Ukraine

Wir befinden uns mehr denn je im Zeitalter der „bewaffneten Globalisierung“

Interview mit Claude Serfati, Wirtschaftswissenschaftler und Experte für Rüstungsfragen

 Im Jahr 2020 sind die weltweiten Militärausgaben trotz der pandemiebedingten Rezession im Vergleich zu 2019 um 2,6 % angestiegen. Kannst du uns einen Überblick über dieses Thema geben?

Nach Angaben des Internationalen Friedensforschungs­instituts SIPRI in Stockholm haben die weltweiten Militär­ausgaben im Jahr 2020 zwei Billionen US-Dollar erreicht, was einem Anstieg von fast 80 % (in US-Dollars, inflationsbereinigt) seit 1995 entspricht. Von diesen Steigerungen sind alle Teile der Welt betroffen. Im Jahr 2020 ent­fielen auf die USA fast 40 % und auf die NATO-Länder rund 60 % der weltweiten Militäraus­gaben.

Die Tragödie der Menschen in der Ukraine hat in der euro­päischen Bevölkerung verständlicherweise eine Welle der Empörung und Soli­darität ausgelöst. Vor diesem Hinter­grund ist die Haltung der führenden Politiker der EU-Mitgliedsstaaten noch verwerflicher, denn nicht nur die „illiberalen“ Regierungen Polens und Ungarns, sondern auch Frankreich hatten bei der Abschottung gegen Kriegs­flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten eine führende Rolle gespielt.

Die Aggression des russischen Imperialismus darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weltweit mehr als 50 bewaffnete Konflikte gibt, von denen fast die Hälfte den afrikanischen Kontinent erschüttert. Diese „neuen Kriege“ sind ständige Begleiter der „Globalisierung“, und die „entwickelten“ Länder sind auf vielfache Art daran beteiligt: über ihre mächtigen Industriekonzerne, die die natürlichen Res­sourcen ausbeuten, über ihre großen Banken, die das Vermögen der nationalen Eliten in ihren Steuerparadiesen recyceln, durch den Verkauf von Waffen, die die Kon­flikte anheizen usw. Wir befinden uns mehr denn je im Zeitalter der „bewaffneten Globalisierung“.

 Russlands Aggression gegen die Ukraine wird den Trend zur Militarisierung und zur Erhöhung der „Ver­teidigungs“-Ausgaben der NATO-Staaten ver­stärken.

Die Militärbudgets der meisten NATO-Länder befanden sich bereits in den 2010er Jahren in einem Aufwärts­trend. Der Militär­haushalt der USA ist nach einem leichten Rück­gang stark angestiegen: auf 616 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 und auf 715 im Jahr 2022. Noch vor der russischen Invasion wurden für das Jahr 2026 780 US-Dollar prognostiziert. Die Verteidigungsbudgets der euro­päischen Länder belaufen sich aktuell auf insgesamt 378 Milliarden US-Dollar. Im Lauf des letzten Jahrzehnts sind sie in Westeuropa um 8,5 %, in den mitteleuropäischen Ländern um 31 % und in Osteuropa um 74 % angestiegen (Quelle: SIPRI).

 Der Fortbestand der NATO wurde trotz der Auf­lösung des Warschauer Pakts nicht in Frage gestellt. Zwar erklärte Macron im November 2021 die NATO de facto für „hirntot“, aber heute hat es den Anschein, dass sich alle west­europäischen Staaten in ihren Schoß flüchten wollen. Neue US-amerikanische Truppen marschieren in Europa ein. Was soll man von Putins wieder­holt geäußerten Befürchtungen halten, dass die Aus­dehnung der NATO nach Osten eine Gefahr für Russland darstellt?

Die NATO wurde 1949 als bewaffnete Organisation gegen die Bedrohung Europas durch die Sowjetunion gegründet. Sie unterstützte Frankreichs Krieg in Indochina, den Staatsstreich in Griechenland (1967), den Faschismus in Portugal und so weiter. Die Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 hatte nicht den Untergang der NATO zur Folge, sondern eine Umgestaltung in zwei wesentlichen Fragen, und zwar bereits 1991 und dann auf dem Gipfeltreffen in Washington 1999 mit der Annahme eines neuen „strate­gischen Konzepts“. Zum einen hat die NATO ihr Inter­ventionsspektrum auf den gesamten Planeten ausge­weitet. Das hat 1999 im Irak und im ehemaligen Jugo­slawien mit der Bombardierung Serbiens begonnen und sich in Afghanistan (2001), in Libyen (2011) und in zahl­reichen anderen Regionen fortgesetzt. Zum anderen hat die NATO nach dem Niedergang der Sowjetunion die „Sicherheit“ als neue Devise ausgegeben – ein vager Begriff, dessen ideologischer Kitt jedoch das folgende Dreigestirn war: kapitalistische Marktwirtschaft = Demo­kratie = Frieden. Die potenziellen Feinde stehen sowohl auf militärischer als auch auf ziviler Seite, die Bedrohung geht von Staaten sowie von nichtstaatlichen Akteuren aus und die Sicherheit der Mitglieder des Atlantischen Bünd­nisses kann durch zahlreiche Risiken beeinträchtigt werden, darunter „die Unterbrechung des Zugangs zu unverzichtbaren wirtschaftlichen Ressourcen“. Die US-amerikanische Doktrin von 1997 hat diese Formel mit der Erklärung präzisiert, dass die USA sich das Recht vorbe­halten, einseitig militärisch zu intervenieren, um „den unge­hinderten Zugang zu lebenswichtigen Märkten, zur Energieversorgung und zu strategischen Ressourcen zu gewährleisten“. Die NATO ist also nach wie vor der bewaffnete Arm des von mir so bezeichneten „trans­atlantischen Blocks“, der die europäischen Länder unter der Vorherrschaft der USA wirtschaftlich, militärisch und auf Basis gemeinsamer „Werte“ (die des oben erwähnten Dreigestirns) zusammenhält.

Die Ausdehnung der NATO nach Osteuropa spiegelte das Kräfteverhältnis nach der Auflösung der UdSSR wider. Heute fordert Putin eine Neuverteilung der Karten zwischen den imperialistischen Ländern. Die Rivalitäten zwischen den Großmächten, die wirtschaftlichen Einfluss mit militärischer Stärke kombinieren, gibt es nach wie vor. Das Zeitalter des Imperialismus ist nicht vorbei.

Emmanuel Macron hat mit seinem Ehrgeiz, zum Retter des Planeten zu werden, einmal mehr seine Begabung, eine Sache und „gleichzeitig“ ihr Gegenteil zu behaupten, unter Beweis gestellt. Er sah sich bereits als westliche Alternative zu Donald Trump. Allerdings hatte Trump nie vor, die NATO zu zerstören, er bestand vielmehr darauf, dass die Europäer einen größeren Teil der „Last“ der Ver­teidigung der „freien Welt“ übernehmen sollten. Diese Position hatten bisher alle Präsidenten der USA vertreten. Trump lobte Macron für das militärische Engagement Frankreichs und tadelte Angela Merkel für ihre nur mäßige militaristische Begeisterung. Das Budget für die mili­tärische Präsenz von US-amerikanischen Truppen in Europa (die Europäische Verteidigungs­initiative) wurde übrigens während Trumps Amtszeit erheblich aufge­stockt: von 800 Millionen auf 6 Milliarden US-Dollar zwischen 2016 und 2020.

 Deutschland hat angekündigt, seine Militärausgaben auf über 2 % des BIP erhöhen zu wollen, obwohl es bisher eher abwartend war und sich damit die Kritik der USA zugezogen hatte. Nun beteiligt sich die Euro­päische Union an der Militärhilfe für die Ukraine. Ist das der Beginn einer neuen Phase in der Geschichte der EU?

Offensichtlich ja. Der Krieg in der Ukraine wird die Militarisierung der EU (und des Vereinigten Königreichs) beschleunigen, denn die EU fängt nicht bei Null an. 2003 wurde eine Europäische Sicherheitsstrategie ange­nommen, die auf dem Papier der ein Jahr zuvor von der Regierung unter George W. Bush beschlossenen Strategie recht ähnlich ist. Das war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik. Die Kommission hat einen Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) eingerichtet, der im Jahr 2022 die Forschung und Entwicklung im Rüstungssektor mit zwei Milliarden Euro finanzieren wird.

Frankreich war seit jeher der vehementeste Befürworter einer Militarisierung der EU, was seit den 2010er Jahren und nach dem Brexit noch klarer ersichtlich wurde.

      
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Die französische Armee – sowohl was be­waffnete Ein­sätze als auch die Rüstungsindustrie betrifft – ist mittler­weile eine der letzten Bastionen, wo Frankreich „die Nase vorn hat“, und die französische Führung nutzt diesen Vor­sprung, um den anhaltenden Verlust der wirtschaftlichen Bedeutung des Landes zu kompensieren. Der Handel Frankreichs mit den meisten Mitgliedsstaaten ist defizitär. Die französische Industrie kann als „kranker Mann Europas“ bezeichnet werden.

Emmanuel Macron hat sich, seitdem er gewählt wurde, noch massiver für eine Militarisierung der EU eingesetzt: einerseits aus Überzeugung, aber auch, um angesichts der abnehmenden Bedeutung Frankreichs in ent­scheidenden wirtschaftspolitischen Fragen weiterhin Ein­fluss auf den Kurs der EU nehmen zu können.

Die russische Invasion stärkt die Position der Befürworter einer Militarisierung der EU. Die Rede von Bundeskanzler Scholz im Bundestag markiert zumindest auf der Ebene der Absichtserklärungen einen deutlichen Wandel in der deutschen Verteidigungspolitik. Es bleibt abzuwarten, wie schnell und in welchem Umfang die von ihm angekündigte Erhöhung des Verteidigungshaushalts um 113 Milliarden Euro umgesetzt wird.

Die NATO ist der „natürliche“ Rahmen für die Militari­sierung der EU und wird zweifellos eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich nach sich ziehen. Das haben alle führenden Politiker Frank­reichs – Rechte und Linke gleichermaßen – längst akzeptiert. Hubert Védrine, Außenminister unter François Mitterrand, fasste die französische Position folgender­maßen zusammen: „Die europäische Verteidigung ist nicht nur gut für Europa, sondern auch für das Atlantische Bündnis [die NATO]“. Das ist die eigentliche Botschaft hinter Macrons Geschwafel von der „europäischen Souveränität“: Er erwartet sich Vorteile für die großen französischen Rüstungskonzerne.

 In Frankreich gibt es bereits einen Trend zu höheren Militärausgaben. Kannst du einen Überblick über diesen Trend und seine voraus­sichtliche Zunahme geben?

Die Armee ist ein Kind der Fünften Republik. Zwischen 2000 und 2019 lag die Aufstockung des Verteidigungs­haushalts deutlich über der Erhöhung der Budgets für soziale Zwecke (Bildung, Wohnbau usw.) und wurde nur von der Steigerung der budgetären Mittel für die Polizei übertroffen. Während der Amtszeit von Macron sind die Militärausgaben um 50 % gestiegen. Das ist erst der Anfang. Bereits vor dem Krieg in der Ukraine erhielt das Militär Zusagen für eine noch stärkere Erhöhung. Die beiden Abgeordneten Patricia Mirallès und Jean-Louis Thiérot, die mit der Umsetzung dieser Pläne beauftragt waren, gingen davon aus, dass die Militärausgaben im Zeitraum 2022–2030 um 40 bis 60 Milliarden [Euro; Anm. d. Übers.] steigen müssten. (Der Verteidigungshaushalt für das Jahr 2022 beläuft sich auf 50 Milliarden Euro.)

Die [bevorstehenden; Anm. d. Übers.] Präsidentschafts­wahlen deuten darauf hin, dass das Weihnachts­fest für die Armee dieses Jahr in den April fällt. Im Namen der nationalen Einheit überbietet man sich an militaristischen Hochgefühlen, und diese Euphorie hat auch die Medien­landschaft im Handumdrehen erobert. Macron selbst hat verkündet, dass der Krieg „unser demokratisches Leben von Grund auf erschüttert“. Vorbehalte gegenüber der Demo­kratie­ sind in Frankreich jedoch nicht allein auf den Krieg zurückzu­führen, sondern in der Fünften Republik fest verankert: Verteidigungsfragen sind ausschließlich die Domäne des Präsidenten. Und er spielt damit wie nie zuvor. „Ich werde euch beschützen“ („Je vous protégerai“) dient als Wahlprogramm und kündigt eine stärkere Zentralisierung der Macht an.

Eine Wiederwahl von Emmanuel Macron „durch still­schweigende Verlängerung“ wird die soziale Krise nicht aus der Welt schaffen. Die Weihnachtsgeschenke müssen schließlich bezahlt, die explodierende Staatsverschuldung abgestottert und das Handelsdefizit finanziert werden. Der Versuch, die nationale Einheit und den „sozialen Krieg“ unter einen Hut zu bringen, um die französischen Unter­nehmen vor dem Untergang zu bewahren, kommt einer Gratwanderung gleich. Der Sicherheitsrausch, der seit den Terroranschlägen in Jahr 2015 13 Gesetze zur Ein­schränkung der persönlichen Freiheit (davon vier allein im Jahr 2021) zur Folge hatte, könnte sich zum Flächenbrand ausweiten.

Aus dem Französischen von E.F.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz