Wer „A“ sagt, muss damit rechnen, auch nach „B“ gefragt werden. Wo Kräfte der radikalen Linken in den letzten Jahren in bürgerliche Parlamente gewählt wurden, konnten sie der „Regierungsfrage“ nicht ausweichen: Sollten sie „linke“ Regierungen gegen „rechte“ Regierungen stützen, einer „gemäßigte“ Sparpolitik zustimmen, um eine „noch schlimmere“ Sparpolitik zu verhindern? Die Dialektik des „kleineren Übels“ hat die radikale Linke erreicht. Wir dokumentieren nachstehend einige Beispiele aus den letzten Jahren.
Björn Mertens
1994 zog die radikale Linke nach sieben Jahren Abwesenheit erstmals wieder ins Parlament ein. Die dänische KP, die Linkssozialisten (VS), die ehemals maoistische KAP und die dänische Sektion der Vierten Internationale (SAP) hatten sich zu einer Enhedslisten (Einheitsliste) zusammengeschlossen, nachdem sie jahrelang einzeln an der Sperrgrenze gescheitert waren. Auf der Woge des Widerstands gegen den Maastricht-Vertrag zogen sie mit 3 Prozent ins Parlament ein.
|
|||||||
Die Sozialdemokratie verlor ihre traditionelle Mehrheit und konnte nur noch mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien regieren. 1996 knüpften diese ihre Zustimmung zum Haushalt an massive Sozialkürzungen. Die Verhandlungen 1997 scheiterten, weil die Konservativen noch härtere Einschnitte verlangten. Jetzt suchte die Sozialdemokratie eine Mehrheit auf der Linken. Nachdem die reformistische SF einem stark abgemilderten Sparprogramm zugestimmt hatte, hingen der Haushalt und das Überleben der sozialdemokratischen Regierung davon ab, dass sich die Enhedslisten wenigstens der Stimme enthielt. Mit breiter Zustimmung (auch der SAP-Mitglieder) wurde eine Tolerierung beschlossen. Sie wurde auch in den folgenden Jahren fortgesetzt, wobei in Einzefragen Zugeständnisse erreicht werden konnten.
2001 verlor die Sozialdmokratie erheblich an Stimmen und rückte nach rechts, so dass sich die Frage der Tolerierung arithmetisch und politisch lange nicht mehr stellte. Derzeit gibt es in der SAP wieder eine heftige Debatte zur Regierungsfrage. Mehrheitsmeinung ist, durch die Arbeit im Parlament den außerparlamentarischen Kampf zu stärken. Es soll eine „klare antikapitalistische Alternative” sowohl zur Rechts- als auch zu einer möglichen Linksregierung entwickelt und die „katastrophale Haushaltskompromisspolitik” nicht wieder aufgenommen werden. [1]
Bei den Wahlen im April 2006 kandidierten zwei Bündnisse: die Casa della Libertà des bisherigen Regierungschefs Silvio Berlusconi und der Unione unter Führung des ehemaligen Vorsitzenden der EU-Kommission, Romano Prodi. An der Unione beteiligte sich neben sozialdemokratischen und bürgerlichen Kräften auch die Partito della Rifondazione Comunista (PRC), in der wiederum auch radikale Linke, darunter die italienischen Mitglieder der Vierten Internationale, mitarbeiten.
|
||||||||||||||||
Die Unione siegte mit einem hauchdünnen Stimmenvorsprung im Promillebereich, der im Senat zu einem Sitzverhältnis von 158:156 führte. Es war klar, dass dies Opposition in Rifondazione unter hohen Druck setzen würde.
Schon drei Tage nach der Wahl verkündete die eng mit der Unternehmerseite verbundene Tageszeitung Il Sole-24 Ore, welche Leitlinien die Regierung Prodi zu verfolgen habe: Stellenabbau im öffentlichen Sektor, Steuerentlastungen für die Privatwirtschaft, Konzentration der „Sozialhilfe“ auf die Ärmsten im Zuge einer Reform des Sozialversicherungssystems und die Umstrukturierung des privaten und halbstaatlichen Produktivapparats nach dem Muster „Überlassen wir [die Fluglinie] Alitalia dem Markt, und wenn sie Konkurs geht, dann soll sie das“. Zum Abschluss hieß es: „Die Mitte-Rechts-Regierung [Berlusconie] war nicht fähig, diese Schocktherapie durchzuführen, die kommende Mitte-Links-Regierung sollte den Mut aufbringen, an den [erwähnten] Fronten rasch vorzustoßen.
Im Februar 2007 kam es zur Nagelprobe, als sich Franco Turigliatto und einige weitere Senatoren gegen massiven Druck weigerten, den Ausbau der Nato-Basis Vicenza zu genehmigen, von der aus die Bombenangriffe gegen den Irak geflogen worden waren und gegen deren Ausbau 100 000 Menschen demonstriert hatten: „Ich bereue diese Geste in keiner Weise und würde sie jederzeit wieder machen. Sie war der Ausgangspunkt für meine Meinungsverschiedenheit mit der Regierung in Fragen der Außenpolitik und stand in Verbindung mit meiner entschiedenen Opposition gegen den Krieg in Afghanistan und die Entscheidung der Regierung, die Ausweitung der Militärbasis in Vicenza um die doppelte Größe zu erlauben. Das hatte mein Abstimmungsverhalten zu bedeuten. Damit stellte ich mich gegen die Linie meiner Partei, aber in einer Frage, die ich für jeden politisch Aktiven grundlegend halte: Nein zum Krieg!“
Die Regierung suchte sich ihre Mehrheit auf der Rechten, Franco Turigliatto wurde ausgeschlossen und große Teile der bisherigen Opposition verließen Rifondazione, die als „gescheitertes Projekt“, als „chance perdue“ betrachtet wird.
Die Wahl von Lula zum Präsidenten wurde von der Tendenz „Sozialistische Demokratie“ (DS) in der PT als „Sieg des Volkes“ gefeiert: „Das Ergebnis der Wahlen vom Oktober 2002 stellt eine große Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der brasilianischen Gesellschaft dar. [...] Der Sieg der PT war ein Sieg des Volkes und eine erste Niederlage des Neoliberalismus. Die PT und Lula, die sich seit langem der Verteidigung der Interessen des Volkes verschrieben haben, wurden zum Katalysator für den Wunsch nach einem Wechsel. Durch diesen Prozess wurde unter den Menschen der Gedanke wiederbelebt, dass Wahlen eine Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Alternativen für das Land spielen können.“
|
||||||||||||||||||||||||||||||
In den Jubel mischten sich aber auch kritische Beobachtungen: „Der Wechsel des Kräfteverhältnisses, der sich im PT-Sieg widerspiegelt, ist auch begrenzt durch die Bündnisse mit rechten Kräften und die Verpflichtungen zu zentralen Elementen der bei den Wahlen abgelehnten Wirtschaftspolitik, ausgedrückt durch das, wenn auch kritische, Akzeptieren der angeblichen "Unvermeidlichkeit" des Festhaltens an den Vereinbarungen mit dem IWF und deren Konsequenzen durch Lula und die Mehrheit der PT. Ein weiterer wichtiger Effekt ist das Fehlen signifikanter sozialer Bewegungen in jüngster Zeit, trotz der durch den Wahlkampf erreichten, breiten politischen Mobilisierung.„
Im Januar 2003 beschrieben führende Genossen der DS „Die zwei Seelen der Regierung Lula“ und wiesen darauf hin, dass in vielen zentralen Punkten der erhoffte Politik wechsel ausblieb.
Im Bericht über den Weltkongress im Februar 2003 hieß es: „Als einer der wichtigeren Abschnitte des Kongresses wird die Diskussion über die Situation in Brasilien und die aktive Rolle unserer Genossinnen und Genossen von der Tendenz Sozialistische Demokratie in der Arbeiterpartei (PT) im Gedächtnis bleiben. Sie wiesen darauf hin, dass das Eingreifen der Massenbewegung in das soziale und politische Geschehen in Brasilien im Zentrum ihres Kurses steht, damit die sozialen und ökonomische Hauptprobleme des Landes angegangen werden: Agrarreform, Schulden, Verhinderung der Privatisierungspläne, Lohnerhöhungen, Ablehnung der Autonomie der Zentralbank, Ablehnung der von Orlando Palacci, dem Finanzminister der Regierung Lula, vorbereiteten Rentenreform. Sie unterstützen alle positiven Maßnahmen der Regierung Lula und stellten zugleich ihre vollständige Unabhängigkeit klar; sie sind bereit, mit der gesamten PT-Linken die Anpassung der Regierung Lula an die liberale Politik und die Zugeständnisse an den Imperialismus und an die Finanzmärkte zu bekämpfen. Die Tendenz Sozialistische Demokratie, die durch den Minister für Agrarreform Miguel Rossetto in der Regierung vertreten ist, der von der Bewegung der Landlosen (MST) Unterstützung erhält, und der mit der Senatorin Heloísa Helena eine der wichtigsten SprecherInnen der linken Opposition der PT zur Regierung Lula angehört, wird mitten in den Entwicklungen der brasilianischen Politik stehen können.“
Im Dezember 2003 wurden die Senatorin Heloísa Helena und drei weitere Parlamentsabgeordnete, die gegen eine auf der Straße heftig bekämpfte Rentenreform gestimmt hatten, aus der PT ausgeschlossen. Im Juni 2004 gründeten sie die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSoL). Nach einer zweijährigen Diskussionsphase fasste das Internationale Komitee die Erfahrungen mit der Regierung Lula so zusammen: „Diese Regierung betreibt eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik und ist somit nicht in der Lage, die grundlegenden Probleme der Armut und der sozialen Ausgrenzung in Brasilien anzupacken und dem Imperialismus die Stirn zu bieten. Diese zwei Jahre zeigen auch, dass die innere Dynamik ihrer Politik nicht geändert werden kann. [...] Angesichts der allgemeinen Orientierung der Regierung bilden die linken Minister nur ein Feigenblatt bzw. werden zu Geiseln einer Politik, die nicht die ihre ist. Diese zwei Jahre der Erfahrung mit dieser Regierung zeigen sehr klar, dass der Aufbau eines antiliberalen und antikapitalistischen politischen und gesellschaftlichen Blocks im Widerspruch zur Beteiligung an dieser Regierung steht.“
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 462 (Mai 2010) (nur online).