Im letzten seiner zahlreichen Beiträge zu Problemen des revolutionären Marxismus erinnerte Ernest Mandel an den „Geburtsakt“ des Marxismus, die elfte These über Feuerbach von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Die Botschaft, die er zugleich an „Sektierer“ richtete, mit denen er sich auf einer Veranstaltung in New York acht Monate vor seinem Tod auseinandersetzte, lautete: „Verfallt nicht in Verzweiflung, Resignation oder Zynismus angesichts der Übermacht, der wir uns alle widersetzen müssen. Zieht euch nicht zurück in 'individuelle Lösungen' (die Fleischtöpfe der Konsumgesellschaft stehen einigen immer noch offen, wenngleich sie viel kleiner sind als zuvor...). Vergeßt niemals die moralische Verpflichtung aller, die sich als Marxisten verstehen: die unbeugsame Verteidigung der Interessen der Ausgebeuteten und Unterdrückten im Weltmaßstab, überall und zu jeder Zeit. Begnügt euch niemals mit rein propagandistischen Aktivitäten. Vergeßt nie das erste und letzte Gebot von Marx: Versucht zu beginnen, die Welt zu verändern!“ [1]
Jakob Moneta
Im Jahre 1946 - er war damals 23 Jahre alt - hat Ernest Mandel ein bewegendes Vorwort zum erstmals veröffentlichten Buch seines geistigen Mentors und Freundes Abraham Léon geschrieben: Die materialistische Auffassung der jüdischen Frage. Seine Weggefährten, führende Kader der trotzkistischen Bewegung in Europa, waren ermordet worden: Marcel Hic in Frankreich, Martin Monath (Widelin), der die illegale Zeitung Arbeiter und Soldat herausgegeben hatte, war von der französischen Miliz, die mit der Gestapo zusammenarbeitete, gefoltert und umgebracht worden. Léon, der versucht hatte, mit den Bergarbeitern von Charleroi, der Wiege des belgischen Trotzkismus, Verbindung aufzunehmen, wurde verhaftet und kurz vor Kriegsende in Auschwitz vergast. Ernest war im März 1944 beim Verteilen von Flugblättern vor dem Betrieb Cockeril in Lüttich verhaftet und als politischer Häftling nach Deutschland deportiert worden. Im April 1945 gelang ihm die Flucht aus einem Zwangsarbeitslager bei Köln. In seinem Vorwort von 1946 gingen seine Gedanken zum verzweifelten Jahr 1940 zurück: „Die Lage schien nur Mutlosigkeit oder Abwarten zu rechtfertigen. Jede andere Haltung sah nach verzweifelter und ohnmächtiger Revolte aus. Es fehlte jedoch nicht der Mut zu handeln, sondern zu denken und richtig zu denken. Die marxistische Analyse konnte die bleierne Decke durchdringen, die auf Europa lastete, und sich herausbildenden Kräfte entdecken, die sie zum Einsturz bringen würden.“
Als einer der jüngsten im „provisorischen Europäischen Sekretariat“ der IV. Internationale, das unter der Nazibesatzung operierte, hatte er den Mut, zu denken und sich der Analyse älterer, erfahrener Genossen zu widersetzen. Diese waren davon überzeugt, daß durch die herrschende Barbarei die gesamte Gesellschaft so sehr degeneriert sei, daß die gesellschaftlichen Kräfte einer sozialistischen Revolution in den Verfall des kapitalistischen Systems hineingezogen seien und das Klassenbewußtsein zersetzt worden sei. Sowohl die Partisanenbewegungen in Europa als auch die Nachkriegszeit mit ihren sozialen Kämpfen sollten Ernest recht geben.
Der Mut zu denken hat ihm auch nicht gefehlt, als er in der Internationale, die noch 1948 in Belgien hergestellt und nach Deutschland geschmuggelt werden mußte, voraussagte, es stünde nun eine Art wirtschaftlicher „Gründerperiode“ bevor. Ein langer Aufschwung, wie ihn Deutschland nach den drei unter Bismarck gewonnenen Kriegen - gegen Dänemark, Österreich und Frankreich (das Milliarden an „Reparationen“ zahlen mußte) erlebt hatte. Nicht nur wir, sondern auch sozialdemokratische Wirtschaftswissenschaftler und Landesminister konnten das nicht glauben. Wir sahen die Entwicklung im Lichte dessen, was sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg abgespielt hatte: kurze Aufschwünge und rascher Niedergang.
Ernest Mandel sollte recht behalten mit seiner Theorie der langen Wellen im Kapitalismus, die für ihn keinen „Automatismus“ hatten, sondern deren Ausgang er letztenendes im Zusammenhang mit ausbrechenden oder ausbleibenden Klassenkämpfen sah.
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Mit seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie und dem Spätkapitalismus, die in vielen Sprachen erschienen sind, erlangte er weltweit Anerkennung in der sozialistischen Linken und sogar Ansehen bei bürgerlichen Ökonomen, wenngleich Karl Grobe recht hat, wenn er in seinem Nachruf in der Frankfurter Rundschau in bezug auf Deutschland darauf hinweist: „Es ist skurril und bezeichnend zugleich, daß von seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk gerade die Sozialgeschichte des Kriminalromans (Ein schöner Mord), und fast nur sie, von der in Presse und Funk etablierten Kritik aufgenommen und beachtet worden ist ...“
Die Referate, die Ernest Mandel 1963 auf einem Schulungslehrgang der linkssozialistischen Parti Socialiste Unifié (PSU) in Frankreich gehalten hatte, erschienen auf Deutsch als Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie in 25 Auflagen mit über 120 000 Exemplaren im SDS-Verlag Neue Kritik. In zahlreiche Sprachen übersetzt, dürfte eine Gesamtauflage von fast zwei Millionen Exemplaren erreicht worden sein. Omar Cabezas, einer der Führer der sandinistischen Revolution in Nicaragua, berichtet in seinem Buch Die Erde dreht sich zärtlich Compañera, wie sie unter unsäglichen Bedingungen im Urwald, wo sie sich für den Partisanenkampf gegen die Somoza-Diktatur vorbereiteten, dieses kleine Büchlein studierten, um sich mit der marxistischen Wirtschaftstheorie vertraut zu machen.
Ernest Mandel hat seine revolutionären Sporen nicht nur als Theoretiker gewonnen. Von 1954 bis 1962 war er Sachverständiger der wirtschaftlichen Studienkommission des belgischen Gewerkschaftsbundes FGTB. Er war vor allem auch intellektueller Berater von André Renard, dem bedeutenden Gewerkschaftsführer aus einer revolutionär-syndikalistischen Tradition, und konnte so insbesondere im wallonischen Generalstreik von 1960 kostbare Erfahrungen erwerben. Renards Broschüre „Durch Kampf zum Sozialismus“ war nicht zuletzt von Ernest Mandel „inspiriert“, dessen praktische Erfahrungen ihn wohl auch gegen ultralinke Gewerkschaftskritik gefeit haben.
Daß er auf der ersten Massendemonstration in Berlin gegen den Vietnamkrieg der Hauptredner war, das Ansehen, das er bei Studenten in ihrer Revolte in Deutschland oder im Mai 68 in Frankreich genoß, seine ebenso unerbittliche wie wissenschaftlich fundierte Kritik an der herrschenden Bürokratie in den nichtkapitalistischen Ländern, verschafften ihm die Ehre der wohl einzige zu sein, der Einreiseverbote im gesamten „nominalsozialistischen“ Osten, aber auch im kapitalistischen Westen hatte: USA, Frankreich, Australien, die Schweiz und ganz besonders gründlich in der BRD.
Kaum bekannt ist, daß Ernest, der wie wenige Wissenschaftler die Gabe hatte, auch komplizierte Dinge verständlich zu machen, ein begabter Journalist war. Unter dem Pseudonym Pierre Gousset schrieb er für die linke Presse in vielen Ländern. Er war viele Jahre Chefredakteur von La Gauche in Belgien und hat zahlreiche Reportagen auch für die Zeitung metall geschrieben („Kipp“).
Oft erinnerte Ernest an das Lieblingsmotto von Karl Marx: De omnibus dubitandum - an allem ist zu zweifeln. Das hat auch er getan, und oft genug war dies schmerzhaft, so etwa nach den Hoffnungen, die er in die Guerillabewegung Lateinamerikas gesetzt hatte. Wie viele andere Sozialisten, Marxisten und Kommunisten vor ihm hat er Prognosen erstellt, die nicht - oder noch nicht - eingetroffen sind. Aber er ist auch nicht davor zurückgeschreckt, alle, die den von ihm so sehr verehrten „Alten“ (wie Trotzki von seinen Anhängern liebevoll genannt wurde) „ikonisieren“ wollten, zu entsetzen. In seinem im ehemals stalinistischen Dietz-Verlag in Berlin erschienenen Buch Trotzki als Alternative ist er auf die „schwarzen Jahre“ 1920/21 - Trotzkis Hinübergleiten zum „Substitutionismus“ (das Ersetzen der Arbeiterklasse durch die Parteiherrschaft) - und die daraus resultierenden schlimmen Folgen eingegangen.
In seinem letzten - leider noch nicht auf Deutsch vorliegenden Buch - beweist Ernest Mandel wiederum den Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Er geht den sozialen und historischen Wurzeln der Bürokratie auch im kapitalistischen Staat und in den Massenorganisationen nach und widerlegt die Ansicht, daß Bürokratie, Markt und Staat Ewigkeitswert haben. Seine Schlußfolgerungen lauten:
„Zu glauben, daß der Tendenz zur Selbstvernichtung der Menschheit Einhalt geboten werden kann, ohne das Konkurrenzverhältnis ebenso zu überwinden wie die langfristige globale Irrationalität, den 'Krieg aller gegen alle' und die allgemeine Herrschaft der Habgier, ist keineswegs realistisch. Das macht das 'Jüngste Gericht' wirklich unvermeidlich. Sozialisten glauben, daß dies durchaus vermieden werden kann, wenn wir das Ausmaß an Rationalität in unserer kollektiven Verhaltensweise verstärken, wenn wir danach streben, die Zukunft selbst in unsere Hände zu nehmen. Das ist die Freiheit, die Selbstbestimmung, für die wir kämpfen. Zu glauben, daß die Menschheit dazu nicht fähig sei, bedeutet, nicht 'realistisch' zu sein. Es bedeutet anzunehmen, daß Männer und Frauen von Geburt an unfähig zum Selbsterhaltungstrieb. Das aber ist purer Aberglaube.“
Ernest hatte noch viele Pläne für wissenschaftliche Untersuchungen. Eine lag ihm besonders am Herzen: über eine Ethik des Sozialismus zu schreiben. Wer hätte das wohl besser gekonnt als er. Aber wir alle, die von seinem Wissen profitiert haben, die seine Standfestigkeit in der Verteidigung des Marxismus nach dem Niedergang der „nominalsozialistischen“ Staaten überzeugend finden und seine Zuversicht in das Wiedererstehen einer revolutionär-sozialistischen Weltbewegung teilen, wissen, was wir seinem Leben und seinem Werk zu verdanken haben.
Nachdruck aus Sozialistische Zeitung, 24.8.1995. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 287 (September 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz