Europäische Union

GB und der Brexit: Dichtung und Wahrheit

Nicht nur gingen die Positionierungen der linken Organisationen vor dem Referendum weit auseinander. Auch in der Bewertung des Ausgangs der Abstimmung sind sich die Linken alles andere als einig.

Phil Hearse

Die politische Linke und die KommentatorInnen aus dem Mitte-Links-Spektrum haben eine Unmenge an Einschätzungen und Analysen hervorgebracht. Einige davon sind vernünftig, andere sind voller Halbwahrheiten und ein paar sind auch reine Phantasieprodukte. Es soll mit den Phantasiegeschichten in dieser Debatte begonnen werden: „Ein Sieg über die Austeritätspolitik und den Neoliberalismus“, so lautete die erste Reaktion auf der Website der Socialist Workers Party. Eine solche Bilanz ist komplett falsch.

Selbst dann, wenn die Abstimmung hauptsächlich als ein Ergebnis eines Aufstandes der ArbeiterInnenklasse, die die Schnauze voll hat von völliger Missachtung und Überausbeutung, angesehen wird, übersieht die These, der Ausgang des Referendums sei ein Sieg über den Neoliberalismus, den zentralen politischen Inhalt, dass der Brexit aufgrund einer massenhaften Feindschaft gegenüber Einwanderern hat siegen können. Darunter findet sich auch viel rassistisches oder mindestens fremdenfeindliches Verhalten.

Mit anderen Worten sind Millionen von ArbeiterInnen, die unter Armut und wachsender sozialer Ungleichheit leiden und unter miserablen Bedingungen leben, ohne einen Ausweg daraus zu sehen, im Laufe der Kampagne (und viele sicher auch schon lange vorher) zu der absolut falschen Schlussfolgerung verleitet worden, dass eine Politik des Einwanderungsstopps helfen könnte, selber die „Kontrolle“ zu erhalten und die eigenen Probleme zu lösen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Machtverschiebung zugunsten von Michael Gove und Boris Johnson bedeutet eine politische Wende nach rechts, die zu einer Verdopplung der Angriffe auf die Lohnabhängigen führen wird.

Die ArbeiterInnenklasse und die ärmeren Schichten der Mittelklasse werden häufig zu einer Unterstützung von PolitikerInnen fehlgeleitet, die komplett gegensätzlich zu ihren eigenen Interessen stehen. Dies insbesondere durch die penetrante Wiederholung der neoliberalen Lügen in den Massenmedien. Das zeigt sich an der Massenunterstützung der Tea Party in den USA, die von den MilliardärInnen geführt und organisiert wird, wie auch an der Gefolgschaft für Donald Trump. Auch auf den Front National in Frankreich unter seiner Führerin Marine Le Pen trifft dies zu. Ebenso auf viele der übrigen Rechtsparteien in Europa und anderswo.

Die stellvertretende Generalsekretärin der Socialist Party, Hannah Sell, teilt die Fehleinschätzung in diesem Punkt: „Gleichzeitig ist es völlig falsch, zu unterstellen, dass die Stimme für den Austritt im Wesentlichen einen rechtsradikalen oder rassistischen Kern hätte. Natürlich haben einige derjenigen, die für den Austritt gestimmt haben, dies aus rassistischen oder nationalistischen Gründen getan. Dennoch ist der grundsätzliche Wesenszug des Entscheids für den Austritt ein Aufstand der ArbeiterInnenklasse. Die ArbeiterInnenbewegung ist niemals zu hundert Prozent „rein“ und völlig frei von reaktionären Kräften und Unterströmungen. Es ist die Aufgabe der SozialistInnen, die vorrangige Botschaft zu erkennen – und das ist in diesem Fall ein rebellisches Wahlverhalten gegen das Establishment.“

Es ist bezeichnend, wie ausweichend der Begriff „Aufstand der ArbeiterInnenklasse“ ist. Er umgeht die präzise politische Charakterisierung des Brexit-Entscheids (und das ist mit Sicherheit „vorrangig“) und versteckt sich hinter angeblich soziologischen Fakten; es ist aber ein Zeichen chronischer politischer Fehleinschätzung.

Neben den Erklärungen der radikalen Linken gibt es bei den linksliberalen KommentatorInnen einige interessante Einschätzungen, die mit groben Vereinfachungen bezüglich des Klassencharakters und des politischen Inhalts der Abstimmung über „Remain“ oder Brexit kombiniert werden. Im Guardian zitiert John Harris eine Frau aus Manchester wie folgt: „Wenn du viel Geld hast, stimmst du für ‚in‘, wenn du wenig Geld hast, stimmst du für ‚out’.“ John Harris selbst wiederholt diese Vereinfachung nicht, aber offensichtlich findet er das meiste daran richtig. Faktisch ist dies also eine Simplifizierung.

Es sei daran erinnert, dass über 16 Millionen Menschen für „Remain“ gestimmt haben, darunter große Teile der ArbeiterInnenklasse und von Labour-UnterstützerInnen. Alle Großstädte mit Ausnahme von Birmingham haben für den Verbleib gestimmt. Es ist falsch zu sagen, das sei deswegen, weil die Zentren dieser Städte von einer Masse an Wohlhabenden und KleinbürgerInnen bevölkert seien. Es glaubt zum Beispiel niemand, dass der Sieg von Saddiq Khan bei den Bürgermeisterwahlen zustande kam, weil in London großflächig die reiche Bevölkerung für ihn gestimmt hat, im Gegenteil. Und auch auf die „Remain“-Mehrheit in den Innenstadtbereichen von London trifft dies nicht zu.

Im Gegenteil, auch die Innenstadtbezirke von London, die mehrheitlich von ArbeiterInnen und multikulturell geprägt sind, stimmten für den Verbleib. Multikulturalismus ist dabei oft ein Schlüsselfaktor. Anders in Sunderland zum Beispiel, wo nur wenige MigrantInnen leben. Hier stimmten 60 Prozent für den Brexit.

Die einzigen Londoner ArbeiterInnenbezirke, die für den Brexit gestimmt haben, waren Barking, Dagenham und Havering. In Barking und Havering lebt vor allem die weiße ArbeiterInnenklasse, die stark unter dem wirtschaftlichen Niedergang und der Verarmung gelitten hat. In beiden Bezirken erzielt die radikale Rechte seit langem bedeutende Erfolge. Es gibt auch einen anderen Brexit-Bezirk mit großer, aber mehr gemischter ArbeiterInnenbevölkerung: Hillingdon. Das ist ein seit langem von den Tories geprägter Bezirk und aktuell der Wahlkreis von Boris Johnson.

In Haringey aber, mit seinen heruntergekommenen Gegenden stimmten 79 Prozent für den Verbleib. Das ist deshalb, weil Haringey stark multiethnisch und multikulturell geprägt ist. Es muss hier dazu gesagt werden, dass das Bild der ArbeiterInnenklasse aufgrund der teilweisen Verunglimpfungen der Innenstädte ein wenig verworren ist. Viele junge ArbeiterInnen haben heutzutage einen Uni-Abschluss und arbeiten (in der Regel schlecht bezahlt) am Schreibtisch. Sie wohnen oft auch in den Innenstädten und haben überwiegend für den Verbleib gestimmt. Das sind keine Neureichen, die sich auf Kosten der traditionellen ArbeiterInnenklasse im Norden und in den Midlands bereichert haben.

Damit beginnt sich das Bild zu vervollständigen. Ganz sicher haben bedeutende Teile der (vor allem weißen) ArbeiterInnenklasse, wie von John Harris oder Aditya Chakrobbati richtig beobachtet, für den Brexit gestimmt. Sie gehören zu den ärmsten und am meisten entfremdeten Schichten. Aber Armut und Entfremdung sind nicht der einzige Grund für das Stimmverhalten. Andere kulturelle und politische Faktoren kommen hinzu. Vor erst das Alter: Es gibt ein fast perfektes Abbild des Alters bei dem Stimmverhalten. Die 18 bis 25-Jährigen haben massiv für den Verbleib gestimmt, die über 65-Jährigen für den Brexit. Viele junge Leute wurden auch nicht ins Wahlregister aufgenommen, weil sie eine prekäre Wohnsituation haben. Die alten Menschen gehen dagegen eher zur Wahl, und das begünstigt immer konservative Haltungen.

Zweitens hat eine Untersuchung, die gestern veröffentlicht wurde, gezeigt, dass die Menschen, die eine linke Weltsicht haben, für „Remain“ stimmten, während die mit einer eher rechten oder konservativen Gesinnung für „Leave“ votierten. Dabei gab es eine Ausnahme bezüglich der Einschätzung von „Globalisierung“ und „Kapitalismus“. Die Hälfte sowohl der „Remain“- als auch der „Leave“-Stimmen sehen den Kapitalismus als etwas Negatives. Alle anderen Kategorien wie Einwanderung, Feminismus, Ökologiebewegung und Multikulturalismus wurden bei den Brexit-WählerInnen überwiegend negativ eingeordnet. Der Multikulturalismus wurde zu 71 Prozent von den „Leave“-WählerInnen negativ bewertet. Möglicherweise ist eine solche Untersuchung etwas vereinfachend, aber ich bezweifle, dass die Ergebnisse dadurch sehr stark verfälscht werden.

Drittens bildet das Stimmverhalten auch die Regionen ab, in denen die UKIP eine bedeutende WählerInnenbasis hat oder die Rechte traditionell stark ist. Diese Basis hat sich in der letzten Zeit noch ausgeweitet, etwa in Südwales. Die Deindustrialisierung und der Niedergang der ArbeiterInnenbewegung, manchmal in Verbindung mit einem demographischen Niedergang, weil die jungen Leute abgewandert sind, haben Labour und die Linke stark geschwächt. Das ist alles andere als neu.

Ich habe bereits in einem Artikel von 2009 ausgeführt: „Wenn der Erfolg der UKIP auch auf einer langfristigen reaktionären, fremdenfeindlichen Kampagne der Massenmedien aufbaut, so wurde er auch von ebenso langfristig wirkenden sozialen und politischen Faktoren begünstigt. Allen voran durch die Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung durch die Thatcher-Regierung und ihrer Nachfolger. Die hatten gravierende strukturelle Auswirkungen. Die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaftsbewegung sind nicht mehr so wie in den 1970er Jahren. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften geht zurück und ebenso sind die großen Kraftzentren der ArbeiterInnenklasse – in den Bergwerken, dem Anlagen- und Maschinenbau, den Autofabriken und anderswo – verschwunden. Der Neoliberalismus hat die Spaltungen der ArbeiterInnenklasse vertieft und sowohl zu Zentren der Neureichen als auch der langfristig Armen geführt.

      
Mehr dazu
Catherine Samary: Kein „Lexit ohne „Ein anderes Europa ist möglich“, Inprekorr Nr. 6/2016 (November/Dezember 2016)
Galia Trépère: Für ein anderes Europa ohne Grenzen und Ausbeutung, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Socialistisk Arbejderpolitik (SAP): Nach dem Brexit – eine EU-Kritik von links, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Jakob Schäfer: Die EU nach dem Brexit - in einer politischen Krise oder in einer unlösbaren Strukturkrise?, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016)
Büro der Vierten Internationale: Brexit: Für Einheit und Solidarität in Europa, gegen Rassismus und Sozialdumping, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Erklärung von Socialist Resistance: Der Brexit-Sieg ist ein Desaster, aber der Kampf geht weiter, Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016) (nur online)
Terry Conway: Wird Großbritannien für den EU-Austritt stimmen?, Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016) (nur online)
Erklärung der Europäischen Antikapitalistischen Linken: Ein anderes Europa ist möglich! Nein zu der Verfassung der multinationalen Konzerne!, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
François Sabado: Den Angriffen des Kapitals entgegentreten!, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
François Vercammen: Gegen EU und Euro – für ein anderes Europa, Inprekorr Nr. 308 (Juni 1997)
 

Die Schwäche der Analysen von John Harris und Aditya Chakrobbati liegt darin, dass sie die Rolle der sozialen und ökonomischen Faktoren bei den „Leave“-WählerInnen übertreiben und die politischen und ideologischen Faktoren unterbewerten. Es mag vielleicht stimmen, wenn John Harris sagt, dass viele der „Leave“-WählerInnen, die er überall im Land getroffen hat, keine offenen RassistInnen sind. Aber das ist nicht der Punkt. Wichtig ist, dass diese Leute hinter eine fremdenfeindliche und Anti-Migrations-Stimmung versammelt werden konnten, die irrational und vergiftend ist. Sie bettet sich ein in eine europaweite Hysterie gegenüber dem Ansturm von MigrantInnen auf Europa, aus Ländern, die unter der Verantwortung des Westens destabilisiert wurden. und in eine Flut der Islamophobie. Die Menschen mögen gute Gründe haben, von der EU die Schnauze voll zu haben. Aber das ist nicht der Grund, warum der Brexit erfolgreich war. Der Brexit konnte gewinnen, weil die Flut an Lügen, die über die Einwanderung von den rechten PolitikerInnen, Zeitungen und Fernsehen verbreitet wurden, nicht zurückgedrängt werden konnte.

Es ist allerdings ebenso sicher, dass die Niederlage der „Remain“-Kampagne nicht im Versagen von Jeremy Corbyn begründet ist. Die Kampagne von Jeremy war sicher nicht brillant, aber es ist auch schwer, Wirkung zu erzielen, wenn die Massenmedien dich ignorieren und sich auf die zwei Flügel der Tory-Partei fokussieren. Der Misstrauensantrag in der Labour-Fraktion, eingebracht von Margaret Hodge und Ann Coffey, vor vorhersehbar. Was dagegen nicht vorhergesehen werden konnte, ist, dass zum Zeitpunkt dieses Artikels bereits 140 000 Menschen die Petition unterzeichnet haben, die sich gegen diesen Misstrauensantrag richtet. Die Versuche, Jeremy Corbyn loszuwerden, werden weiterhin hart umkämpft sein.

Dass sich Polly Toynbee den Anti-Corbyn Anträgen anschloss, war vorhersehbar. Aber das Blairite- und Anti-Corbyn-Lager ist mit einem unlösbaren Widerspruch konfrontiert, dem sie sich nicht stellen wollen. Die Ablösung großer Teile ihrer früheren UnterstützerInnen von der Labour-Party ist nicht auf den Vorsitzenden Jeremy Corbyn zurückzuführen, sondern ist ein Ergebnis der Zeit von Tony Blair als Premierminister und dem von seiner Labour Party verfolgten Neoliberalismus, der unvermeidlich zu wachsender Armut und Ausgrenzung führt. Sie möchten die Zeit gerne zurückdrehen, um ihren Blair wiederzubeleben oder eine britische Hillary Clinton . Ihre Antwort auf das, was geschehen ist, ist die Forderung, dass Labour noch weiter nach rechts rückt.

Die Linke muss sich jetzt selbstverständlich um Kampagnen und harte Kämpfe vereinen, die sich bei einer neuen Tory-Regierung ergeben. Es ist auch erforderlich, dass eine tiefer gehende strategische Diskussion über die Kette an Niederlagen für die Linke beginnt, um sich auch international für eine lange Periode der politischen Reaktion neu aufzustellen.

25. Juni 2016
Quelle: „UK & Brexit: Fact and Fiction about the Referendum“
aus: europe-solidaire.org
Übersetzung: Thies Gleiss



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 5/2016 (September/Oktober 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz