Ukraine

Die ukrainische Frage

Der folgende Text folgt den „Trotzki Schriften“ des Verlags Rasch & Röhring. [1] Von den dort sehr umfänglichen Anmerkungen der Herausgeber haben wir nur einen kleinen Teil übernommen.

Leo Trotzki

Die ukrainische Frage, die viele Regierungen, viele „Sozialisten“, selbst viele „Kommunisten“ zu vergessen oder auf die lange Bank der Geschichte zu schieben suchten, steht wieder einmal auf der Tagesordnung, aber diesmal mit doppelter Dringlichkeit. Die neue Zuspitzung der ukrainischen Frage ist aufs engste verknüpft mit der Entartung von Sowjetunion und Komintern, den Erfolgen des Faschismus und dem Näherrücken des nächsten imperialistischen Krieges. Gekreuzigt zwischen vier Staaten, ist die Ukraine heute in der Entwicklung Europas in die gleiche Situation geraten wie seinerzeit Polen, doch mit dem Unterschied, dass die internationalen Beziehungen heute unvergleichlich gespannter sind und das Tempo der Entwicklung sich beschleunigt hat. Die ukrainische Frage wird in allernächster Zukunft eine gewaltige Rolle im Leben Europas spielen. Nicht umsonst hat Hitler so geräuschvoll die Frage nach der Schaffung einer „Großukraine“ gestellt, und nicht umsonst hat er diese Frage mit solch verstohlener Eile wieder fallen lassen.

 

Roman Rosdolsky, ca. 1960

Foto: Fritz Keller

Die Zweite Internationale, die die Interessen der Arbeiterbürokratie und -aristokratie der imperialistischen Staaten auszudrücken pflegte, ignorierte die ukrainische Frage vollkommen. Selbst ihr linker Flügel schenkte der Frage nicht die nötige Aufmerksamkeit. Man muss sich nur daran erinnern, dass Rosa Luxemburg bei all ihrem glänzenden Intellekt und wahrhaft revolutionärem Geist die Aussage für möglich hielt, die ukrainische Frage sei Erfindung einer Handvoll Intellektueller. [2] Diese Einstellung hinterließ selbst bei der polnischen kommunistischen Partei einen tiefen Eindruck.

Die ukrainische Frage erschien den offiziellen Führern der polnischen Sektion der Komintern eher als ein Hindernis denn als ein revolutionäres Problem. Daher beständig die opportunistischen Versuche, dieser Frage auszuweichen, sie zu unterschlagen, mit Stillschweigen zu übergehen oder sie in eine unbestimmte Zukunft zu verschieben.

Der bolschewistischen Partei gelang es nicht ohne Schwierigkeiten und nur allmählich, unter dem ständigen Druck Lenins, eine richtige Herangehensweise an die ukrainische Frage zu finden. Das Recht auf Selbstbestimmung, d. h. das Recht auf Loslösung [von Russland], gestand Lenin den Polen und den Ukrainern gleichermaßen zu. Aristokratische Nationen erkannte er nicht an. Jede Neigung, das Problem einer unterdrückten Nationalität zu umgehen oder auf die lange Bank zu schieben, betrachtete er als Ausdruck großrussischen Chauvinismus. [3]

Nach der Eroberung der Macht begann in der Partei eine ernste Auseinandersetzung um die Lösung der zahlreichen, vom alten Russland ererbten nationalen Probleme. In seiner Eigenschaft als Volkskommissar für die Nationalitäten vertrat Stalin beständig die zentralistischste und bürokratischste Tendenz. Das zeigte sich besonders deutlich an der georgischen und der ukrainischen Frage. Die Korrespondenz über diese Angelegenheit ist bis heute nicht veröffentlicht worden. Wir hoffen, einen Teil davon zu veröffentlichen — den sehr kleinen Teil, der uns zur Verfügung steht. Aus jeder Zeile der Briefe und Vorschläge Lenins spricht das Bestreben, den in der Vergangenheit unterdrückten Nationalitäten so weit wie möglich entgegenzukommen. In den Vorschlägen und Erklärungen Stalins hingegen klingt unverändert die Tendenz zum bürokratischen Zentralismus an. Um „administrative Erfordernisse“, d. h. die Interessen der Bürokratie zu sichern, wurden die legitimsten Ansprüche der unterdrückten Nationalitäten zu einer Erscheinung des kleinbürgerlichen Nationalismus erklärt. Alle diese Symptome waren schon in den Jahren 1922/1923 zu beobachten. Seitdem wuchsen sie in ungeheuerlichem Maße und führten zur vollständigen Erdrosselung jeder unabhängigen nationalen Entwicklung der Völker der UdSSR.

Nach Auffassung der alten bolschewistischen Partei sollte die Sowjetukraine eine machtvolle Achse werden, um die herum sich die übrigen Teile des ukrainischen Volkes vereinigen sollten. Es ist unbestreitbar, dass die Sowjetukraine in der ersten Periode ihres Bestehens eine mächtige Anziehungskraft, auch in nationaler Hinsicht, entwickelte und Arbeiter, Bauern und revolutionäre Intelligenz der von Polen versklavten Westukraine zum Kampf anspornte. In den Jahren der thermidorianischen Reaktion wandelte sich jedoch die Lage der Sowjetukraine und damit der Rahmen der ukrainischen Frage insgesamt deutlich. Je größer die einmal geweckten Hoffnungen waren, desto schmerzlicher war nun die Enttäuschung. Die Bürokratie unterdrückte und plünderte das Volk auch in Großrussland aus. Aber in der Ukraine komplizierte sich die Angelegenheit durch die Zerstörung nationaler Hoffnungen. Nirgendwo haben Unterdrückung, Säuberungen, Repressalien und überhaupt alle Formen des bürokratischen Rowdytums derart mörderische Ausmaße angenommen wie im Kampf gegen das machtvolle, tief verwurzelte Streben der ukrainischen Massen nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit. Die Sowjetukraine wurde für die totalitäre Bürokratie zum Verwaltungsabschnitt einer Wirtschaftseinheit und einer UdSSR-Militärbasis. Die Stalinbürokratie errichtet Schewtschenko [4] zwar Denkmäler, aber nur, um das ukrainische Volk mit ihrem Gewicht zu erdrücken und es zu nötigen, der gewalttätigen Kreml-Clique Lobeshymnen in der Sprache Kobzars zu singen.

Leo Trotzki mit seiner Frau Natalia, 1937

Foto: unbekannt

 

Gegenüber den ukrainischen Gebieten außerhalb der UdSSR verhält sich der Kreml so, wie gegenüber allen unterdrückten Nationalitäten, allen Kolonien und Halbkolonien, d. h. der Kreml betrachtet sie als Wechselgeld für seine internationalen Abmachungen mit imperialistischen Regierungen. Auf dem kürzlich stattgefundenen 18. Parteitag der Stalinschen „Partei“ erklärte Manuilski, einer der widerlichsten Renegaten des ukrainischen Kommunismus, ganz offen, nicht nur die UdSSR, sondern auch die Komintern (ein „Krämerladen“ nach Stalins Worten) lehne es ab, die Befreiung der unterdrückten Völker zu fordern, wenn deren Unterdrücker keine Feinde der herrschenden Moskauer Clique sind. Indien wird heute von Stalin, Dimitroff und Manuilski gegen Japan, aber nicht gegen England verteidigt. Die Kremlbürokraten sind bereit, die Westukraine im Austausch gegen ein diplomatisches Abkommen, das ihnen gegenwärtig vorteilhaft erscheint, endgültig an Polen abzutreten. [5] Sie beschränken sich in ihrer Politik schon lange auf Männer im Rahmen der Tageskonjunktur.

Von dem früheren Vertrauen und der Sympathie der westukrainischen Massen für den Kreml ist keine Spur mehr übrig. Seit der letzten mörderischen „Säuberung“ in der Ukraine wünscht im Westen niemand mehr, sich der Kreml-Satrapie anzuschließen, die weiterhin Sowjetukraine genannt wird. Die Arbeiter- und Bauernmassen in der Westukraine, der Bukowina und der Karpato-Ukraine sind desorientiert: Wohin soll man sich wenden? Was soll man fordern? In dieser Situation gerät die Führung natürlich in die Hände der reaktionärsten ukrainischen Cliquen, deren „Nationalismus“ sich darin ausdrückt, das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen. Auf diese tragischen Verwirrungen gründet Hitler seine Politik in der ukrainischen Frage. Seinerzeit sagten wir: Ohne Stalin (d. h. ohne die verhängnisvolle Politik der Komintern in Deutschland) hätte es Hitler nicht gegeben. Dem können wir heute hinzufügen: Ohne die Vergewaltigung der Sowjetukraine durch die stalinistische Bürokratie gäbe es keine Hitlersche Ukrainepolitik.

Wir wollen hier nicht bei der Analyse der Motive verweilen, die Hitler dazu bewegten, seine Losung von einer Großukraine, zumindest vorläufig, aufzugeben. Diese Motive müsste man einerseits in den betrügerischen Bündnissen des deutschen Imperialismus suchen, andererseits in der Befürchtung, man werde einen bösen Geist rufen, den man dann nur schwer wieder loswerde. Hitler schenkte den ungarischen Henkern die Karpato-Ukraine. Das geschah zwar nicht mit der offenen Billigung Moskaus, aber doch in Erwartung einer solchen Billigung. Es war, als ob Hitler zu Stalin gesagt hätte: ,Hätte ich die Absicht, morgen die Sowjetukraine anzugreifen, dann hätte ich die Karpato-Ukraine in eigener Hand behalten.’ Als Antwort darauf übernahm Stalin auf dem 18. Parteitag öffentlich die Verteidigung Hitlers gegen die Verleumdungen der „westlichen Demokratien“. Hitler beabsichtigt, die Ukraine anzugreifen? Kein Gedanke! Gegen Hitler kämpfen? Nicht die geringste Veranlassung! Stalin interpretiert die Übergabe der Karpato-Ukraine an Ungarn offensichtlich als einen Akt der Friedensliebe. Das bedeutet, dass Teile des ukrainischen Volkes für den Kreml zum Wechselgeld in seinen internationalen Kalkulationen geworden sind.

Die Vierte Internationale muss sich klar sein über die gewaltige Bedeutung der ukrainischen Frage für das Schicksal nicht nur Südost- und Osteuropas, sondern ganz Europas. Es geht um ein Volk, das seine Lebensfähigkeit bewiesen hat, das zahlenmäßig der Bevölkerung Frankreichs gleichkommt [6] und ein außergewöhnlich reiches Territorium besitzt, ein Territorium, das zudem von höchster strategischer Bedeutung ist. Die Frage nach dem Schicksal der Ukraine stellt sich in ihrer ganzen Bedeutung. Wir brauchen eine klare und prägnante Losung, die der neuen Situation entspricht. Meiner Meinung nach kann es heute keine andere Losung geben als diese: Eine vereinigte, freie und unabhängige Sowjetukraine der Arbeiter und Bauern.

Dieses Programm steht vor allem zu den Interessen der drei imperialistischen Staaten Polen, Rumänien und Ungarn in unversöhnlichem Widerspruch. Nur hoffnungslose, pazifistische Dummköpfe können sich vorstellen, dass die Befreiung und Vereinigung der Ukraine durch friedliche diplomatische Mittel, durch Referenden, Beschlüsse des Völkerbunds usw. erreicht werden kann. Keinen Deut besser sind freilich jene „Nationalisten“, die die ukrainische Frage dadurch lösen wollen, dass sie einem Imperialismus Handlangerdienste gegen den anderen leisten. Diesen Abenteurern erteilte Hitler eine unschätzbare Lehre, indem er den Ungarn die Karpato-Ukraine überließ (für wie lange wohl?), die auf der Stelle eine nicht geringe Anzahl gutgläubiger Ukrainer ermordeten. Da die Angelegenheit von der militärischen Stärke der imperialistischen Staaten abhängig ist, wird der Sieg dieser oder jener Gruppierung nichts anderes zu bedeuten haben, als eine erneute Zerstückelung und eine noch brutalere Unterjochung des ukrainischen Volkes. Das Programm für die Unabhängigkeit der Ukraine ist in der Epoche des Imperialismus unmittelbar und unlösbar mit dem Programm der proletarischen Revolution verbunden. Es wäre verbrecherisch, irgendwelche Illusionen in diesem Punkt zu hegen.

      
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Leo Trotzki: Zur Frage der Arbeiterselbstverteidigung, die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020)
Roman Rosdolsky: Die Arbeiter und das Vaterland, Inprekorr Nr. 225 (März 1990)
 

Aber die Unabhängigkeit einer vereinigten Ukraine würde doch die Loslösung der Sowjetukraine von der UdSSR bedeuten, werden die „Freunde“ des Kreml im Chor rufen. Was ist denn daran so schrecklich? — entgegnen wir. Inbrünstige Verehrung von Staatsgrenzen ist uns fremd. Wir vertreten nicht die Position eines „vereinigten und unteilbaren“ Ganzen. Sogar die Verfassung der UdSSR erkennt den in der Föderation zusammengeschlossenen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung, das heißt das Recht auf Loslösung zu. [7] Folglich wagt nicht einmal die derzeitige Kreml-Oligarchie, dieses Prinzip zu leugnen. Freilich steht es nur auf dem Papier. Der leiseste Versuch, offen die Frage nach einer unabhängigen Ukraine aufzuwerfen, würde die sofortige Erschießung wegen Hochverrats bedeuten. Aber gerade diese widerwärtige Zweideutigkeit, gerade diese erbarmungslose Hetzjagd auf jeden freien, nationalen Gedanken hat dazu geführt, dass die arbeitenden Massen der Ukraine, mehr noch als die Massen Großrusslands, die Kreml-Herrschaft als ungeheuer tyrannisch empfinden. Angesichts solcher inneren Verhältnisse kann von einem freiwilligen Anschluss der Westukraine an die UdSSR, so wie sie zur Zeit besteht, selbstverständlich keine Rede sein. Die Vereinigung der Ukraine setzt also die Befreiung der so genannten Sowjetukraine vom stalinistischen Joch voraus. Auch in dieser Frage wird die bonapartistische Clique das ernten, was sie gesät hat.

Aber würde das nicht eine militärische Schwächung der UdSSR bedeuten? — werden die „Freunde“ des Kreml entsetzt schreien. Die Schwächung der UdSSR antworten wir, ist Folge jener stetig anwachsenden zentrifugalen Tendenzen, die die bonapartistische Diktatur hervorbringt. Im Kriegsfall kann der Hass der Massen auf die herrschende Clique zur Vernichtung aller sozialen Errungenschaften des Oktober führen. Die Quelle der defätistischen Stimmungen liegt im Kreml. Eine unabhängige Sowjetukraine wäre andererseits, schon aufgrund ihrer eigenen Interessen, im Südwesten ein mächtiges Bollwerk für die UdSSR. [Eine Loslösung der Ukraine würde nicht eine Schwächung der Verbindungen mit den werktätigen Massen Großrusslands bedeuten, sondern lediglich eine Schwächung des totalitären Regimes, das Großrussland wie auch die anderen Völker der UdSSR unterdrückt.] Je eher die jetzige bonapartistische Kaste unterminiert, erschüttert, zerschlagen und hinweggefegt wird, desto solider wird die Verteidigung der Sowjetrepublik und desto gesicherter wird ihre sozialistische Zukunft sein.

Selbstverständlich könnte eine unabhängige Arbeiter-und-Bauern-Ukraine später der Sowjetföderation beitreten; aber freiwillig und zu Bedingungen, die sie selbst für akzeptabel hält, was wiederum eine revolutionäre Erneuerung der UdSSR selbst voraussetzt. Eine wirkliche Befreiung des ukrainischen Volkes ist undenkbar ohne die Revolution oder eine Reihe von Revolutionen im Westen, die letztendlich zur Gründung der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa führen müssen. Eine unabhängige Sowjetukraine könnte und würde zweifellos dieser Föderation als gleichberechtigtes Mitglied beitreten. Die proletarische Revolution in Europa würde das widerliche Bauwerk des stalinistischen Bonapartismus Stein für Stein zerstören. In diesem Fall wäre das engste Bündnis der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa mit der erneuerten UdSSR unvermeidlich und würde für den europäischen und den asiatischen Kontinent, natürlich einschließlich der Ukraine, unermessliche Vorteile bieten. Aber hier kommen wir bereits auf Fragen zweiter und dritter Ordnung zu sprechen. Ein Problem erster Ordnung ist eine revolutionäre Gewährleistung der Einheit und Unabhängigkeit einer Arbeiter-und-Bauern-Ukraine im Kampf gegen den Imperialismus einerseits und den Moskauer Bonapartismus andererseits.

Die Ukraine verfügt über eine besonders reiche Erfahrung an Irrwegen im Kampf um die nationale Befreiung. Hier wurde schon alles versucht: die kleinbürgerlichen Rada [8], Skoropadski [9] und Petljura [10], das „Bündnis“ mit Hohenzollern sowie Kombinationen mit der Entente. Nach all diesen Experimenten können nur noch politische Kadaver weiterhin hoffen, dass irgendeine der Fraktionen der ukrainischen Bourgeoisie als Führerin des nationalen Befreiungskampfs in Frage kommen kann. Allein das ukrainische Proletariat ist fähig, diese — ihrem Wesen nach revolutionäre — Aufgabe zu lösen und die Initiative zu ihrer Lösung zu ergreifen. Nur das Proletariat kann die Bauernmassen und die wirkliche revolutionäre nationale Intelligenz um sich vereinen.

Zu Beginn des letzten imperialistischen Krieges versuchten die Ukrainer Meienewski („Basok“) und Skoropis-Jeltuchowski [11] die ukrainische Freiheitsbewegung dem Schutz des Hohenzollerngenerals Ludendorff zu unterstellen, wobei sie ihr Vorgehen mit linken Phrasen bemäntelten. Die revolutionären Marxisten beförderten diese Herren mit einem Fußtritt aus dem Weg. So müssen Revolutionäre auch künftig verfahren. Der näher rückende Krieg wird für alle möglichen Abenteurer, Wünschelrutengänger und solche, die das goldene Vlies [12] suchen, ein günstiges Klima schaffen. Diese Herren, die sich besonders gerne die Hände an der nationalen Frage wärmen, sollte man nicht einmal auf Kanonenschussweite an die Arbeiterbewegung heranlassen. Nicht den geringsten Kompromiss mit dem Imperialismus, weder dem faschistischen noch dem demokratischen! Nicht das geringste Zugeständnis an die ukrainischen Nationalisten, weder die klerikal-reaktionären noch die liberal-pazifistischen! [13] Keine „Volksfronten“! Völlige Unabhängigkeit der proletarischen Partei als Avantgarde der Arbeiter!

Das scheint mir die richtige Politik in der ukrainischen Frage zu sein. Ich spreche hier für meine Person und in meinem eigenen Namen. Die Frage bedarf einer internationalen Diskussion. Der vorderste Rang in dieser Diskussion gebührt den ukrainischen revolutionären Marxisten. [14] Wir werden ihnen mit größter Aufmerksamkeit zuhören. Doch sie sollen sich beeilen. Es bleibt uns nur wenig Zeit zur Vorbereitung!

Coyoacán, 22. April 1939



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Leo Trotzki, Schriften Band 1. „Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur“ Band 1.2 (1936-1940). Hamburg (Rasch und Röhring Verlag) 1988

[2] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin/DDR 1974; Roman Rosdolsky, Zur nationalen Frage, Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen‘ Völker“, Berlin (Olle & Wolter), 1979

[3] Lenin, „Die Kadetten über die ukrainische Frage“, 16.7.1913; Lenin Werke Bd. 19 und „Noch einmal über ‚Nationalismus‘“ (20.2.1914), Lenin Werke 20, hier S. 100 f.

[4] Taras Schewtschenko (1814–1861), der Nationaldichter der Ukraine, veröffentlichte 1840 seine erste Gedichtsammlung „Der Kobzar“.

[5] Auf der Grundlage des deutsch-sowjetischen Vertrages wurde die Westukraine der Sowjetunion zugestanden und am 17.9.1939 von sowjetischen Truppen besetzt. Bei dieser Annexion blieb es auch nach 1945; Polen wurde durch deutsche Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie entschädigt.

[6] Ende 1938 lebten über 50 Millionen Ukrainer, aufgeteilt auf die UdSSR (31,9 Millionen innerhalb, 5,8 Millionen außerhalb der Sowjetukraine), Polen (10,2 Millionen), Rumänien (1,4 Millionen) und die ČSR (0,8 Millionen). (Vgl. Encyclopedia of Ukraine, Bd. Map and Gazetteer, Toronto [University of Toronto Press] 1984, S. 3) Frankreich hatte 1936 41,9 Millionen Einwohner.

[7] Art. 17 der damaligen sowjetischen Verfassung lautete: „Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR vorbehalten.“ („Verfassung [Grundgesetz] der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“, in: Rundschau, Nummer 59, 23.12.1936, S. 2277- 2284, hier S. 2278.)

[8] Die ukrainische Zentralrada (von ukr. „Rat“) entstand am 4. (17.) März 1917 in Kiew als die politische Vertretung der Ukraine durch Übereinkunft der wichtigsten ukrainischen Parteien: Progressisten (bürgerliche Liberale), Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten. Mitte Juni ernannte die Rada eine Regierung („Generalsekretariat“) und proklamierte die Autonomie. Nach der Oktoberrevolution, die von der Rada abgelehnt wurde, proklamierte sie am 7. (20.) November 1917 die „Ukrainische Volksrepublik“ als Teil einer zukünftigen russischen Föderation. Die Rada schickte eine eigene Delegation nach Brest-Litowsk. Am 11. (24.) Januar 1918 schließlich proklamierte sie ihre Unabhängigkeit. Am 18.2.1918 begann die deutsch-österreichische Offensive, die zur Besetzung der ganzen Ukraine führte.

[9] Pawlo Skoropadski (1873-1945) organisierte den „Bund der Landbesitzer“, einen Zusammenschluss der ukrainischen Großgrundbesitzer. Am 29. April 1918 putschte er mit deutscher Hilfe ‒ die Ukraine war inzwischen von Deutschland besetzt worden ‒ und ließ sich zum Hetman (der alte Titel der Anführer der Kosaken) ausrufen. Unter dem Hetmanat wurde die Ukraine faktisch eine Kolonie Deutschlands. Sein Regime brach unmittelbar nach dem Abzug der deutschen Truppen zusammen und wurde im Nov./Dez. 1918 durch ein Direktorium unter Symon Petljura abgelöst.

[10] Symon Petljura (1879-1926) war in der Rada für die Organisierung einer ukrainischen Armee verantwortlich. Am 14. Dezember 1918 besetzten seine Truppen Kiew. Seine Truppen verübten Judenmorde (ca. 30 000 Opfer) in bis dahin unbekanntem Ausmaß. Petljura floh im Dezember 1919 nach Polen und schloss einen Pakt mit Pilsudski gegen die Sowjets, der auch den Verzicht auf die von Polen okkupierte Westukraine einschloss. Im April 1920 eröffneten polnische Truppen und die Überreste der Petljura-Armee den polnisch-sowjetischen Krieg und eroberten Kiew, wurden aber schließlich geschlagen.

[11] Marian Melenewski (1879-1938) und Olexander Skoropis-Joltuchowski (1880-1950) waren ukrainische Sozialdemokraten. Melenewski und Joltuchowski lebten bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im österreichischen Exil und gehörten zu den Mitbegründern des „Bundes zur Befreiung der Ukraine“. Diese Organisation existierte zwischen 1914 und 1918, finanziert von Deutschland und Osterreich-Ungarn, und betrieb Propaganda unter den ukrainischen Kriegsgefangenen aus dem russischen Heer. Melenewski bemühte sich vergeblich um Lenins Unterstützung. Der „Bund“ strebte die Bildung einer ukrainischen Monarchie unter dem Protektorat der Mittelmächte an, die nur den russischen Teil des Landes umfassen sollte. Faktisch war der „Bund“ ein Werkzeug der Mittelmächte zur Zersetzung des russischen Reiches. Nach Bildung der Rada im März 1917 verlor er jede Bedeutung und wurde im folgenden Jahr aufgelöst.

[12] Das „Goldene Vlies“ des Widders war Ziel des „Argonautenzugs“ ‒ einer (etwa eine Generation vor dem Trojanischen Krieg spielenden) mythischen Darstellung der milesischen Kolonisation der Schwarzmeerküste im 7. Jahrhundert v. u. Z.

[13] Zur bedeutendsten Organisation des ukrainischen Nationalismus hatte sich die 1929 gegründete „Organisation der ukrainischen Nationalisten“ (OUN) entwickelt. Ihr Erfolg war eine Folge der Enttäuschung über die Entwicklung der Sowjetukraine unter stalinistischer Herrschaft. Eine Gruppe, angeführt von Stepan Bandera (die dann als OUN-B ‒ für „Banderisten“ bekannt wurde), begann sich von der Fixierung auf ein Bündnis mit Deutschland zu lösen, forderte die Vorbereitung auf einen langen Guerillakampf, hielt aber durchaus noch eine taktische Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland für möglich (so wurden mit deutscher Hilfe „ukrainische Legionen“ aufgestellt, die bis 1942 bestanden).

[14] Nach der Vernichtung der trotzkistischen Opposition in der gesamten Sowjetunion bestand noch eine kleine trotzkistische Gruppe in der Westukraine. Sie hatte sich Ende der zwanziger Jahre aus einer Strömung in der westukrainischen KP entwickelt. Zu dieser Gruppe gehörten auch Roman Rosdolsky und weitere Pioniere des Kommunismus in der Westukraine. Nach dem sowjetischen Einmarsch in die Westukraine am 17. September 1939 begann das NKWD sofort mit der Verfolgung dieser Gruppe. Viele ihrer Mitglieder kamen durch stalinistischen Terror um, anderen gelang die Flucht in das von den Nazis besetzte Polen, wo die Gestapo sie verfolgte. Zu Roman Rosdolsky vgl. das Vorwort von Emily Rosdolsky in: Rosdolsky, Zur nationalen Frage… (s. Fußnote 2), S. 5-15.