Theorie

Drei Wege zum Sozialismus?

Eine zukünftige sozialistische Gesellschaft wird entscheidend geprägt sein von veränderten Produktionsverhältnissen und Verteilungsstrukturen. Drei perspektivische Modelle werden hier vorgestellt und diskutiert.

Gonzalo Bárcena

Sind wir uns im Klaren darüber, was wir wollen? Haben wir als sozialistische Aktivist*innen eine Vorstellung davon, wie sich unsere Ideen zum Aufbau einer radikal anderen Welt in die Praxis umsetzen lassen? Können wir, ohne zu zögern, die Frage beantworten, wie die Gesellschaft, für die wir uns einsetzen, aussehen soll? Wird die Wirtschaft weiterhin Marktmechanismen unterworfen sein? Werden wir ohne Geld auskommen? Welche Institutionen werden das öffentliche Leben regeln? Oder sind wir etwa gar nicht in der Lage, den gedanklichen Rahmen der bisherigen historischen Erfahrungen zu verlassen?

Fest steht, dass wir in deprimierenden Zeiten leben: in einer Epoche, die sich durch fehlendes historisches Bewusstsein auszeichnet und uns mangels absehbarer Aussichten auf radikale Veränderungen zu einem Leben in einer ewigen Gegenwart verdammt. Und wenn auch Daniel Bensaïd keine „Krise der Utopie” diagnostiziert, „sondern eine Krise der konkreten Inhalte der Ideale” [1], ist es nicht einfach von der Hand zu weisen, dass wir es in Wirklichkeit mit einer Dopplung der beiden genannten Krisen zu tun haben. Wie dem auch sei, seine Überlegungen halten uns einen Spiegel vor und stellen uns vor eine der dringlichsten Herausforderungen für Revolutionäre, die in einer nicht-revolutionären Situation leben: vor die Notwendigkeit, überzeugende Alternativen zu entwerfen.

 

Suche nach dem Weg zum Sozialismus

Detail eines Frescos von Diego Rivera

Das Fehlen von Zukunftsvorstellungen hat Konsequenzen für eine Politik, die den Anspruch hat, die Gesellschaft zu verändern. Daher ist es an der Zeit, die Auffassung von der Gegenwart als leerer Zeit zu überwinden und „die schlummernde Fähigkeit wiederzubeleben, eine Zukunft auszudenken und zu verwirklichen, die mehr als eine kosmetische Operation an der bestehenden Gesellschaft ist”, wie Martín Arboleda (2021: 19) es ausdrückt. [2] Und es reicht nicht, das Mantra, die Linke habe kein Projekt, bis zum Überdruss zu wiederholen, denn eine solche Analyse wäre banal, hätte keinen Aufforderungscharakter und würde bloß die Aufgabe, ein Projekt zu entwickeln, das diesen Namen verdient, an andere delegieren. Aus diesem Grund lehnen wir eine ahistorische Sichtweise ab und stellen uns der Notwendigkeit, gemeinsam die Grundzüge eines Projekts zu entwerfen, das die historischen Erfahrungen wie auch die aktuellen Probleme, mit denen wir, die beherrschten Klassen, zu kämpfen haben, berücksichtigt. Es gilt, unser emanzipatorisches Ideal konkret zu benennen, um die Wurzel unseres Unglücks, die kapitalistische Produktionsweise, zu beseitigen.

Obwohl die Lage hoffnungslos scheint, gibt es mehrere Ansätze zu deren Überwindung. Daher werden in diesem Text einige überlegenswerte Ausnahmen von der allgemein verbreiteten Apathie vorgestellt und etliche relevante Quellen angeführt, in denen sich Konzepte zur zukünftigen Planung und Organisation der Wirtschaft finden. Für die vertiefende Auseinandersetzung mit diesen vielversprechenden Diskussionsbeiträgen wird auf die Bibliographie am Ende dieses Texts verwiesen.

Unabhängig davon, ob man mit ihren Positionen einverstanden ist oder nicht, arbeitet eine Reihe von Autoren seit Jahrzehnten an der Entwicklung origineller theoretischer Modelle, die andeuten, wie sich der Produktionsprozess und damit die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Lebens in einer postkapitalistischen Wirtschaft gestalten lassen. Das heißt aber nicht, dass sie ein in sich abgeschlossenes Gesellschaftsmodell vorlegen, das theoretisch bis ins letzte Detail durchdacht ist. Vielmehr skizzieren sie einige Richtlinien, denen Produktion, Verteilung und Konsum folgensollten. Und obwohl es in der Natur abstrakter Modelle liegt, das auszublenden, was für Jodi Dean und Kai Heron [3] das Problem unserer Zeit ist, nämlich der Übergang (oder anders gesagt, die Revolution), gehören diese aktuellen Denkansätze dennoch zu den wertvollsten Beiträgen, um über unsere Zukunft nachzudenken.

Hier werden lediglich die drei ausgereiftesten und bekanntesten Modelle vorgestellt [4]: das der wirtschaftlichen Demokratie von David Schweickart, das Parecon-Modell der partizipativen Wirtschaft von Michael Albert und Robin Hahnel und der Cyberkommunismus von Paul Cockshott und Allin Cottrell.


Ist so eine Debatte überhaupt sinnvoll?


Angesichts dieser drei Ansätze lohnt es sich, einige Überlegungen anzustellen, wie man am besten an die Debatte herangehen kann. Zunächst einmal sollten wiruns vor Augen halten, dass wir, wie Marx und Engels (1846) [5], „… Kommunismus die wirkliche Bewegung [nennen], welche den jetzigen Zustand aufhebt. “Damit meinen wir nicht, dass die Aufgabe von Revolutionären darin besteht, der organisierten Arbeiterschaft ein Ideal, ein fix und fertiges Programm, das mit ihrer eigenen politischen Praxis wenig zu tun hat, aufzudrängen. Das ist jedoch kein unauflösbarer Widerspruch zu den in diesem Artikel vorgestellten Lösungsansätzen, auch wenn in Hinblick auf unsere unmittelbare sozialistische Zukunft jedes dieser Modelle Kritikpunkte aufweist.

Tatsächlich wurde von verschiedenen Seiten versucht, mehr oder weniger ausgefeilte Modelle für eine funktionierende postkapitalistische Wirtschaft zu entwickeln: von den niederländischen Ratsmitgliedern der G.I.K.H. (Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland)) [6] über die neoklassischen Sozialisten Lange und Taylor [7] bis hin zu dem englischen Ökonomen Pat Devine mit seinem Konzept von der Negotiated Coordination (Koordination auf dem Verhandlungsweg). [8] Selbst Autoren wie Peter Hudis haben akribische Arbeiten verfasst, in denen sie versuchen, die wenigen Hinweise zu entschlüsseln, die Marx hinsichtlich einer Alternative zum Kapitalismus hinterlassen hat. [9] Aber alle Autoren weisen in der Regel darauf hin, dass sie lediglich realistische Alternativen aufzeigen wollen, und äußern sich nicht zum Endziel der gesellschaftlichen Entwicklung. Es geht diesen Autoren nicht darum, ein perfektes Modell, einen umfangreichen und detaillierten Organisationsentwurf vorzulegen, sondern um das Aufzeigen einer politischen Alternative zur allgemeinen Apathie und um eine theoretische Auseinandersetzung, die den Verfechtern des Kapitalismus generell etwas fundamental Anderes entgegensetzt: nämlich die Vorstellung, dass es grundsätzlich möglich ist, unsere Gesellschaft anders zu gestalten.

Man sollte auch nicht unterschätzen, dass es aus politischer und strategischer Sicht sinnvoll ist, sich mit verschiedenen Konzepten zu beschäftigen. Heute hat die Arbeit an konkreten Projekten, mit der man sich im Zuge der Kämpfe einem Ziel annähert, eine andere Relevanz als vor einem Jahrhundert. Wir leben in einer Zeit der Niederlagen, der Mutlosigkeit und Verzweiflung. Angesichts einer unkontrollierbaren Flut von Angriffen, denen wir machtlos gegenüberstehen, konnten wir allenfalls vereinzelte kleine Siege feiern oder in defensiven Kämpfen das Schlimmste verhindern. Das war nicht immer so. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von lebendigen, kämpferischen und auch erfolgreichen Beispielen. Vielleicht war früher die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft nicht so zentral für die Mobilisierung der Massen wie heute. Dennoch mangelte es auch damals nicht an Interesse, wie die begeisterte Aufnahme utopischer Romane wie Looking Backward von Edward Bellamy (1888) [10]oder News from Nowhere von William Morris (1890) [11] zeigt. Aber in der heutigen Zeit ist das Aufzeigen von Alternativen unabdingbar, um unsere revolutionären Ziele voranzutreiben. Dabei geht es darum, die aktuellen Forderungen und Kämpfe mit realistischen (nicht mit utopischen) Zielsetzungen zu verschränken, um deutlich zu machen, dass wir keinen unrealistischen Träumereien nachhängen.

Es ist jedoch auch erforderlich, das Thema aus der Perspektive der Aktivist*innen anzugehen. Unsere Organisationen haben die Pflicht, sich mit all diesen Aspekten zu befassen und den Aktivist*innen die notwendige Schulung zukommen zu lassen, damit wir nach der Übernahme der politischen Macht unser unmittelbares Ziel nicht aus den Augen verlieren. Dazu gehört auch die Debatte um die Möglichkeiten beim Aufbau des Sozialismus. Nicht von ungefähr zitiert Lenin in Was tun? [12] Engels, um daran zu erinnern, dass die Auseinandersetzung mit der Theorie ebenso relevant ist wie der politische und der ökonomische Kampf, dass also „... stets im Auge zu behalten [ist], daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will.“

Konkrete und nachvollziehbare Ideen, wie die Gesellschaft, die wir verwirklichen wollen, aussehen könnte – und zwar nicht im Sinn realitätsfremder Utopien, sondern in Kenntnis der allgemeinen Prinzipien, die einer sozialistischen Wirtschaft zugrunde liegen könnten – ermöglichen uns, allfälligen Zweifeln der Bevölkerung, aber auch der Aktivist*innen, an einer postkapitalistischen Zukunft zu begegnen und vor den reformistischen Versuchungen der kapitalistischen „Gesellschaft der unbegrenzten Möglichkeiten” zu warnen.

Es ist auffällig, dass weder die wissenschaftlichen Studien noch die Öffentlichkeitsarbeit, die von Kollektiven wie Cibcom, Association for the Design of History oder Next System Project geleistet wird, von denjenigen Organisationen ausgehen, die der geeignete strategische Rahmen für eine eventuelle Umsetzung von Ideen wären, sondern von Sozialisten und Revolutionären ganz unterschiedlicher Traditionen, die keine andere Wahl haben, als sich zusammenzuschließen, um das Problem auf eigene Faust anzugehen – und zwar aus der schieren Notwendigkeit heraus, den teuflischen Slogan der britischen Konservativen über die Unmöglichkeit einer anderen Welt zu entlarven: There Is No Alternative.


Die drei Modelle


1) Die Wirtschaftsdemokratie

Das vom US-amerikanischen Philosophen und Mathematiker David Schweickart als Economic Democracy bezeichnete Modell steht in der Tradition des Marktsozialismus. Der Autor vertritt die Auffassung, dass es möglich sei, Markt und Demokratie in der Arbeitswelt zu vereinen, indem er versucht, in sein Modell Merkmale zu integrieren, die sich aus drei äußerst unterschiedlichen historischen Beispielen ableiten lassen: aus dem selbstverwalteten Sozialismus im ehemaligen Jugoslawien, dem japanischen Kapitalismus und den Erfahrungen der Corporación Mondragón im Baskenland.

Schweickarts Kapitalismuskritik bezieht sich in erster Linie auf den Mangel an Demokratie und Effizienz. Da er aber auch einer autoritären Machtkonzentration und der Ineffizienz zentraler Planwirtschaft kritisch gegenüber steht, zielt sein Vorschlag darauf ab, Markt und Plan in einem demokratischen Rahmen in Einklang zu bringen. Die wesentlichen Merkmale seines Modells sind also dreierlei: 1) Führung und Verwaltung des Unternehmens durch seine Beschäftigten, 2) eine Marktwirtschaft, der zufolge die Preise beim Handel mit Rohstoffen und Konsumgütern von Angebot und Nachfrage bestimmt werden und 3) gesellschaftlich kontrollierte und durch Steuern finanzierte Investitionen, deren Vergabe durch einen Wirtschaftsplan, aber auch durch Marktmechanismen geregelt wird.

Schweickart zufolge sollen die Beschäftigten in jeder Kooperative für den geordneten Ablauf der Produktion und die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin in der Fabrik sorgen. Sie sollen darüber bestimmen, welche Produktionstechniken eingesetzt werden, was und wie viel produziert wird und wie die Gewinne zu verteilen sind. Die Entscheidungen wären von allen Beschäftigten gleichberechtigt zu treffen, wobei er nicht ausschließt, dass in manchen Fällen (etwa aufgrund der Größe des Unternehmens) die Einrichtung einer Geschäftsführung erforderlich sein könnte.

Obwohl es hier nicht darum gehen kann, an diesem Modell Kritik zu üben, ist es aufgrund der zentralen Rolle des Marktes bei Schweickart angebracht, an der Zweckmäßigkeit des Modells zu zweifeln, da der Markt diesem Konzept zufolge bloß einer von mehreren Faktoren ist, eine angeblich neutrale Instanz bei der Verteilung von Gütern und nicht ein wesentlicher (und unverzichtbarer!) Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise. In Übereinstimmung mit der österreichischen Kritik an der Fähigkeit des Sozialismus, wirtschaftliche Berechnungen im Voraus anzustellen, vertritt Schweickart die Auffassung, dass die Schwierigkeiten einer Planwirtschaft darin bestehen, dass man eben nicht genau weiß, welche und wie viele Güter und Dienstleistungen auf welche Weise produziert werden sollen, was den Rückgriff auf Marktmechanismen unumgänglich macht. Eine Planung sollte sich daher ausschließlich auf den Bereich der Investitionen beschränken. Schweickarts Schlussfolgerungen werden jedoch durch die beiden anderen Modelle, insbesondere das dritte, in Frage gestellt.

Schließlich wird anhand des jugoslawischen Beispiels, der kapitalistischen Entwicklung in Japan und dem Fall der Corporación Mondragón ein Grundzug des Modells vorgestellt: die gesellschaftliche Kontrolle der Investitionen als „Gegenpol zum Markt”, um „die ,Anarchie’ der kapitalistischen Produktion zu mildern”. Durch die Besteuerung von Investitionsgütern soll zum einen die effiziente Nutzung dieser Güter gefördert und zum anderen ein gemeinsamer Fonds für neue Investitionen finanziert werden. Ist dieser Fonds erst einmal eingerichtet, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Bereitstellung von Mitteln, die von einer bürokratischen Planung der Investitionen bis hin zu einer Art „Laissez-faire-Sozialismus” reichen. [13]

Es fällt schwer, in diesem Modell einen Sozialismus, wie wir ihn uns vorstellen, zu erkennen. Dennoch lohnt es sich, einige der wirtschaftlich-institutionellen Aspekte des Autors und seiner Anhänger näher zu beleuchten. Schließlich es ist notwendig, sich mit einer Strömung auseinanderzusetzen, die trotz ihres guten Willens viele der entscheidenden Merkmale des Systems, das wir überwinden wollen, als selbstverständlich voraussetzt.

In Spanien hat diese Strömung jedenfalls eine gewisse Anhängerschaft. Carmen Madorrán, die in einer umfangreichen Dissertation diesen Ansatz aus der Perspektive der ökologischen Ethik beleuchtet, ist derzeit die vielleicht prominenteste Vertreterin dieser Richtung. [14] Aber auch andere Ökonomen wie Antoni Comín haben sich seinerzeit mit diesem Modell beschäftigt. [15]

2) Das Parecon-Modell einer partizipativen Wirtschaft

Von den drei Modellen verfügt das so genannte Parecon-Modell (kurz für Participatory Economics) von Michael Albert und Robin Hahnel über die größte Anhängerschaft, vor allem in der angelsächsischen Welt und insbesondere in den Vereinigten Staaten. US-amerikanische Intellektuelle und Aktivist*innen haben eine Fülle von Büchern und Artikeln veröffentlicht, in denen sie ihre Vorstellungen von einer partizipativen Wirtschaft darlegen – von akademischen Texten bis hin zu Schriften, die sich nicht an ein einschlägiges Fachpublikum richten.

Beflügelt von Werten wie Solidarität, Gleichheit, Vielfalt, Selbstverwaltung und ökologischem Gleichgewicht erläutern Albert und Hahnel ihre Überlegungen. Sie führen ins Treffen, dass der Kapitalismus auf drei Hauptpfeilern beruht: dem Privateigentum an Produktionsmitteln, der Verteilung von Gütern über den Markt und der korporativen Arbeitsteilung. Mit ihrem Modell wollen sie dazu eine Alternative bieten.

Die erste Forderung ist denkbar einfach und leuchtet unmittelbar ein: Von einer Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln sollen alle Teile der Bevölkerung profitieren. Es soll sichergestellt werden, dass niemand aufgrund des Eigentums an Produktionsmitteln unverhältnismäßig viel Macht über andere ausübt oder einen persönlichen Gewinn erzielt.

Zweitens geht es darum, als Alternative zu den Märkten ein System der partizipativen Planung einzurichten, das den Arbeiter- und Verbraucherräten ermöglicht, die Vorteile und sozialen Kosten ihrer jeweiligen Entscheidungen abzuwägen. Im Rahmen bestimmter organisatorischer und interaktiver Settings (begleitende Ausschüsse, Festlegen von Richtpreisen, ständige Nachbesserung von Produktionsplänen usw.) können alle Beteiligten ihre Interessen einbringen. Dabei besteht für die Autoren das Hauptproblem darin, dass sich die tatsächlichen Interessen des Einzelnen erst im Zuge der sozialen Interaktion herauskristallisieren. Für die genaue Einschätzung aller Vor- und Nachteile aus sozialer Sicht sind daher umfangreiche Beteiligungs-, Beratungs- und Entscheidungsfindungsprozesse unerlässlich.

Zur Erleichterung dieser Prozesse sollen Unterstützungsausschüsse eingerichtet werden. Sie koordinieren den Planungsprozess, indem sie alle ursprünglichen Vorschläge betreffend Produktion und Konsum (die fürs Erste nur Vorhersagen darüber sind, was produziert und konsumiert werden soll) sammeln, vergleichen und die daraus gewonnenen Schlüsse an die einzelnen Räte weiterleiten. Das erfolgt auf verschiedenen Ebenen, und zwar sowohl seitens der Konsument*innen (organisiert in Nachbarschaftsräten, Bezirks-, Stadt-, und Kreisverbänden bis hin zu gesamtstaatlichen Gremien) als auch der Produzent*innen (organisiert in Betrieben, Betriebsräten, Regionalverbänden). Dann beginnt eine Reihe von Wiederholungsphasen: Die eingebrachten Vorschläge werden verglichen und so lange verhandelt, bis man sich auf ein endgültiges Ergebnis geeinigt hat, auf dessen Basis ein Vorhaben realistischerweise umgesetzt werden kann.

Eine dezentrale partizipative Planung ist den Autoren zufolge die einzige Methode, „Nicht nur werden Preise und andere ökonomische Stellgrößen genauer getroffen als unter Markt- und Zentralplanungsbedingungen, sondern auch Solidarität, Gerechtigkeit, Vielfalt und Selbstbestimmung werden gestärkt.” (Albert 2005: 148). [16]

Drittens setzt Parecon der korporativen Arbeitsteilung im Kapitalismus eines seiner Leuchtturmprojekte entgegen: die ausgewogene Verteilung der anfallenden Arbeiten – sowohl innerhalb eines Betriebs als auch zwischen unterschiedlichen Betrieben, um ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen notwendigen und weniger notwendigen Tätigkeiten zu schaffen. Dabei geht es nicht um die Abschaffung der Arbeitsteilung, sondern um eine gerechte Umverteilung zwischen unangenehmen und befriedigenden Tätigkeiten. Außerdem schlagen Albert und Hahnel vor, bei der Bewertung des Beitrags, den jeder Einzelne mit seiner Arbeit zur Gesellschaft leistet, und folglich bei der Festlegung der Löhne den persönlichen Einsatz der Beschäftigten als Richtschnur heranzuziehen. Das ist durchaus problematisch (Ist es angebracht, unsere Arbeitsleistung fiskalisch zu kontrollieren?), sollte aber ein Anstoß sein, darüber nachzudenken, nach welchen Kriterien die Arbeit, die im Dienst der Gemeinschaft erbracht wird, zu entlohnen ist.

Obwohl es in Spanien keine ausdrücklichen Vertreter dieser Strömung gibt, hat das Instituto de Ciencias Económicas y de la Autogestión (ICEA) [Institut für Wirtschaftswissenschaften und Selbstverwaltung, Anm. d. Übers.] bei mehreren Gelegenheiten auf dieses Modell hingewiesen. Und es ist nicht verwunderlich, dass es im anarchistischen Umfeld auf großes Interesse stößt, denn einige der Autoren beziehen ihre Anregungen aus internationalen anarchistischen Bewegungen um eine Kollektivierung der Betriebe, aber auch aus der Pariser Kommune sowie aus diversen Projekten zur alternativen Organisation von Arbeit und Produktion: Kooperativen, selbstverwaltete Zentren, die Solidarwirtschaft, Beispiele partizipativer Demokratie wie in Porto Alegre oder Kerala usw.

3) Der Cyberkommunismus

Schließlich wäre die Strömung des Cyberkommunismus zu erwähnen, der mit der Idee einer computergestützten Planung der Wirtschaft das wohl ambitionierteste Modell einer kollektiven Kontrolle des Produktionsprozesses darstellt. Seit der Veröffentlichung von Towards a New Socialism (1993) [17] haben Paul Cockshott und Allin Cottrell ihre Erkenntnisse weiterentwickelt: Sie erkannten das Potenzial der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien für eine effiziente Steuerung des Produktionsprozesses, aber distanzierten sich gleichzeitig von der sowjetischen Planwirtschaft, der sie Mängel in Bezug auf Demokratie und Effizienz vorwerfen.

Die cybersozialistische Perspektive verbindet die Kritik an der politischen Ökonomie mit einer Kritik an der Kybernetik als Wissenschaft von der Information und ihrer Kontrolle. Sie tritt ein für die Abschaffung des Privateigentums, des Marktes, des Geldes und letztlich der Gesetze, die für den reibungslosen Ablauf der kapitalistischen Wirtschaft sorgen. Am intensivsten haben sich die Vertreter dieser Richtung mit der Kritik an den Märkten und ihrer unvermeidlichen Tendenz zur sozialen Ungleichheit (egal, ob unter kapitalistischen oder vorgeblich sozialistischen Bedingungen) auseinandergesetzt. Die Unfähigkeit der Märkte, sich von der Profitlogik zu lösen, führt ihnen zufolge zu einem unüberlegten, mangelhaften und letztlich ineffizienten Mechanismus der Informationsverarbeitung, der außerstande ist, nicht-monetäre Variablen zu berücksichtigen.

Dieses Modell sieht daher eine Mischform aus zentralen und dezentralen Planungselementen vor, die den Rahmen dafür bietet, ohne staatliche Einmischung auf makroökonomischer, strategischer und praktischer Ebene Konzepte zu entwickeln, zu vergleichen und demokratisch abzustimmen. Mit einem Netzwerk von Computern, das die einzelnen Produktionseinheiten miteinander verbindet, mit der Anwendung der linearen Optimierung zur Lösung der Gleichungen der Produktionsmatrix der Wirtschaft, mit der Möglichkeit einer Naturalberechnung der Ressourcen und der optimalen Berücksichtigung von Umweltbedingungen im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit sind die Perspektiven, die eine demokratische Wirtschaftsplanung zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit eröffnet, enorm.

Im Gegensatz zu den Vorschlägen von Parecon erfolgt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in diesem Modell auf Basis der Arbeitszeit als Berechnungsgröße. Daraus werden die Arbeitskosten für die Produktion von Waren und Dienstleistungen ermittelt und die Produzent*innen entsprechend der von ihnen geleisteten Arbeit in Form von Gutscheinen entlohnt: „Jedem Produzenten wird ein Zertifikat [...] über die von ihm geleisteten Arbeitsstunden ausgestellt, mit dem er (nach Abzug [...] des Anteils, der in einen gemeinsamen Fonds fließt) Konsumgüter aus dem Sozialfonds entnehmen kann, die der Menge der geleisteten Arbeit entsprechen. So erhält man von der Gesellschaft genau so viel zurück, wie man ihr gegeben hat. Indem man über das Ausmaß des Arbeitsaufwands selbst entscheidet, legt man auch das gewünschte Konsumniveau selbst fest.“ [18]

      
Mehr dazu
Catherine Samary: Selbstverwaltung: Was ist das?, die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020).
Interview mit Cédric Durand: Demokratische Planwirtschaft, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020). Auch bei intersoz.org.
Michel Husson: Von der sozialistischen Ökonomie hin zur ökologischen Planung, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019).
Paul Michel: Von schwarzen Löchern und weißen Flecken, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019).
Johann-Friedrich Anders: Was kommt nach dem Kapitalismus?, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019).
Robert Pelletier: Verstaatlichung und Systemfrage, Inprekorr Nr. 3/2013 (Mai/Juni 2013).
Daniel Tanuro: Die Grundlagen einer ökosozialistischen Strategie, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011).
Catherine Samary: Plan, Markt und Selbstverwaltung, Inprekorr Nr. 240 (Oktober 1991).
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988).
 

Das politisch-institutionelle Gegenstück zu diesem Vorschlag ist die direkte Demokratie. In Anlehnung an die klassische griechische Demokratie in Athen bemängeln die Autoren den ausgesprochen aristokratischen Charakter der repräsentativen Demokratie und schlagen stattdessen eine Wahl durch das Los vor: die Bildung von Räten aus zufällig ausgewählten Individuen. Und das Bekenntnis zu einer echten Demokratie ist kein Luxus, sondern aus Sicht der Informatik eine unabdingbare Voraussetzung für eine echte Kontrolle über die Produktionsmittel durch die arbeitende Bevölkerung.

Zwei historische Beispiele, an denen man sich orientiert, sind das gescheiterte OGAS-Projekt in der Sowjetunion oder Cybersyn im Chile von Allende. Wissenschaftler wie Maxi Nieto, der in mehreren Artikeln und in einem kürzlich erschienenen Buch [19]die Grundpfeiler dieses Modells skizziert hat, oder Cibcom, ein Kollektiv zur Erforschung und Förderung eines kybernetischen Kommunismus, sind die wichtigsten Vertreter dieser Strömung in Spanien.


Der Aufbau einer neuen Gesellschaft


An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass, wie Mandel es ausdrückte, „[d]er effizienteste und humanste Weg, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, … nur durch Experimente herausgefunden werden [kann] ...“. [20] Gesellschaftliche Experimente sind daher im Sinne einer kontinuierlichen Perfektionierung zu verstehen, einer Verbesserung „durch schrittweise Annäherung”, auch unter Rückgriff auf Bestehendes, sofern es für den Aufbau einer neuen Gesellschaft genützt werden kann. Das heißt aber nicht, dass wir es uns leisten können, die theoretische Auseinandersetzung zu vernachlässigen. In Übereinstimmung mit Brassier sind praktische Erfahrungen eben nicht das Fundament der Theorie, sondern ihr Korrektiv. Wer behauptet, dass jede Theorie ausschließlich auf Erfahrungen beruht, geht im Sinne eines Empirismus davon aus, diese für bare Münze zu nehmen und die daraus gezogenen Lehren für unumstößlich zu halten. Aber jegliche Erfahrung ist per se unzuverlässig, und was wir aus ihr lernen können, nimmt erst in späteren theoretischen Analysen Gestalt an.

Außerdem müssen wir uns bewusst sein, dass gesellschaftliche Experimente teuer sind. Revolutionäre Prozesse können schließlich nicht nach Lust und Laune in einer Laborsituation erprobt werden; sie erfordern vielmehr ein enormes Engagement von Tausenden und Abertausenden Menschen, die ihr Leben riskieren, um eine bessere Welt zu schaffen. Es ist daher auch unsere Pflicht, diese Prozesse durch theoretische Arbeit voranzutreiben – mit dem Ziel der praktischen Umsetzung, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Der Verzicht auf Theorie ist in jeder Hinsicht absurd, denn wir können uns als Revolutionäre keinesfalls den Luxus leisten, die Arbeit an neuen und demokratischen gesellschaftlichen Verhältnissen, in welchem Bereich auch immer, nicht ernst zu nehmen.

Angesichts des zaghaften, aber wachsenden Interesses am Aufbau besserer Welten, das sich in der positiven Aufnahme von Büchern wie Contra la distopía (Francisco Martorell, 2021) oder Utopía no es una isla (Layla Martínez, 2021), aber auch in künstlerischen Bewegungen wie Solarpunk [21] widerspiegelt, muss die politisch organisierte Arbeiterklasse die Rolle übernehmen, die neuen Ideale, die neu entstandenen kreativen Lösungsansätze mit konkreten Inhalten zu füllen. Wenn wir einmal die Wirtschaft von der Tyrannei der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse befreit und in den Dienst der menschlichen Bedürfnisse und der natürlichen Umwelt gestellt haben, liegt es an uns, Vorschläge, wie eine andere Wirtschaft aussehen soll, zu entwerfen, zu diskutieren und zu konkretisieren.

Bei der praktischen Umsetzung eines sozialistisches Wirtschaftsmodells muss man sich zwangsläufig mit den Beiträgen von Autoren wie Cockshott, Albert oder Schweickart befassen, um zu vermeiden, Irrwege aus der Vergangenheit zu wiederholen. Es ist der zentrale Gedanke dieses kurzen Textes, daran zu erinnern, dass es sich mehr denn je lohnt, für eine andere Zukunft, die heute in greifbarer Nähe liegt, einzutreten und dass der Nutzen der konkreten politischen Arbeit nicht zu unterschätzen ist.

Wie das Sprichwort sagt, tragen wir eine neue Welt in unseren Herzen. Aber heute ist es unsere vordringliche Aufgabe, die Eckpfeiler dieser Welt auch in unseren Köpfen zu verankern, um die Voraussetzungen für ihre Verwirklichung zu schaffen. Und dazu sind wir durchaus in der Lage, denn jede menschliche Tätigkeit zeichnet sich durch die Ausrichtung auf ein Ziel aus, durch den Willen, ein Ziel zu erreichen, das in unserer Vorstellung bereits vorhanden ist, ebenso wie im Lauf eines Arbeitsprozesses am Ende ein Ergebnis vorliegt. In Anlehnung an Marx: „[…] eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut”. [22]

15. Oktober 2022
Gonzalo Bárcena ist Aktivist von Anticapitalistas und Mitglied des Kollektivs Cibcom.
Übersetzung: E.F.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Bensaïd, Daniel (1997): L’arc tendu de l’attente (Der gespannte Bogen der Erwartung), Le Monde de l’éducation, de la culture et de la formation (Die Welt der Bildung, der Kultur und der Ausbildung).

[2] Arboleda, Martín: Gobernar la utopía. Sobre la planificación y el poder popular (Die Utopie gestalten. Über Planung und Volksmacht). Caja Negra 2021.

[3] Dean, Jodi und Heron, Kai (2022): Leninismo climático y transición revolucionaria. Organización y antiimperialismo en tiempos catastróficos (Klima-Leninismus und revolutionärer Übergang. Organisation und Antiimperialismus in katastrophalen Zeiten). Südwind.

[4] Für einen eingehenderen Vergleich der verschiedenen Modelle empfehlen wir die Lektüre des von Joaquín Arriola herausgegebenen Buches Derecho a decidir (Das Recht zu entscheiden) (2006), das eine Reihe von Artikeln der Vertreter dieser Modelle zusammenfasst. Empfehlenswert ist auch der Artikel A brief sketch of three models of democratic economic planning (Eine kurze Skizze der drei Modelle demokratischer wirtschaftlicher Planung) von Frédéric Legault und Simon Tremblay-Pepin, der Parecon und den Cyberkommunismus mit Pat Devines Modell der Negotiated Coordination vergleicht. Letzteres ist auf Spanisch verfügbar unter: https://cibcom.org/un-breve-esquema-de-tres-modelos-de-planificacion-democratica.

[5] Die deutsche Ideologie, MEW 3, 35

[6] G.I.K.H.: Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung. Hamburg: Red & Black Books 2022.

[7] Lange, Oskar und Taylor, Fred: On the Economic Theory of Socialism. McGraw-Hill Inc. 1956

[8] Devine, Pat (1988): Democracy and economic planning. The political economy of a self-governing society. Westview Press.(dt. Demokratie und wirtschaftliche Planung (1988) in: Philip Broistedt u.a. (Hg.): Planwirtschaft: Staatssozialismus, Arbeitszeitrechnung, Ökologie. Wien 2022, S. 159–167).

[9] Hudis, Peter: Marx’s concept of the alternative to capitalism. Haymarket 2013.

[10] Bellamy, Edward (1888): Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887. Deutsch von Clara Zetkin.

[11] Morris, William: Kunde von Nirgendwo, zuletzt (?) 2016 im Nautilus Verlag Hamburg

[12] Lenin Werke Band 5, S. 382.

[13] Schweickart, David (1993): Democracia económica: propuesta para un socialismo eficaz. Cristianismo y justicia (Wirtschaftsdemokratie: Vorschlag für einen effektiven Sozialismus. Christentum und Gerechtigkeit) (53).

[14] Madorrán, Carmen (2017): Necesidades humanas y límites ecológicos en la Democracia Económica. Una revisión de la propuesta de David Schweickart. Universidad Autónoma de Madrid.

[15] Comín, Antoni (Koord.) (2011): Democracia Económica: Hacia una alternativa al capitalismo. Barcelona: Icaria editorial.

[16] Albert, Michael: Parecon: Leben nach dem Kapitalismus. Frankfurt/Main 2006

[17] Cockshott, Paul und Cottrell, Allin: Towards a New Socialism. Spokesman 1993. (dt. Paul Cockshott, Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner: für sozialistische Planung und direkte Demokratie. Köln 2006).

[18] Cockshott, Paul und Nieto, Maxi (2017): Ciber-comunismo. Planificación económica, computadoras y democracia. Trotta.

[19] Nieto, Maxi (2021): Marx y el comunismo en la era digital (y ante la crisis eco-social planetaria). Maia.

[20] Ernest Mandel: Der dritte Weg. In: Ost-West-Gegeninformationen. Graz 1991, H. 3/4, S. 21–28.

[21] Petruccioli, Marco (2021): ¿Un porvenir luminoso?.

[22] MEW 23, S. 193