Europäische Union

Für ein anderes Europa ohne Grenzen und Ausbeutung

Verantwortlich für die gegenwärtigen Krisen ist das Europa der Banken und Konzerne. Dennoch wäre es blauäugig, einen Ausweg in der Wiederkehr nationaler Souveränität zu suchen, die ein gemeinsames Interesse zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten unterstellt. Die Antwort kann nur in einem Europa und einer Welt ohne Grenzen bestehen, die von den heute Ausgebeuteten selbst regiert wird.

Galia Trépère

Die Freizügigkeit für Personen im Schengenraum ist ein Nebenprodukt des freien Warenverkehrs, an dessen Abschaffung die europäischen Kapitalisten kaum Interesse haben dürften. Genauso wenig dürfte ihnen am Austritt Großbritanniens, das ohnehin schon außerhalb der Eurozone und des Schengenraums steht, aus der EU gelegen sein. Genau dies dürfte aber passieren, wenn die Brexiteers das Referendum gewinnen [was ja inzwischen eingetreten ist], das Cameron seinerzeit aus wahltaktischen Gründen versprochen hatte.


Gegen das Erstarken der extremen Rechten …


Bereits heute gibt es in Europa eine starke Tendenz zur nationalen Abschottung und Schließung der Grenzen, die zum einen Folge der Flüchtlingskrise und zum anderen des Drucks ist, den die rechtsextremen Parteien – einschließlich faschistischer oder faschistoider Gruppierungen wie die Goldene Morgenröte in Griechenland und Jobbik in Ungarn – ausüben. In ihnen kommt – in pervertierter, rassistischer und fremdenfeindlicher Form – der Protest von Teilen der Bevölkerung gegen die Austeritätspolitik der herkömmlichen Parteien zum Ausdruck.

Während der Front national in Frankreich und die UKIP in Großbritannien erst noch an die Pforten der Macht klopfen, haben sich andere dort bereits etabliert – etwa die Fidesz von Victor Orban, die seit 2010 regiert und notabene Mitglied der EVP ist, oder seit vergangenem Oktober die PIS von Jaroslaw Kaczynski in Polen. In Österreich ist der Präsidentschaftskandidat der FPÖ, die bereits zwischen 2000 und 2007 Koalitionspartner in der Regierung gewesen ist, nur knapp gescheitert [, zumindest bis zur Wahlwiederholung am 2. Oktober].

Die Grenzbarrieren und Polizeikontrollen, mit denen die EU bislang die Einwanderungs- und Flüchtlingsbewegung über Abkommen mit den Anrainerstaaten der EU auf Abstand halten wollte, haben sich angesichts des massenhaften Andrangs an den Grenzen als wirkungslos erwiesen. Die jetzige Stärkung der Außengrenzen der EU führt zwangsläufig auch dazu, die Binnengrenzen zwischen den EU-Ländern wieder stärker zu kontrollieren.

Auch die demokratischen Rechte folgen dieser Logik. Natürlich ist es den Spitzen der Bourgeoisie angenehmer, ihre Herrschaft über ein Land durch ein demokratisches statt ein Polizeiregime zu sichern und die Mehrheit der Bevölkerung dabei hinter sich zu haben, statt Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Aber genau dies findet in Frankreich seit der Verhängung des Ausnahmezustands und der Repression gegen die Anti-Arbeitsgesetz-Bewegung statt, wo die demokratischen Rechte, bspw. das Demonstrationsrecht zunehmend eingeschränkt werden und sich Polizeigewalt häuft.

Die Regierungen bereiten der extremen Rechten den Boden, wenn sie gegen diejenigen vorgehen, die gegen die zunehmend ungerechte, aber staatlich geschützte kapitalistische Ordnung protestieren, und MigrantInnen und Flüchtlinge menschenunwürdig behandeln, wie dies in Calais oder gegen die Roma passiert. Indem man sie kriminalisiert, ihnen die Verantwortung für die schlechte Behandlung in die Schuhe schiebt und sie der übrigen Bevölkerung gegenüber als unerwünscht stigmatisiert, gießt man Wasser auf die Mühlen der reaktionären Demagogen und der extremen Rechten, die die Ausländer zu Sündenböcken machen.


… helfen nur offene Grenzen und Niederlassungsfreiheit!


Weder Barrieren und Mauern noch verstärkte Grenzkontrollen können verhindern, dass Millionen von Menschen, die nicht mehr in ihren von Kriegen und Elend zerstörten Ländern leben können oder durch die Folgen des Klimawandels vertrieben werden, neue Routen finden, auf denen sie in die reichsten Länder der Erde, darunter die europäischen, gelangen. Dies auch dann, wenn sie auf ihrer gefährlichen Flucht zu Land und zu Wasser ihr Leben riskieren und schreckliche Leiden dabei erdulden müssen und unter elenden Bedingungen in Flüchtlingscamps und unter Gewahrsam gehalten werden.

Wenn man diese katastrophalen Zustände wirklich beenden und zu deren Lösung beitragen will, dann muss man die Grenzen öffnen und Reise- sowie Niederlassungsfreiheit gewähren. Dies ist auch der einzige politische Weg, um gegen die extreme Rechte, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorzugehen. Die Regierungen rechtfertigen häufig ihre repressive Politik gegenüber den Flüchtlingen mit dem Einfluss der extremen Rechten auf die öffentliche Meinung. Umgekehrt wird ein Schuh draus, nämlich dass sie die öffentliche Meinung in diese Richtung lenken, indem sie die Politik der extremen Rechten kopieren.

Was hindert die Regierungen daran, die Grenzen zu öffnen und die Elends- und Kriegsflüchtlinge menschenwürdig aufzunehmen und ihnen Wohnung und Arbeit anzubieten? Dasselbe, was sie daran hindert, das Elend hierzulande, die Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu beenden – die Profitgier ihrer Auftraggeber in den multinationalen Konzernen und Banken nämlich, die eine Politik einfordern, mit der die öffentlichen Gelder in Unternehmenssubventionen statt in sozial notwendige und nützliche Projekte fließen.


Statt eines Europa der Kapitalisten …


Die EU ist außerstande, mit dieser Logik zu brechen, da sie – anders, als ihre „Gründerväter“ glauben machen wollen – nicht aus dem Willen der Völker zur Zusammenarbeit entstanden ist, sondern als ein Wirtschaftsbündnis zwischen den Kapitalisten dieser Länder, die von den USA auf den zweiten Rang verwiesen worden sind und sich gegen deren und der asiatischen Konkurrenz erwehren wollen.

Die europäischen Kapitalisten haben die Welt im Lauf des 20. Jahrhunderts zweimal in Schutt und Asche gelegt, um ihre Rivalität auszutragen. Dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg „friedlich“ geworden sind, lag nur daran, dass sie durch den US-Imperialismus eindeutig beherrscht wurden. Der wiederum hatte selbst starkes Interesse – zum Wohle der eigenen Exportwirtschaft – an einem uneingeschränkten Warenverkehr zwischen den europäischen Ländern, ohne dass exorbitant hohe Zölle und Steuern darauf drücken, wie sie bis Ende der 60er Jahre üblich waren.

Die europäische Integration wurde in der Folge als ein Instrument der besitzenden Klassen und ihrer mächtigsten und reichsten Fraktionen vorangetrieben, um die Lasten der wirtschaftlichen Konkurrenz, die sie mit ihresgleichen auf der ganzen Welt ausfechten, den Lohnabhängigen und der Bevölkerung im jeweils eigenen Land aufzuhalsen, indem sie im Zuge der Globalisierung die Arbeitskräfte weltweit gegeneinander konkurrieren lassen.

Es ist der Bourgeoisie der europäischen Länder zwar gelungen, einen einheitlichen Markt, einen Binnenraum mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und eine Einheitswährung zu schaffen, hingegen waren sie nicht dazu in der Lage, ihren Nationalstaat aufzugeben, der ihnen großenteils ihre Privilegien garantiert und ihnen zugleich dabei dient, den Lohnabhängigen im jeweiligen Land vorzumachen, dass sie ein gemeinsames Interesse mit dem „nationalen“ Kapital haben. Die verschiedenen Krisen, die die EU erlebt hat, haben offenbart, dass es keine wirklich gemeinsame europäische Politik gibt, sondern allenfalls Kompromisse entlang der Kräfteverhältnisse, die von den reichsten und mächtigsten Staaten, voran Deutschland und Frankreich, durchgesetzt werden. Und es sind die ärmsten Länder in der Peripherie, Spanien, Italien oder Griechenland, auf deren Rücken die reichen die Last der Flüchtlingsströme abwälzen.

Das Europa der EZB und des Euro ist nichts anderes als das Europa der Kapitalisten. Die EU-Führer haben noch nie entlang der Interessen der Bevölkerung gedacht und gehandelt. Ihr Handeln wird bestimmt von ihrem Machterhalt und der Wahrung der Interessen der Besitzenden. Diese wiederum greifen den Lebensstandard der Bevölkerung an, um noch mehr Reichtum zu scheffeln.


… eines der ArbeiterInnen und Völker!


Die Zuspitzung der Lage und das Scheitern der europäischen Staaten und der EU einerseits und das Verlangen nach Fortschritt und Demokratie andererseits können ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ein anderes Europa, nämlich das der Völker und ArbeiterInnen notwendig ist.

      
Mehr dazu
Catherine Samary: Kein „Lexit ohne „Ein anderes Europa ist möglich“, Inprekorr Nr. 6/2016 (November/Dezember 2016)
Phil Hearse: GB und der Brexit: Dichtung und Wahrheit, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Socialistisk Arbejderpolitik (SAP): Nach dem Brexit – eine EU-Kritik von links, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Jakob Schäfer: Die EU nach dem Brexit - in einer politischen Krise oder in einer unlösbaren Strukturkrise?, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Büro der Vierten Internationale: Brexit: Für Einheit und Solidarität in Europa, gegen Rassismus und Sozialdumping, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Erklärung von Socialist Resistance: Der Brexit-Sieg ist ein Desaster, aber der Kampf geht weiter, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Terry Conway: Wird Großbritannien für den EU-Austritt stimmen?, Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016) (nur online)
Erklärung der Europäischen Antikapitalistischen Linken: Ein anderes Europa ist möglich! Nein zu der Verfassung der multinationalen Konzerne!, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
François Sabado: Den Angriffen des Kapitals entgegentreten!, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
François Vercammen: Gegen EU und Euro – für ein anderes Europa, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
 

In der Gesellschaft stehen sich zwei Grundtendenzen gegenüber: Auf der einen Seite geht es um Verteidigung der kollektiven Interessen und Solidarität, auf der anderen herrscht die Angst vor dem Anderen, dem Fremden, was letztlich dazu dient, die Interessen von Minderheiten und deren Privilegien zu verteidigen. Ohne die Solidarität und materielle Hilfe aus der Bevölkerung und das Engagement tausender freiwilliger Helfer könnten die Flüchtlinge nicht überleben, ebenso wenig wie ohne die gegenseitige Solidarität untereinander.

Damit aber diese Solidarität wirklich zu einer starken Kraft wird, muss sie von den AktivistInnen und ArbeiterInnen als integraler Bestandteil ihres Kampfes um die eigenen Interessen gegenüber Kapital und Regierung verstanden werden. Dazu gehören auch ein Bewusstsein über die parasitäre Rolle der besitzenden Klassen und die Überzeugung, die Gesellschaft aus eigener Kraft lenken zu können. Ob EinwandererIn oder Flüchtling der ersten, zweiten oder zehnten Generation – alle sind wir ProletarierInnen, die kein Vaterland haben und nur eine Grenze kennen, nämlich die zwischen den Klassen.

Von all den Krisen, die die europäische Integration erschüttert haben, ist zweifellos diejenige am schwerwiegendsten, die aus deren Unvermögen resultiert, dem dramatischen Schicksal von Millionen von Frauen, Männern und Kindern, die vor Krieg und Elend fliehen, auch nur die geringste Abhilfe schaffen zu können.

Der Ursprung all dieser Krisen liegt in der Grundstruktur der EU, nämlich im Widerspruch zwischen der Tendenz zur Erweiterung der EU und der Überwindung der nationalen Grenzen einerseits und den Eigeninteressen der jeweiligen „nationalen“ Bourgeoisie, die zur Aufrechterhaltung der Nationalstaaten führen, andererseits. Im Zeitalter der Globalisierung und der multinationalen Konzerne sind es zweifellos die Zauberlehrlinge der fremdenfeindlichen und rassistischen Demagogie, die die nationale Rückbesinnung propagieren. Das Beispiel einiger Länder zeigt jedoch, dass dies nicht das Privileg allein der extremen Rechten ist.

Alle reichen Länder der Erde, die letztlich für die ökonomische Rückständigkeit und die Verelendung der übrigen Welt sowie für die Kriege im Nahen Osten und in Afrika verantwortlich sind, verschließen ihre Türen vor den Flüchtlingen, für deren Fluchtursachen sie selbst verantwortlich sind.

Europa könnte eine ganz andere Rolle spielen, wenn es nicht das kapitalistische Europa der EZB, der Multis und Banken wäre. Darum wird es u. a. in den kommenden Klassenkämpfen gehen, nämlich ein anderes Europa zu schaffen, das selbst ohne Grenzen ist und dazu beiträgt, eine Welt ohne Grenzen zu schaffen – ein Europa des Friedens und Fortschritts. Auch dies lehrt uns die gegenwärtige Krise.

Übersetzung: MiWe
Aus: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du NPA, Juni 2016



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz