Nach drei Jahren Krieg ist auch unter Linken – selbst unter solchen, die sich als Marxist:innen verstehen – die Haltung zum Ukrainekrieg immer noch kontrovers.
Jakob Schäfer und Thies Gleiss
Zum Teil liegt es u. E. daran, dass die Befürworter:innen von Waffenlieferungen die Argumente der Gegner:innen nicht wirklich zur Kenntnis nehmen (wollen). Zum Teil liegt es daran, dass sie die Lehren der Geschichte ausblenden, aber leider auch daran, dass sie sich u. E. von der Propaganda der Herrschenden einfangen lassen. Allein die simple Wiedergabe der durch nichts bewiesenen Behauptungen der Regierung und der herrschenden Medien zeigt, dass so manche Linke dem ideologischen Druck anheimfallen und sich instrumentalisieren lassen, weil sie sich nicht die Mühe machen, eine materialistische Analyse vorzunehmen.
Zu einer solchen materialistischen Analyse gehört vor allem, den Krieg als einen Prozess wahrzunehmen, der aus verschiedenen sozialen und Klasseninteressen angetrieben wird und dessen verschiedene Bestandteile und daraus abgeleitete Kräfteverhältnisse sich ändern. So ist heute in keiner Weise mehr zu leugnen, dass die militärische, politische und soziale Entwicklung des Kriegsgeschehens immer mehr die Rolle eines Stellvertreterkrieges zwischen Russland, der EU und den USA – letztere mit einem verbindenden Komplex NATO – hat in den Vordergrund treten lassen. Die ursprünglichen Interessen einer „ukrainischen nationalen Selbstbestimmung“, ebenso die Kriegswirkungen in Richtung „nation building“ für die Ukraine sind in den Hintergrund getreten. Sie wurde buchstäblich von den Hightech-Waffen des Imperialismus und den geostrategischen Interessen der USA, der EU, Chinas und Russlands erstickt. Es ist ja geradezu sinnbildlich für die hegemonialen Interessen in diesem Stellvertreterkrieg, dass bei den „Friedensverhandlungen“ in Saudi-Arabien und anderswo die ukrainische Seite noch nicht einmal eingeladen wird.
Die jüngsten Entwicklungen, ausgehend von der Trump-Regierung in den USA, zeigen zudem, dass auch die Allianz zwischen der EU und den USA und ihre gemeinsamen Operationen mittels der NATO einer dynamischen Entwicklung und diversen Interessensgegensätzen unterliegen. Der von der Theorie des Campismus gern betonte „Vasallenstatus“ der EU gegenüber den USA ist längst nicht so stabil wie behauptet. Heute nutzt der US-Imperialismus den Stellvertreterkrieg in der Ukraine auch dazu, die EU („Fuck the EU“ hieß es noch vor kurzem beim US-Personal) zu schwächen und zu blamieren – wie zuletzt im Balkankrieg vor dem Dayton-Abkommen 1995. Und die EU ihrerseits beschleunigt ihre Anstrengungen einer eigenen Militarisierung, notfalls auch außerhalb der NATO.
Es geht – wie Lenin es treffend in seiner Analyse vor dem 1. Weltkrieg ausführte – um einen beständigen Kampf um die Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten. Ist erst einmal das Stadium militärischer Auseinandersetzung erreicht, kann es sehr schnell und wechselnd zu neuen politischen und militärischen Allianzen der Beteiligten kommen. Das gilt natürlich besonders gegenüber dem Eintreten neuer globaler Player wie heute mit China und Russland.
Wir können hier nicht die in den letzten drei Jahren vorgenommenen Analysen und Argumente nochmal vortragen [1], sondern wollen nur in knapper Form zusammenfassen, was gegen das faktische Bündnis mit dem Imperialismus spricht, das die Befürworter von Waffenlieferungen unseres Erachtens eingehen.
Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass die Herrschenden äußerst selten ihre wahren Interessen und Motive für ihre Politik nennen, erst recht, wenn es um Krieg und Frieden geht. Im konkreten Fall hat das zwei Konsequenzen:
Wir sind keine Pazifisten. So ist es für uns keine Frage, dass wir etwa in Rojava die YPG verteidigen oder etwa im Kampf der Aufständischen in Myanmar auf deren Seite stehen. In diesen Fällen ist es jeweils ein Volkskrieg, auch wenn er nicht von revolutionären Marxist:innen angeführt wird. Pazifismus ist also keine ausreichende Haltung zur Frage Krieg und Frieden. Aber:
Im Ukrainekrieg stehen die Pazifist:innen – zumindest aus Gründen eines unmittelbar einsichtigen Realismus – auf der richtigen Seite, wenn sie Dinge festhalten, die für uns zwar nicht alles beantworten, aber doch unverzichtbar sind: Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden, sondern verlängern den Krieg. Waffenlieferungen erhöhen die Eskalationsgefahr. Waffenlieferungen und die damit verbundene Aufrüstung treiben die Militarisierung der hiesigen Gesellschaft voran (noch ganz abgesehen von den sozialen Folgen).
Ende März 2022 stand ein Waffenstillstandsabkommen kurz vor dem Abschluss. Er wurde von Großbritannien und den USA blockiert. Hätten wir uns damals auf die Seite des britischen Premiers Johnson (dem Hauptbetreiber der Blockade) stellen sollen? Wurde nicht spätestens ab diesem Zeitpunkt der Charakter des Stellvertreterkriegs vorherrschend? Würden sich nicht die Menschen in der Ukraine heute die Finger danach lecken, hätten sie heute das, was damals zum Greifen nah war? Und wie viele hunderttausend Menschen wären nicht verreckt, von den Hunderttausenden Verletzten, den Zerstörungen und ökologischen Schäden noch ganz zu schweigen?
Die ukrainische Armee kann nur mit Hilfe massiver nachrichtendienstlicher Mittel (Satellitenaufklärung) seitens der USA überhaupt Krieg führen. Ohne diese Mittel wären sogar die umfangreich gelieferten Waffen kaum bis gar nicht einsetzbar. Und trotz all dieser Hilfen gelingt es der Ukraine nicht, den Vormarsch der russischen Armee zu stoppen. So sehr der Westen diesen Krieg für die Schwächung Russlands nutzt: Die Ukraine kann diesen Krieg nicht gewinnen [3], es sei denn der Westen erhöht den Einsatz und damit das Risiko einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation bis hin zum Atomkrieg.
Aufgrund der eingesetzten Waffen (Raketen, weitreichende Artillerie, Drohnen usw.) können die ukrainischen Soldaten (und Soldatinnen) keinen Volkskrieg führen. Sie führen ihn schließlich auch gar nicht gegen eine herrschende Klasse, sondern sie bluten im Kampf einer angegriffenen Nation gegen einen Aggressor. Subjektiv verteidigen sie eine Nation (nicht die Arbeiterklasse) gegen eine feindliche Armee, faktisch aber sind sie das Kanonenfutter im geopolitischen Kampf der NATO (nicht nur der USA, sondern auch der europäischen imperialistischen Mächte) gegen Russland, das als Teil des Blocks China-Russland mindestens eine schwere militärische, politische und vor allem ökonomische Niederlage erleiden soll.
Nach anderthalb Jahren Krieg, spätestens aber seit Sommer 2024 spürt die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, dass eine Weiterführung des Kriegs keinen Sinn gibt. Laut Gallup-Umfrage von August und Oktober 2024 sprechen sich 52 Prozent der Befragten für ein schnelles, ausgehandeltes Kriegsende aus. Im Gegensatz dazu möchten 38 Prozent weiterkämpfen, bis ein Sieg errungen ist. Wer unter diesen Bedingungen den Menschen in der Ukraine sagt „Kämpft weiter, denn ihr kämpft auch für unsere Freiheit!“, der lässt sich vor den Karren der imperialistischen Propaganda des Westens spannen, der schließlich eine Rendite für seinen Einsatz der vergangenen Jahre erwartet.
Nun, da seit geraumer Zeit das Verhältnis von Input und Output deutlich zu ungünstig wird, will der Imperialismus (allen voran die neue US-Administration) dieses ungünstige Verhältnis umdrehen. Deswegen der Versuch, im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens einen Rohstoffdeal mit der Ukraine abzuschließen. Dieser Kurs begann nicht erst seit der neuen Trump-Präsidentschaft. [4] Der auf dieser Grundlage absehbare Diktatfrieden verdeutlicht erneut, dass die ukrainische Regierung nur ein Spielball imperialistischer Interessen ist. Sollen wir jetzt etwa für die Fortführung des Krieges eintreten?
Warum, so sollte man sich doch mal fragen, wird die wirkliche Stimmung in der Ukraine (siehe die o. g. Gallup-Umfrage) hier im Westen gar nicht ausreichend gewürdigt? Und: Unabhängig von der Kriegsbereitschaft in der ukrainischen Bevölkerung, die inzwischen eher noch weiter gesunken sein dürfte, wollen wir ein paar grundsätzliche Dinge festhalten:
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Es fällt auf, dass die Befürworter der Waffenlieferungen und damit auch der Fortführung des Kriegs kein Wort über die einzig sinnvolle Alternative zum Krieg verlieren, nämlich den sozialen Widerstand. Seit Anfang des Kriegs haben wir dies mehrfach dargelegt und begründet. [5] Hierzu müsste endlich mal eine ehrliche Debatte beginnen. Denn mit der neu geschaffenen Weltlage seit dem erneuten Amtsantritt von Trump werden wir ganz gewiss nicht friedlicheren Zeiten entgegengehen. Neue Kriege drohen. Eine breite Antikriegsbewegung aufzubauen, gelingt nur, wenn sich die Linken nicht von der Propaganda der Herrschenden einwickeln lassen und einen prinzipiellen Standpunkt in der Frage Krieg und Frieden einnehmen.
Es ist leider einmal mehr traurige Wahrheit: Im Krieg stirbt als erstes die Wahrheit und als zweites zerlegt sich die internationale Linke. Die Vierte Internationale steht mit der Annahme der Mehrheitsresolution zur Ukraine auf dem letzten Weltkongress in ihrer tiefsten Krise von Programm und Selbstverständnis seit vielen Jahren. Die Frage einer Unterstützung des Imperialismus in seinem Kriegsbemühungen in und mit der Ukraine oder die Verteidigung der Prinzipien einer internationalistischen Solidarität ist von sehr viel grundsätzlicherer Bedeutung als die vielen taktischen Streitfragen, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder in der Vierten Internationale auftraten und auch zu Spaltungen und Abspaltungen führten. Es geht um nicht weniger als das Überleben der Internationale. Um das insgesamt wertvolle Erbe der Vierten Internationale nicht zu verspielen, streiten wir gerade in der Frage der Waffenlieferungen für das Selenskyj-Regime für eine Rückbesinnung auf die Prinzipien des revolutionären Marxismus.
11.4.2025 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2025 (Mai/Juni 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz