es gibt mindestens zwei Argumentationslinien, warum die PSOL Lula bereits im ersten Wahlgang unterstützen sollte (wenn man einmal von einem dritten Argument absieht: der „Unterstützung mit einem linken Programm und mit Bündnissen im Lager der Arbeiterklasse“. Wir gehen davon aus, dass diese Annahme Ergebnis einer Selbsttäuschung und nicht einmal ansatzweise realistisch ist.)
Das erste Szenario wird vor allem von der Tendenz Primavera Socialista und anderen Strömungen, die der „PSOL Popular“-These [16] anhängen, vertreten. Demnach sollte die PSOL nicht nur bereits im ersten Wahlgang eine Empfehlung für Lula aussprechen, sondern sich im Fall seines Wahlsiegs auch an der künftigen Regierung beteiligen. Das wäre eine Neuauflage der altbekannten von linken Strömungen innerhalb der PT gehegten Illusion, dass es möglich sei, einer Regierung Lula „von innen“ die Stirn zu bieten. In diesem Fall würde sich die PSOL an einer Regierung der Klassenversöhnung beteiligen und ihre gesamte Geschichte bis zum heutigen Tag sowie alle Opfer, die für den Aufbau der Partei gebracht wurden, würden in Vergessenheit geraten. Die PSOL würde sich in eine „Partei der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung“ verwandeln.
Das zweite Szenario wird von der Resistência-Tendenz und anderen Strömungen im Rahmen der „PSOL Semente“-These [17] bevorzugt, der zufolge die PSOL nach ihrer Unterstützung für Lula im ersten Wahlgang von der Beteiligung an einer künftigen Regierung der Klassenversöhnung, welche die ausgebeuteten Klassen und unterdrückten Bevölkerungsschichten unter das Diktat des Kapitals zwingt, Abstand nehmen sollte. In diesem Fall würde die PSOL trotz ihrer Unterstützung für Lula im ersten Wahlgang nach einem allfälligen Wahlsieg gegen eine Regierung unter der Führung von Lula arbeiten. Dieser verqueren Logik liegt die Einschätzung zugrunde, dass die arbeitenden Massen bzw. diejenigen Teile der Bevölkerung, die davon ausgehen, dass es für einen Sieg über Bolsonaro notwendig ist, Lula zu wählen, nicht verstehen würden, warum die PSOL Lula nicht bereits im ersten Wahlgang unterstützt.
Diese Argumentationslinie ist alles andere als schlüssig. Wenn dem tatsächlich so wäre, müsste man sich nämlich fragen, welchen Sinn eine Weigerung, sich (von Anfang an) an der Regierung zu beteiligen, hätte. Weit logischer wäre es doch, die Position jener Kräfte innerhalb der PSOL, die einen unabhängigen Klassenstandpunkt vertreten, von vornherein klipp und klar darzulegen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
Wenn wir die Teilnahme an einer künftigen Regierung, die unserer Ansicht nach eine der Klassenversöhnung und des Neoliberalismus sein wird, ausschließen, dürfen wir auch im ersten Wahlgang keinen Kandidaten unterstützen, der diese Linie vertritt. Unabhängig von den Beweggründen der Befürworter dieser These würde das nämlich auf eine Komplizenschaft der PSOL hinauslaufen. Somit geht dieses Argument ins Leere, denn die Ausgangsthese lässt eine solche Schlussfolgerung nicht zu.
Wir sollten unsere Meinungsverschiedenheiten in aller Ruhe diskutieren, aber gleichzeitig unsere Vorstellungen von einer Regierungsform, die für Brasilien am besten wäre, auf den Tisch legen. Dabei sollten wir klarstellen, dass die PSOL, falls sie es nicht in den zweiten Wahlgang schafft, gegen Bolsonaro stimmen wird – entweder durch einen Wahlaufruf für Lula oder für einen anderen Kandidaten. Klare Worte zur PT und zu ihren bisherigen Regierungen würden mehr zur Aufklärung und zu einer Stärkung des politischen Bewusstseins der Wählerschaft beitragen als die Unterstützung für ein politisches Projekt des Großkapitals oder für den Messianismus von Lula.
Darüber hinaus wird die Notwendigkeit, Bolsonaro so schnell wie möglich loszuwerden, immer dringlicher, da er bereits angekündigt hat, das Ergebnis der Wahlen nicht anzuerkennen. Zwar hat er nach dieser ausdrücklich gesetzwidrigen Drohung vom 7. September zurückgerudert und die Einhaltung der Verfassung versprochen. Aber wer glaubt, er habe es ernst gemeint, verdient den großen Preis der Selbsttäuschung, denn dieser Rückzieher stellt keine politische Kehrtwendung dar, sondern ist das Ergebnis taktischer Überlegungen.
Bolsonaro wird mit Sicherheit seine Angriffe auf die staatlichen Institutionen fortsetzen, und wenn er nach all den Massenverbrechen, die er bereits begangen hat und die er in den kommenden Monaten noch begehen wird, immer noch im Amt ist, kann für einigermaßen korrekt verlaufende Wahlen nicht garantiert werden. Wenn wir uns das vor Augen halten, gelangen wir zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass es, um Bolsonaro sofort oder in den kommenden Monaten zu bezwingen, kein verwaschenes Wahlbündnis braucht, sondern eine Einheitsfront auf Klassenebene sowie eine breit aufgestellte Aktionseinheit.
Die Linke und die Basisbewegungen sind gefordert, Bündnisse auf Klassenebene zu schließen und breitere Aktionseinheiten sowie Zusammenschlüsse in Bezug auf einzelne Themen zu bilden. Aber sie sollten keine programmatische Einheit mit Parteien eingehen, die sich der Versöhnung der Klassen und der Aufrechterhaltung des Diktats des Kapitals und der Oligarchen verpflichtet fühlen und gleichzeitig bemüht sind, die verheerenden Auswirkungen einer solchen Politik einzudämmen. Die Idealisierung der „Einheit“ zeugt von einem mangelnden Verständnis und hat zu zahlreichen Missverständnissen in den politischen Debatten der brasilianischen Linken beigetragen.
Eine Regierung der Klassenversöhnung vertritt nicht die Interessen der Bevölkerung, sondern verhandelt mit der herrschenden Klasse, um aus wahltaktischem Kalkül einen gewissen Fortschritt zu ermöglichen. Eine solche Regierung schwächt die unteren Schichten der Bevölkerung und hindert sie daran, ihre berechtigten Interessen gegen die herrschenden Klassen zu verteidigen. Und sie verbreitet die Illusion, dass im Kapitalismus (selbst in einem abhängigen Kapitalismus wie dem brasilianischen) „alle gewinnen können“, obwohl unter diesen Umständen die Arbeiterklasse nur verlieren kann.
Ein gemeinsames Programm der PSOL mit jenen Parteien, die eine Linie der Klassenversöhnung eingeschlagen haben, wäre dem Verzicht auf einen unabhängigen Klassenstandpunkt gleichzusetzen, also dem Verzicht auf die Verteidigung der grundlegenden Interessen der Ausgebeuteten und Unterdrückten, indem man mit der Bourgeoisie gemeinsame Sache macht, um genau diese Forderungen nicht zu erfüllen. Hier geht es nicht so sehr um Fragen der Einheit der PSOL mit anderen Kräften, sondern vielmehr um Fragen der Übereinstimmungen im politischen Programm, was jedoch durch die uneingestandene Logik der „nationalen Rettung“ verschleiert wird.
Es ist Aufgabe der PSOL, eine Alternative nicht nur zum Bolsonarismus, sondern auch zur Politik des mit ihm verbündeten Großkapitals aufzuzeigen. Bolsonaro ist bloß Ausdruck der Krise. Aber wer die gesamte Krise auf Bolsonaro reduziert, verkennt das Ausmaß der Gefahr, die von der extremen Rechten und dem sich zuspitzenden wirtschaftlichen und sozialen Chaos ausgeht. Weit davon entfernt, lediglich der Selbstbestätigung der PSOL zu dienen, würde in der aktuell schwierigen Situation das Bestehen auf einer eigenen Kandidatur und auf einer linken Front, die diesen Namen auch verdient, die Bedeutung des politischen Programms und der historischen Aufbauarbeit der PSOL unterstreichen.
Die dringend erforderliche Einheit zur Absetzung Bolsonaros und zur Verhinderung einer neuerlichen Bolsonaro-Regierung (zumal die PT in dieser Angelegenheit wenig konsequent war) darf nicht mit dem Aufgehen der PSOL in einem Programm und in einer Regierungslogik verwechselt werden, die weder mit der Logik der Überausbeutung durch das Kapital bricht noch die im System verwurzelte soziale Segregation in Brasilien antastet. Die Verteidigung der Demokratie darf man nicht mit der Verteidigung des Status quo verwechseln.
Wie wir gezeigt haben, ist die PSOL aufgrund der Verwandlung der PT in eine Partei zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung entstanden, was spätestens dann nicht mehr zu übersehen war, als die PT die Regierung des Landes übernahm. Die PSOL musste mit ihrem Aufbau zu einer Zeit beginnen, als die PT noch viele Hoffnungen geweckt hatte, und sie hatte zahlreiche schwierige Phasen zu überwinden. Trotzdem konnte sie sich, wenn auch langsam, weiterentwickeln. Dieser Weg wäre weiter zu verfolgen, aber wir dürfen nicht riskieren, das bereits Erreichte zu verlieren. Daher darf sich die PSOL nicht der PT und ihrem Kurs unterordnen, der den politischen Handlungsspielraum auf jene Bereiche beschränkt, wo ohne Bruch mit dem Kapitalismus und ohne Auseinandersetzungen mit der Bourgeoisie vereinzelte Verbesserungen möglich sind. Unsere Partei kann sich nicht jenen anschließen, für die es keine Alternative zur Logik des Kapitals gibt.
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Alle Anzeichen sprechen dafür, dass Lula von allen Kandidaten die besten Chancen auf einen Wahlsieg hat – sofern die Wahlen einigermaßen korrekt ablaufen. Die Umfragen deuten darauf hin, dass er bereits aus dem ersten Wahlgang als Sieger hervorgehen könnte. Ein solcher Sieg über Bolsonaro würde von Teilen der Gesellschaft fürs Erste vermutlich positiv aufgenommen werden. Angesichts der katastrophalen Politik von Bolsonaro wäre es auch nicht verwunderlich, wenn ein vorläufiger Vergleich positiv ausfiele, doch die Verschärfung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise erlaubt keine Atempause. Da ein Ausweg aus der Krise im Rahmen der kapitalistischen Ordnung nicht möglich ist, werden die Kräfte, die keinen politischen Bruch wünschen, gezwungen sein, einzelne Korrekturen vorzunehmen, und die Arbeiterklasse weiterhin vor den Kopf stoßen.
Folglich wird der Handlungsspielraum einer Regierung, welche die Linie der PT verfolgt und sich auf deren Bündnispartner stützt, bei den unumgänglichen Auseinandersetzungen mit dem Bolsonarismus, der extremen Rechten und dem Neoliberalismus stark eingeschränkt sein. Die autonome Organisation aller vom Kapital ausgebeuteten und unterdrückten Bevölkerungsschichten ist noch nicht so weit gediehen, dass sie eine unmittelbare Alternative auf politischer Ebene darstellen könnte, und muss erst aufgebaut werden. Aber dieses Vorhaben – also eine Bewegung „von unten“ auf Grundlage der Klasseneinheit – duldet keinen Aufschub. Daher müssen wir den Aufbau einer außerparlamentarischen Kraft unverzüglich vorantreiben, dürfen dabei aber nicht den Fehler begehen, bei den Wahlen 2022 auf eine Kandidatur und ein eigenes politisches Programm zu verzichten.
Für die PSOL ist die inhaltliche Diskussion eine von Wahldebatten unabhängige Notwendigkeit. Die Erarbeitung eines politischen Programms ist unerlässlich für die Vorbereitung einer unabhängigen Organisation, die ihre Stärke aus den praktischen Kämpfen an den verschiedensten Schauplätzen schöpft. Wir dürfen also unser Programm nicht mit dem Zeitplan für die Wahlen verwechseln, wobei die Beteiligung an den Wahlen Bestandteil eines sozialistischen Aufbauprogramms sein muss.
Unsere Ideen und Konzepte tragen dazu bei, den engen Handlungsspielraum der PT zu verlassen und die von den herrschenden Klassen und dem Kapitalismus gesetzten Grenzen zu überwinden. Dabei sind Massenmobilisierungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten als Hauptantriebskraft zu betrachten (und nicht als Bedrohung, die es klein zu halten gilt, wie es unter der PT gang und gäbe war). Die PSOL hat sich zu einem wichtigen Faktor im Kampf gegen die kapitalistische Ordnung entwickelt. Diese Haltung gilt es beizubehalten. Die Rolle der PSOL als radikal linke Opposition ist ein Schlüsselfaktor – unabhängig davon, welche Regierung im Jahr 2022 ihr Amt als Bewahrerin der Ordnung antreten wird. Die Erarbeitung und Umsetzung eines antikapitalistischen Programms sowie die Vorbereitung einer eigenen Kandidatur auf Basis dieses Programm sind unsere vordringlichen Aufgaben im Wahlkampf.
Bolsonaro, die extreme Rechte und alle neoliberalen Kräfte müssen so schnell wie möglich besiegt werden. Daher muss die PSOL einen Pol gegen die kapitalistische Ordnung bilden, indem sie ihre Rolle als sozialistische Partei wahrnimmt und die Einheit der Arbeiter- und Basisbewegungen durch die Einnahme eines unabhängigen Klassenstandpunkts und den Aufbau einer eigenständigen Organisation vorantreibt.
Gilson Amaro ist Vorsitzender der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) im Bundesstaat São Paulo und Mitglied des Koordinationsausschusses des Antikapitalistischen Kollektivs (Coletivo Anticapitalistas). João Machado ist Mitglied der nationalen Koordination der Comuna-Tendenz der PSOL (die Teil der brasilianischen Sektion der Vierten Internationale ist), ehemaliges leitendes Mitglied der Arbeiterpartei PT und Mitglied des Exekutivbüros der Vierten Internationale. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz